Blutrausch
Er, der Älteste seines Jahrgangs, sogar der ganzen Schule. Die Schule war neu. Er war in der 11. Klasse. Die höchste Klasse der Schule. Die 12. Klasse hätte er eröffnet. Ihm gefiel die Schule, es gab alles, sogar einen Kindergarten. Er konnte nicht mit Kindern umgehen, doch er fand sie süß. Sie hielten ihn ruhig. Beruhigten ihn. Das war gut, denn er konnte es sich nicht leisten, Mist zu bauen.
Er ging nicht den normalen Schulweg. Sein Weg war voll von Abwegen, die er alle ausprobierte. Vom reichen Jungen, zum Schnorrer. Vom Heler zum Dealer, zum Endkonsumenten, zurück zum verwöhnten Penner.
Doch es hat ihn nicht interessiert, was die anderen von ihm denken, da eh die meisten, die er kannte, ihn auf Anhieb gut leiden konnten. Er konnte sich gut verstellen, mit Sachen, Verboten oder Leuten bedingungslos klar kommen. Denn er war kein Typ, der sich und seinen Charakter unbedingt durchsetzten musste. Es gab eh keinen der ihn verstand, also fand er sich damit ab, wenn er seine Ruhe haben will, einfach ja zu sagen. Es machte ihm auch nichts aus. Ihm war so gut wie alles egal. Seine Gefühle, lernte er anfangs zu unterdrücken, bis es soweit war und er sie komplett verlor.
Es braucht schon eine Menge um ihn auf die Palme zu bringen. Doch wenn es soweit war, war er nicht mehr ansprechbar. Es war ihm alles egal, so wie sonst auch, nur ohne Verstand.
Freitags, ein guter Tag wie sonst auch, war er gut gelaunt. Auf seiner neuen Schule, auf der er noch ganz fremd war, hatte er sich gut eingelebt. Doch er kam sich fremder vor als je zuvor. Er hatte früher nur Kontakt mit Älteren. Mit Menschen mit denen er sich messen konnte, Leuten, die ihn ansatzweise verstanden, Leute, mit denen er sich unterhalten konnte. Er war immer der Jüngste. Doch jetzt auf einmal der Älteste.
Er kam damit klar. Er hat sich einfach damit abgefunden. Er hatte keinen Unterhaltungspartner, da jeder auf der Schule noch im vorpupertierendem Alter war und außer heimlich in der Schule zu rauchen und zu erzählen, wie man am besten eine Frau fickt, nichts im Kopf hatten. Sie hatten die wildesten Fantasien. Erzählten von ihrem Sexleben, als wären sie Pornodarsteller, erwähnten aber nicht, dass sie sich wie verrückt auf ihr erstes Mal freuen. Die gleiche Leier jeden Tag. Es war wie ein blick in die Vergangenheit. Schlimm. Doch er ging trotzdem zur Schule. Es hat ihm Spaß gemacht zu lernen und noch mehr, mit den frischgebackenen Lehrerinnen zu flirten. Ganz dezent, nicht als Geier, wie sonst, es war immerhin verboten.
Nach der 4. stunde fing die Mittagspause an. Er ging mit seinen vorpupertierenden Freunden zur Kantine und aß mit ihnen. Er hatte seine Handyboxen dabei und sorgte für etwas Stimmung. Nach dem Essen ging er zurück in die Klasse um seine Sonnenbrille zu holen. Es war ein guter Tag. Sonnig und warm, doch er zog die Brille noch nicht auf, da ständig jemand kam und sie anprobieren wollte. Er ging Richtung Pausenhof und sah seine Sportlehrerin. Sie gefiel ihm. Sie war einer seiner Favoriten.
Man hörte Musik, House Musik, gute Musik, immer lauter werdend. Er drehte sich um und es waren seine Kameraden, die mit seinen Handyboxen die Stimmung auf der Schule verteilten. Es gefiel ihm und er fing an zu tanzen. Den vorpupertierenden Mädchen auf der Schule gefiel es, nur die Lehrerin blieb stumm stehen und beobachtete nur.
Er tanzte das erste Mädchen langsam an, entfernte sich wieder und tanzte sie wieder an. Das Mädchen wurde ganz rot und regte sich nicht. Er nahm ihre Hand und zog sie zum ihm. Erst wehrte sie sich ein bisschen doch dann machte sie mit. Im gleichen Moment, als er das ja bekam, bekam sie einen Korb.
Er drehte sich um und seine Sportlehrerin war sichtlich beeindruckt von seiner Aktion. Das Mädchen kümmerte ihn nicht weiter und er tanzte Richtung Lehrerin. Er sah ihr Entsetzen und merkte, dass sie mit dieser Situation überfordert war. So machte er sich auf den Weg, das nächste Mädchen anzutanzen. Doch das Lied war zu Ende.
Er schaute sich um und hatte jetzt erst gemerkt, wie viele Leute ihm dabei zusahen. Seine Kameraden riefen ihm zu einer Zugabe auf. Er wusste das es eh keinen Sinn hat nein zu sagen und nickte.
Das nächste Lied hatte schon bei den Zugaberufen angefangen, also fing er wieder an zu tanzen. Man sah, dass dieses eine Mädchen drauf gewartet hatte, und zeigte was sie kann. Er schaute seine Sportlehrerin an, das Mädchen und verteilte gleich einen weiteren Korb. Er wollte das unerreichbare. So ging er auf sie zu. Sie schüttelte den Kopf, doch er blieb nicht stehen. Ihr Gesicht wurde rötlich. Es gefiel ihm was er sah, lief weiter und tanzte sie langsam aber sicher an. Doch nun passierte etwas, das er nie erwartet hätte. Sie tanzte mit.
Es war seine letzte Chance, sein Abitur zu machen und konnte es nicht wegen einer Frau aufs Spiel setzten. Er ging einen Schritt zurück und schüttelte entsetzt den Kopf… sie war davon nicht sehr beeindruckt, um genau zu sein, wurde sie vor der ganzen Schule lächerlich gemacht. Sie holte aus, mit soviel Kraft, wie eine Sportlehrerin, die Tennis spielt, haben kann und gab ihm eine Ohrfeige.
Die Musik hörte auf zu spielen, die Gelächter hörten auf, die Schule verstummte.
Seine Lehrerin drehte sich um und wollte weglaufen. Er bekam Mitleid mit ihr und rannte ihr hinterher. Er versuchte sie festzuhalten doch sie riss sich los. Er versuchte es noch mal und griff nach ihrer linken Hand. Sie drehte sich um und schlug ihm mit der rechten faust direkt aufs linke Auge. Es packte ihn die Wut. Er bekam einen kleinen Adrenalinschub… packte sie am Hals… und… und… er kam zu sich. Das konnte er nicht machen. Nicht so. Nicht seine Lehrerin. Er drehte sich um und sah andere Lehrerinnen. Potentielle Zeugen. Manche von ihnen wussten, das er schon einmal von einer Schule geflogen war, aber wussten nicht warum.
Er bekam das Kotzen. Wurde aggressiv. Traurig. Entsetzen. Alle Gefühle, die er schon lange nicht mehr hatte, kamen alle auf einmal in ihm hoch. Denn es ging um etwas. Es ging um sein Leben. Sein Leben, das ihn davor nie interessiert hatte, wurde ihm wichtig. Denn er war älter geworden. Er wusste um was es im Leben geht.
Es war leise. Er war leise. Es war ihm klar, was er getan hatte. Es war ihm klar, wie es aussah. Es war ihm klar, das egal was ist, er im Unrecht war. Alle Lehrerinnen, die er auf der Schule anziehend fand, hatten gesehen, wie er kurz davor war, eine Frau zu schlagen. Sie dachten wahrscheinlich, dass er es sogar getan hätte, wären nicht soviele Leute dabei gewesen.
Er stürmte die Treppe nach oben, Richtung Klassensaal, änderte aber kurz vorher noch die Richtung und ging zur Toilette. Er hielt seinen Kopf unter eiskaltes Wasser, sah in den Spiegel und bekam einen Schock. Sein Auge fing an blau anzulaufen. Es fing an zu schmerzen, da das Andrenalin nachließ. Seine Hände zitterten. Er schüttelte nur den Kopf, verließ das WC und ging zum Klassensaal. Es wunderte ihn, dass ihm keiner gefolgt war.
Im Klassensaal wartete seine Biologielehrerin. Sie hatte das ganze mit verfolgt. Eine sehr hübsche Frau. Sie war genau sein Typ. 29 Jahre, top Figur, aber Mutter und verheiratet. Sie fing an etwas von richtig und falsch zu reden. Sowas konnte er sich jetzt nicht anhören und unterbrach sie. Er meinte, dass es eh keinen Sinn macht. Einer der Lehrerinnen würde es der Direktorin sagen und es heißt für ihn bye bye. Sie versuchte ihn davon zu überzeugen, dass so etwas nicht passiert, als von hinten seine Chemielehrerin das Gegenteil behauptete.
Seine Biologielehrerin war davon entsetzt, merkte, dass sie es ernst meinte und gab ihm einen Kuss auf den Mund. Einen langen Kuss. Er fühlte sich an, als ging er tage. Es gefiel ihm. Doch er bekam ein ungutes Gefühl. Sie tat es nur ihm zu Liebe, da sie wusste, dass wenn die Chemielehrerin etwas sagen würde, die Biologielehrerin auch die Schule verlassen müsste. Ein netter Versuch von ihr, da sich Lehrer untereinander anscheinend nicht verraten. Als sie ihn losließ, lief sie auf einmal blau an. Er dagegen rot. Er verstand es nicht. Doch nun kam ein bekanntes Gefühl auf. Ein schmerz im Hinterkopf. Es war die Faust eines Mannes, die auf sein Hinterkopf traf. Warscheinlich die Faust eines entäuschten Vaters… wie kam er zu diesem Gedanken? War es eine Erinnerung? War es ein Vater? Er viel um und hörte einen lauten schrei. So laut, das er nichtmal in Ruhe in Ohnmacht fallen konnte. Es war ihm schwindlig. Er sah alles verschwommen. Er sah, wie ein Schwamm einen Mann festhielt. Einen Mann, der gekommen war, seinen 4 jährigen Sohn abzuholen, der auch auf der Schule war bzw im Kindergarten.
Er kam wieder zu sich, stand auf und rannte aus dem Zimmer. Es gingen ihm wieder tausende Gedanken durch den Kopf. Er hatte seine Mutter verlassen um als Mann zu ihr zurückzukommen, mit Abschluss und sagen zu können: SCHAU MAMA, ICH HABS GESCHAFFT… doch soweit sollte es nicht kommen. Es floss eine Träne über seine linke Wange. Doch es war keine seiner normalen Tränen. Diese Träne kam von Herzen. Er war ein Tropfen, das sein Herz nicht schlucken konnte. Es gab einfach kein Platz mehr. Er konnte es nicht in sich rein fressen, geschweige denn einfach vergessen.
Man hörte einen lauten Knall. Er wollte gar nicht wissen was es war. Wahrscheinlich hatte der Mann seiner Frau eine geknallt. Er konnte es ihm nicht übelnehmen, er hätte genauso reagiert. Er fing wieder an zu rennen, hatte keine Lust auf noch mehr Streit und hatte auch ein wenig Angst. Immerhin war es ein erwachsener Mann auf 180 der hinter ihm her war.
Doch was dann passierte, war das was man einen Ball, der einen Eimer voll Wasser zum überlaufen bringt, nennen kann. Der Mann rief, ‘bleib stehen du Hurensohn, ich bring…’! mehr hatte er nicht verstanden. Wollte er auch nicht. Es machte klick, und in einem Bruchteil einer Sekunde hatte sich alles verändert.
Er war nicht mehr da. Es war alles dunkel. Er sah sich in einem Wald. Es war Nacht. Seine Augen waren sperrangelweit geöffnet. Er drehte sich um und sah ein Tier. Ein Tier, das er erlegen musste. Es war, als hätte man ihn zurück in die Steinzeit befördert, Adrenalin gespritzt, ihn vollgepumpt mit Anabolika und ihm eine Stahlrüstung angezogen. Die Bäume waren aus Glas, der Weg war aus Glas, sein Gegner war aus Glas. Er rannte los, auf sein Freiwild, denn er hatte Hunger… unstillbaren Hunger… den er um jeden Preis stillen musste. Es ging nicht anders. Er sah alles in Zeitlupe, was ihn noch aggressiver machte… es machte ihn schneller… aggressiver…. härter… und stärker.
Er sah einen frontalen Tritt auf sich zu kommen, wich ihm seitlich aus und rammte ihm sein Knie im Sprung direkt an seinen Unterkiefer. Der Mann fiel zu Boden. Er setzte sich auf ihn und fing an auf ihn einzuschlagen. Links, rechts, links, rechts… er zählte die Schläge. Nicht aufhören sagte eine Stimme von innen. Doch er konnte sie nicht verstehen. Er fühlte sie. Es war der Durst, der nach jedem Schluck ein bisschen mehr gestillt wird, doch dieser Durst war unendlich. Er spürte jede einzelne Pulsader. Es war ein Ganzkörperorgasmus. Es war, als würden seine Adern Sperma statt Blut befördern. Dann merkte er, dass es aufhörte. Jemand hielt ihn von hinten fest. Mehr Freiwild? Egal, er wollte dieses, riss sich los und machte weiter. Doch es hörte wieder auf, diesmal waren es mehr, die ihn festhielten, es wurden immer mehr. Doch er sah sie nicht. Es war immer noch alles dunkel.
Dann kam ein Blitzlicht auf ihn zu. Er war umgeben von Menschen. Sie kamen ihm bekannt vor. Einige waren sehr jung, andere älter. Er erinnerte sich. Er war in der Schule. Er bekam einen Schock. Was hat er getan. Er hat sich selber von der Schule geschmissen. Seine Wut. Seine aufgestaute Wut, die seinen Trieb nach Fleisch geweckt hatte. Er lies alles locker, entspannte alle seine Muskeln, was zufolge hatte das er losgelassen wurde. Sein Gesicht hatte jeglichen Ausdruck verloren. Nach außen hin war er wie tot. Doch sein Inneres war Chaos. Die Nachwirkung der Ganzkörperorgasmus war grausam. Es war wie das Runterkommen von Koks. Alle Glückshormone waren aufgebraucht, es waren alle weg. Nichts mehr da. Vom einen auf den andern Augenblick.
Die Polizei kam und er wurde abgeführt. Er probierte alles aus. Jeden Abweg. Doch den wahren Weg sah er nicht.
© by Ahmet Arif Saritas