Was ist neu

Blutspiel

Seniors
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24.10.2001
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Blutspiel

Nochmal für Sylvia.

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I wish we could all believe
that in this daylight world
is a world
where love can be
and I won't ever forget it.

(Beth Gibbons – »Romance«)
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Welch seltsamer Wind sie wohl hierher getrieben hat, an die schäbige Rückseite der Nacht? Normalerweise verschlägt es solche Frauen nicht in »Heinz' Diner«, schon gar nicht um diese Zeit, am tiefsten Punkt zwischen Mitternacht und Morgengrauen, wenn die letzten Arbeiter der Spätschichten am Hafen weg sind und Friedhofsruhe einkehrt. Wischlappenzeit. Zeittotschlagzeit. Die graueste von allen. Wenn die Gedanken von hinten herankriechen und nichts sie abhalten kann, Regenwetter im Kopf zu veranstalten.
Und jetzt sitzt sie da. Liest völlig vertieft in einem Buch. Keine Ahnung, wann ich hier das letzte Mal jemanden mit einem Buch gesehen habe.
Man kann sie nicht unbedingt als niedlich bezeichnen. Sie hat etwas Gradliniges, Unnahbares, wie das Gemälde einer ägyptischen Königin. Schwarzes Haar, zu einem strengen Zopf geflochten, der bläulich schimmert im Licht der Neonröhren. Teure Klamotten und so gut wie kein Make-Up. Sie strahlt Klasse aus – das hat dieser Laden definitiv schon lange nicht mehr erlebt. Naja, ich kann mir ja mit dem Abwischen des Tisches neben ihr etwas Zeit lassen …
Sie nippt an ihrem Kaffee und blättert in dem Buch, ein uralter Schinken mit dickem ledernem Einband. Das Buch verschiebt sich, als sie erneut umblättert, und etwas Glitzerndes fällt lautlos zu Boden, mir direkt vor die Füße. Sie bemerkt es nicht, ist ganz ins Lesen vertieft. Fast automatisch bücke ich mich und hebe es auf.
Es ist eine Kette, daran ein kleines Kruzifix aus blank poliertem Silber, nur wenige Verzierungen, die dafür schön und präzise gearbeitet sind. Ich verstehe einen Scheiß von Kunsthandwerk, aber selbst ich weiß sofort, dass dies hier kein billiger Modeschmuck ist.
»Verzeihung …«
Sie hebt den Kopf und sieht mich an, blasse, schmale Lippen und graue Augen, daraus ein Blick wie Schnee und Mondlicht, kühl und ein bisschen verärgert. »Ja, bitte?«
Ich halte ihr das Kruzifix hin. »Ich glaube, das hier gehört Ihnen.«
Ihr Blick wandert zu meiner Hand und dem Schmuckstück, und ihre Miene wird etwas weicher. »Oh. Vielen Dank.«
Mit meinem charmantesten Lächeln lasse ich die Kette in ihre ausgestreckte Hand fallen. »Eine sehr schöne Arbeit. Scheint ziemlich alt zu sein.« Sie sieht mich immer noch an, taxiert mich mit ihrem Schneeblick. Noch nie habe ich eine Frau gesehen, die so wenig an einem Flirt interessiert war.
»Ein Familienerbstück.«
»Nun, dann sollten Sie etwas besser darauf Acht geben – ich werde nicht immer da sein, um es zu retten.« Meine Ehre verlangt danach, den Dialog zumindest mit Anstand zu Ende zu bringen.
Ihr Blick wird zur Belohnung noch etwas skeptischer. Ich kann mich beinahe selber darin sehen, wie ich vor ihr stehe: groß, kräftig und ein wenig außer Form, die fleckige Schürze um die Hüften, in einer Hand das bunt karierte Geschirrtuch zum Tische abtrocknen. Ein Kavalier, wie er im Buche steht. Aber sie ist eine echte Lady – sie verzieht keine Miene. Sagt einfach nur: »Versuchen Sie gerade charmant zu sein?«
»Klappt nicht besonders gut, oder?«
»Nicht besonders, nein.«
»Dachte ich mir. Naja, was heißt schon Charme …«
Ihr Blick lässt nicht von mir ab. Jetzt spielt tatsächlich die Andeutung eines Lächelns um ihre Mundwinkel. »Es ist französisch und bedeutet soviel wie ›Verzauberung‹.«
Ich gebe mein Flirtgesicht auf, und aus meinem Lächeln wird mein übliches müdes Schmunzeln. »Also im Grunde ein Schwindel. Kein Wunder, dass ich es nicht besonders gut beherrsche.« Ich bin geschlagen. Zeit, mir das Handtuch wieder über die Schulter zu werfen und den Rückzug anzutreten. »Entschuldigen Sie die Störung. Ich denke, ich geh jetzt besser wieder an meine Arbeit.«
Ich bin schon ein paar Schritte entfernt und fast hinter dem Tresen, als ich hinter mir ihre Stimme höre: »Wie ist dein Name?«
Ich drehe mich um und sehe sie an. Sie hat den Kopf ein klein wenig schief gelegt und ihr Blick strahlt jetzt so etwas wie Neugierde aus. Offenbar hat irgendwas an meiner Reaktion sie überrascht. Nun, Namen sind immerhin ein Anfang: »Ich bin Paul.«
»Nico.« Sie sieht sich mit einem raschen Blick in dem leeren Restaurant um. »Nicht besonders viel los im Moment. Ich denke, für eine Tasse Kaffee hast du Zeit.«

***​

Kaum zu glauben, aber Nico scheint auf eine seltsame Art an mir interessiert zu sein. Seit Wochen kommt sie regelmäßig während meiner Nachtschichten, um an einem Tisch am Fenster zu sitzen und zu lesen. Hin und wieder reden wir, manchmal schweigt sie auch einfach nur und liest in ihrem Buch oder sieht aus dem Fenster und beobachtet die Lichter der Stadt, die sich im Fluss spiegeln. Dann sitzt sie einfach nur reglos da, als hätte sie alle Zeit der Welt.
Aber heute wartet eine Überraschung auf sie. Als sie zu ihrem Platz kommt, liegt auf dem Tisch eine rote Rose, die ich dort hingelegt habe, zusammen mit einem handgeschriebenen Zettel – Büttenpapier, stilecht mit Feder und roter Tinte beschriftet: »Für eine wahre Lady.«
Ich beobachte sie durch das Bullauge der Lagerraumtür. Sie zögert einen Moment, sieht sich skeptisch um, dann setzt sie sich betont langsam auf die Bank und nimmt die Rose behutsam zwischen die Finger, um an der Blüte zu riechen und den Zettel anzustarren. Ich nutze genau diesen Moment, um neben ihr aufzutauchen.
»Mylady«, sage ich und stelle mit möglichst eleganter Geste eine Tasse mit Cappuccino vor sie hin.
Sie sieht zu mir auf, ihr Blick schwankt zwischen amüsiert, beeindruckt und verärgert. »Machst du mir etwa den Hof?«
Zum Glück kenne ich sie inzwischen ein wenig, konnte üben, diesem speziellen, rätselhaften Schneegestöber-Blick standzuhalten, ohne ins Stottern zu geraten. »Schlimm, wenn es so wäre?«
Nico bemüht sich sichtlich, nichts von ihren Gedanken preiszugeben, und doch: Für einen Moment huscht so was ähnliches wie ein Schmunzeln über ihr Gesicht. »Kommt drauf an, was du vorhast.«
»Nun, ich dachte für den Anfang daran, dass wir vielleicht irgendwo in Ruhe was trinken gehen. Also … woanders. Nicht hier. Ich mache einfach für ein, zwei Stunden den Laden zu. Kein Mensch wird es merken.«
»Wieso? Ich fand das hier bisher immer gut genug.«
Dieser kühle, fast spöttische Ausdruck auf ihrem Gesicht – Nico ist eine echte Herausforderung für jeden waschechten Romantiker. »Ich dachte eher an etwas mit einem Weinkeller«, erwidere ich tapfer, »aus dessen Fenstern man was anderes sehen kann als schmuddelige Hafenbecken und Verladekräne.«
Sie sagt einen Moment lang nichts, sieht mich einfach nur an mit diesem schwer zu deutenden Ausdruck, während ihre schlanken Finger mit der Rose spielen, dann schweift ihr Blick ab zum Fenster, hinaus in die Nacht. »Ist lange her, dass mir jemand eine Rose geschenkt hat.«
»Schwer zu glauben.«
Sie sieht mich wieder an, ihre Gedanken noch immer verschlossen hinter dem Schleier ihrer eisgrauen Augen. Für einen Moment fürchte ich, sie könnte einfach wortlos aufstehen und gehen und nie wiederkommen. Doch zu guter Letzt spielt tatsächlich ein echtes Lächeln um ihre Lippen. »Also schön. Solange es dir nichts ausmacht, dass ich das Lokal aussuche.«
»Ich denke, damit kann ich leben.«
Auf dem Weg zu Nicos Wagen klingelt plötzlich ein Telefon.
»Entschuldigung …« Sie fischt ein winziges Handy aus ihrer Tasche, meldet sich, und einen kurzen Moment später verfinstert sich ihr Gesicht: »Arturo! Was zum Teufel soll das? Ich hab euch tausend Mal gesagt, dass mich um diese Zeit niemand stören soll …«
Sie macht einen Schritt von mir weg, wendet sich ab und redet – unterbrochen von kleinen Pausen, in denen sie zuhört – leise und offenbar recht wütend in einer Mischung aus Deutsch und Italienisch auf das Telefon ein, unmöglich für mich, etwas genaueres zu verstehen. Das Gespräch dauert vielleicht eine Minute, dann legt sie auf und rammt das Telefon grimmig zurück in die Manteltasche. Als sie mich ansieht, glimmt Zorn in ihren Augen.
»Was nicht in Ordnung?« Meine Frage kommt fast automatisch, obwohl ihr Gesicht die Antwort bereits vorwegnimmt.
»Es ist nichts.« Ihre Miene straft die Ruhe in ihrer Stimme lügen. »Ich muss nur eben schnell etwas erledigen.«
Ich sage erstmal nichts. Aber ich lasse zumindest meinem Blick anmerken, dass ich mir den Abend etwas anders vorgestellt hatte. Sie hat es mit Sicherheit registriert, sieht mich einen Moment durchdringend an, als suche sie nach etwas, dann hat sie offenbar eine Entscheidung getroffen. »Du könntest mitkommen, wenn du willst. Es dauert nicht lange. Kennst du das ›Emporio‹?«
»Nie davon gehört.«
»Wundert mich nicht«, sagt sie, während sie ihre Wagenschlüssel aus ihrer anderen Manteltasche kramt. »Die Leute dort sind … sehr speziell.«
»Ach, ich bin schon einer Menge spezieller Leute begegnet.«
»Nicht diese Sorte, glaub mir.«

***​

Ich hätte nicht gedacht, dass es noch Ecken in dieser Stadt gibt, die ich nicht kenne. Aber in diesem Fall habe ich auch nicht allzu viel verpasst. Überall die Gerippe toter Architektur, brachliegender Boden voller Gerümpel und giftiger Abfälle, und mittendrin hockt das Emporio, eine groteske Scheußlichkeit aus Stahl, Waschbeton und mutwillig zusammengewürfelten Verzierungen – antike Säulen, abstrakte Fresken, Wasserspeier mit dämonischen Fratzen, die im Flackern der Neon-Beleuchtung beinahe lebendig wirken.
Nico fährt ihren Wagen schräg vor den Eingang und stellt einfach den Motor ab. Einer der Türsteher kommt sofort mit grimmigem Gesicht und unmissverständlicher »Wollen wir doch mal sehen, ob du hier parken kannst, Blödmann!«-Haltung auf uns zu, doch in dem Moment, als Nico die Tür öffnet und den Kopf herausstreckt, hält er inne, nickt kurz und geht dann stumm auf seinen Posten zurück. Ein weiteres Mal frage ich mich, was es wohl über Nico Interessantes zu wissen gibt, von dem ich bislang keine Ahnung habe.
Ich öffne die Beifahrertür und will soeben aussteigen, als sie noch einmal den Kopf in den Innenraum steckt: »Warum wartest du nicht einfach im Wagen? Ich bin sofort wieder zurück.«
»Wieso? Der Laden sieht interessant aus. Wir könnten was trinken.«
»Ich habe nicht vor, hier zu bleiben.«
»Ach komm schon, es ist spät, ich hab gerade zehn Stunden gearbeitet und würde gerne was trinken. Ich sehe keinen Grund, warum ich nicht einfach mit reinkommen und mir einen Drink bestellen sollte.«
Nicos Blick wird etwas grimmig, aber offenbar hat sie keine Lust auf eine Diskussion. »Herrjeh, von mir aus. Aber mach's dir nicht zu gemütlich. Ich brauche nur fünf Minuten.«
»Das sagt ihr Frauen immer. Und am Ende geht die Sonne auf, ich hab die ganze Bar leer getrunken und mit jemand anders eines Familie gegründet …«
Ihr Blick sagt mir, dass sie den Scherz zwar verstanden hat, ihn aber nicht lustig findet. »Fünf Minuten«, sagt sie erneut und geht zielstrebig an den Türstehern vorbei. Mir bleibt nichts anderes übrig als zu gucken, dass ich hinterher komme.
Von innen ist das Emporio nur wenig gemütlicher als von außen. Ein Wirrwarr aus Balkonen und Treppen, flimmerndem Licht, wummernder Musik und zahllosen Menschen, die dank ihrer durchweg dunklen Klamotten kaum zu sehen sind, lediglich ein unförmiger Moloch aus träger Bewegung und hell geschminkten Gesichtern.
Nico dirigiert mich wortlos zur Bar, einem kilometerlangen Monster aus Glas, rostigem Stahl und barockem Blattgoldgeschnörkel an jeder verfügbaren Kante. Dann macht sie mir mit der offenen Hand ein Zeichen. »Fünf Minuten«, formt sie mit den Lippen und ist im Gewühl verschwunden.
Also gut, dann eben einen Drink auf die Schnelle. Oder auch zwei. Ich weiß nur zu gut, wie lange diese Art von fünf Minuten werden können. Ich bestelle mir einen Wodka Tonic und versuche trotz des undurchdringlichen Halbdunkels die Menschen auf der Tanzfläche und an den Tischen zu beobachten. Viel ist allerdings nicht zu sehen.
Ich bin halb durch meinen Drink, als plötzlich vor mir auf dem Tresen eine schneeweiße Hand in einem durchsichtigen Spitzenhandschuh auftaucht. Als ich aufblicke, steht vor mir etwas, das ich zunächst geneigt bin als Erscheinung abzutun: Eine Wolke aus weißer Schminke, schwarzem Lippenstift und dunkler Seide.
»Hallo, Süßer«, flötet mir ihre weiche Stimme einen Moment später ins Ohr, um über den Lärm der Musik hinweg gehört zu werden.
»Hallo?« Das hat mir gerade noch gefehlt.
»Ich bin Carla. Bist du auch ein Kind der Nacht?« fragt sie, fixiert mich mit einem lasziven Blick, der sich zwischen mehreren Schichten Kajal hindurch einen Weg ins Freie erkämpfen muss, und lässt ihren schwarzlackierten Fingernagel an meinem Kinn entlang gleiten.
Ich schlürfe an meinem Drink und erwidere ihren Blick mit einem amüsierten Grinsen. »Ich bin ein Kind meiner Eltern. Aber soviel ich weiß, war es Nacht, als sie … na, du weißt schon …«
Ihr Mund verzieht sich zu einem Schmollen. »Oh, du bist ja wirklich … witzig.«
»Nein.« Ich ergreife vorsichtig ihre Hand und lege sie so sanft wie möglich zurück auf die Bar, wo sie mein Kinn nicht mehr behelligen kann. »Ich bin wohl eher so ein Typ, der einfach nur hier sitzen und in Ruhe was trinken will.«
Aus ihrem gespielten Schmollen wird echte Enttäuschung. »Schade. Du hast so schöne Augen.«
»Das höre ich öfter.«
Plötzlich wird Carlas Blick starr und richtet sich auf etwas irgendwo oberhalb meiner linken Schulter. Ich sehe unwillkürlich hinter mich und entdecke Nico. Sie fixiert Carla mit dem kältesten Blick, den ich je gesehen habe. Ein Blick, der unmissverständlich sagt: »Verzieh dich, Miststück!«
Miss Spitzenhandschuh scheint mit einem Mal jede Lust an einem Flirt verloren zu haben. Sie schrumpft unter diesem Blick förmlich zusammen und mir kommen blöde Vergleiche mit Kaninchen und Schlangen in den Sinn. Ihr ängstlicher Blick streift ein letztes Mal mein Gesicht, dann wendet sie sich abrupt ab und schwebt wortlos in Richtung Tanzfläche davon.
»Was wollte die denn?« fragt Nico mit nun wieder gleichgültigem Gesichtsausdruck und setzt sich auf den frei gewordenen Barhocker, als sei er nie besetzt gewesen.
»Keine Ahnung. Macht wohl eine Umfrage oder sowas.«
Nico wirkt angespannt. Was auch immer sie zu erledigen hatte, scheint nicht besonders lustig gewesen zu sein. »Wie auch immer«, erwidert sie, nimmt mir das Glas aus der Hand, trinkt den Rest Wodka Tonic mit einem Zug aus und knallt es auf die Bar zurück. »Lass uns gehen.«
Sie gibt dem Barkeeper mit einer knappen Geste zu verstehen, dass der Drink auf ihre Rechnung geht, und macht sich auf den Weg zum Ausgang. Wenigstens ist sie diesmal so nett, sich umzudrehen und zu warten, bis ich zu ihr aufgeschlossen habe.
Draußen wartet eine weitere Überraschung: Nicos Wagen wird von gleich drei stabil gebauten Zeitgenossen belagert, die nicht so aussehen, als wollten sie Mitgliedschaften in friedliebenden Krishna-Sekten verhökern. In ihrer Mitte steht ein etwas kleinerer Mann in einem stromlinienförmigen dunklen Anzug von der Sorte, die ich im Laufe meines Lebens nur zu gut kennengelernt habe. Sowas tragen nur die wirklich fiesen Typen.
Nico muss die Männer bemerkt haben, aber sie zögert nicht eine Sekunde, sondern geht einfach zielstrebig weiter auf das Auto zu. Sie macht ganz den Eindruck, als hätte sie keine Probleme damit, einfach durch die Typen durch zu gehen, falls sie zufällig zwischen sie und die Tür geraten sollten.
»Oh, Nicoletta!« Der kleine Mann wird in der Nähe nicht unbedingt sympathischer. Er ist hager, blass und wirkt entschieden reptilienartig. Seine hohe, dünne Stimme schlingert auf subtile Weise auf und ab, als müsste er permanent ein Kichern unterdrücken. Zusammen mit seinen kleinen, schwarzen Augen und dem humorlosen Grinsen unter seinem bleistiftdünnen Bärtchen wirkt er wie eine Eidechse, die gerade einen geblasen bekommt. »Jetzt bin ich aber schwer enttäuscht. Du wolltest doch nicht wirklich gehen, ohne mir deinen neuen Freund vorzustellen, oder?«
Nico ist jetzt doch stehen geblieben, gerade mal zwei Schritte von der Eidechse entfernt. Selbst aus den Augenwinkeln kann ich erkennen, dass ihr Blick förmlich sprüht vor Zorn. »Verzieh dich, Maximilian!« zischt sie mühsam beherrscht. »Ich habe für heute schon genug von dir gesehen.«
Maximilian ignoriert sie für den Moment und wendet sich überraschenderweise direkt an mich: »Sie ist manchmal etwas ungestüm, unsere kleine Eisprinzessin. Und was haben wir wohl hier, hm? Einen schwarzen Schwan?«
Noch bevor ich etwas sagen kann, fährt Nico dazwischen: »Er ist überhaupt kein Schwan. Und jetzt verschwinde!«
Maximilian zeigt sich unbeeindruckt, was mich wiederum ziemlich beeindruckt. Ich würde eine Menge tun, um diesem speziellen Blick aus Nicos grauen Augen so schnell wie möglich zu entkommen. »Na, was denn?« erwidert er unvermindert süffisant. »Sowas aber auch. Wer hätte gedacht, dass sich Nicoletta die Große so tief herablässt?«
Ich finde dies genau den richtigen Augenblick, ein wenig zum Gespräch beizutragen: »Hör zu, Kumpel …« Weiter komme ich leider vorerst nicht, weil Nico mich blitzschnell mit einem wirklich festen Griff am Unterarm gepackt hat und ihre Finger warnend hinein gräbt. Verdammt, die Frau hat wirklich Kraft!
»Halt dich da besser raus«, sagt sie leise, ohne Maximilian aus den Augen zulassen.
»Sorry, Nico. Ich wollte nur anmerken, dass mir diese Art von Konversation überhaupt nicht gefällt.«
Maximilians selbstgefälliges Grinsen wird noch eine Spur breiter. »Er ist mutig, dein kleiner Freund. Ganz der edle Beschützer. Weiß er Bescheid?«
»Du kennst die Regeln.«
»Ja, und du kennst sie auch. Aber sie haben dich ja nie so wirklich interessiert. Du hast schon so oft gegen die Regeln verstoßen und bist immer damit durchgekommen – vielleicht sollte ich das auch mal probieren, was meinst du?«
Nicos Tonlage bewegt sich ein gutes Stück unter dem absoluten Nullpunkt, jede Silbe eine kleine Morddrohung. Ich sollte mich daran erinnern, sie niemals wirklich wütend zu machen. »Untersteh dich«, erwidert sie, »ansonsten könnte ich womöglich vergessen, dass das hier neutraler Boden ist!«
»Willst du mir drohen, Prinzesschen?«
Nico lässt ein Schweigen zwischen sie fallen, das diese Frage eindeutig beantwortet. Ihre gesamte Erscheinung ist die von sorgsam gezügelter Gewalt. Ich frage mich unwillkürlich, was geschehen würde, wenn es hier und jetzt zu Handgreiflichkeiten käme. Etwas in mir vermittelt mir das seltsame Gefühl, dass nicht unbedingt Nico jene sein würde, die Hilfe bräuchte.
Maximilians Lächeln gefriert unmerklich. Aus seinen Augen lodert Abscheu. Offenbar behagt es ihm gar nicht, sich für den Moment geschlagen geben zu müssen. »Irgendwann bekomme ich dich in die Finger, meine Taube. Und dann wird Benedikt nicht da sein, um dich zu beschützen.«
»Ich brauche ihn nicht. Mit dir werde ich jederzeit alleine fertig«, entgegnet Nico unbeeindruckt.
Maximilian schweigt feindselig, dann gibt er den menschlichen Kleiderschränken, die rechts und links von Nicos Auto stehen, einen knappen Wink, der sie in Bewegung setzt. »Das war noch nicht das Ende, Prinzesschen«, sagt er. Dann fixiert er mich mit einem letzten hasserfüllten Blick. »Und du, mein Süßer – wir beide sehen uns ganz bestimmt wieder, das verspreche ich dir!« Zwanzig Sekunden später ist der Spuk vorbei und Maximilian mitsamt seinen Bodyguards im Emporio verschwunden. Ich kann einfach nicht anders, als dem Quartett stirnrunzelnd nachzustarren.
»Wer zum Teufel war denn das?«
»Maximilian. Er ist … ein alter Feind meiner Familie.«
»Aha. Ist das so eine Sache, die nur Italiener richtig verstehen können?«
»Sowas ähnliches, ja.«
»Nun, dann muss ich es ja nicht verstehen, oder?«
»Nicht wirklich. Können wir jetzt bitte woanders hingehen?«
Wir steigen schweigend ins Auto, und ich lasse Nico ein bisschen Zeit sich abzuregen. Dieser Maximilian scheint sie definitiv auf jenseits von Hundertachtzig gebracht zu haben. Schließlich bin ich aber doch neugierig: »Kann ich dich was fragen?«
»Sicher.«
»Was meinte er mit ›schwarzer Schwan‹?«
Nico schenkt mir ein Lächeln, aber es wirkt angespannt und unecht. »Nichts. Er ist einfach nur verrückt.«
»Na gut, wenn du das sagst …« Ich mache mir nicht viel Mühe meine Skepsis zu verbergen, aber ich weiß auch, dass dies wohl alles ist, was ich als Antwort bekommen werde.
Nico schweigt eine ganze Weile, während sie uns in die zivilisierteren Teile der Stadt zurückbringt. »Weißt du«, sagt sie schließlich leise, »es gibt ein paar Dinge in meinem Leben, von denen mir lieber wäre, wenn du nichts damit zu tun hättest.«
Ich sage einen Moment lang nichts. Für ihre Verhältnisse war das bereits eine ziemliche Offenbarung, und ihr Tonfall macht klar, dass ihr selbst das nicht leicht gefallen ist. Ich beschließe deshalb, sie erstmal damit davonkommen zu lassen. »Und Mäxchen gehört dazu, richtig?«
»Ja.«
»Nun, dann – vergessen wir doch einfach, dass wir ihn jemals getroffen haben.«
Jetzt ist ihr Lächeln echt und sehr viel wärmer. »Du weißt wirklich, wie man einer Frau einen Wunsch von den Augen abliest.«

***​

Ich weiß schon gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal bei Regen spazieren gegangen bin. Muss Ewigkeiten her sein. Aber in Nicos Gesellschaft denke ich einfach nicht darüber nach.
Es ist mitten in der Nacht, wie immer. Sie muss einen wirklich aufreibenden Job haben, da sie niemals vor neun oder zehn Uhr auftaucht. Wenn ich sie danach frage, wird sie sehr einsilbig, also habe ich recht schnell aufgehört weiter nachzuforschen. Aber wenn sie fragt, ob ich nicht Lust auf einen Spaziergang hätte, scheinen Kleinigkeiten wie das Wetter plötzlich vollkommen nebensächlich. Das muss an ihr liegen. Sie geht auf eine Art und Weise durch die Welt, die mich zutiefst fasziniert. Für sie spielt es tatsächlich keine Rolle, ob es regnet oder nicht. Alles, was sie tut, ist richtig so, einfach weil sie es tut. Bei Dauerregen und Windstärke vier am Fluss entlang spazieren? Na klar! Die gemütlichste Sache der Welt!
Sie hat sich bei mir eingehakt, was ungewöhnlich ist. Bislang hat sie absolut jede Form von Berührung konsequent vermieden, etwas seltsam, aber ich habe beschlossen, sie nicht zu sehr zu bedrängen. Sie wird wohl ihre Gründe haben. Mir selbst würden spontan schon ein paar gute einfallen. Die Welt ist voller verrückter Arschlöcher und trauriger Geschichten. Dass ihre plötzliche Nähe mein Herz zum Klopfen bringt, scheint sie zwar zu ahnen, aber sie tut so, als sei dies genau so selbstverständlich wie nachts um eins nur zum Spaß nass zu werden.
»Du warst nicht immer Kellner, stimmt's?« Ihre beiläufige Art, selbst wichtige Fragen so zu stellen, als spiele die Antwort keine Rolle, ist irritierend, aber ich habe mich inzwischen daran gewöhnt.
»Nein. Ich hab alles mögliche gemacht. Zuletzt war ich Aktienbroker.«
»Nun, dann gratuliere ich zur Beförderung.«
»Sehr lustig …« Ihr Blick sagt mir, dass es nicht unbedingt als Scherz gemeint war. So ganz kann man da bei ihr leider nie sicher sein. Aber letzten Endes muss ich doch lachen. »Naja, vielleicht hast du sogar recht. Ich meine, wenn ich darüber nachdenke – den meisten Typen, mit denen ich da gearbeitet habe, würde ich inzwischen nicht mal einen Kaffee servieren. Mieses Gesindel. Ich finde ohnehin, das Leben ist etwas zu kurz, um es ausschließlich mit dem Gedanken an Geld zu verplempern.«
»Es ist auch zu kurz, um es als Bedienung in einem Schnellrestaurant zu verplempern.«
»Touché.«
»Du wirkst sowieso nicht wirklich wie ein geborener Aktienbroker. Was hast du davor gemacht?«
Ich zögere. Eigentlich gehört das zu den Dingen, über die ich nicht gerne spreche. Aber mein Gefühl sagt mir, dass Nico inzwischen mir gegenüber für ihre Verhältnisse bemerkenswert offen ist – vielleicht nicht ganz verkehrt, wenn ich mich im Gegenzug ebenfalls ein bisschen öffne.
»Ursprünglich war ich mal Polizist. BKA mit Spezialausbildung – organisierte Kriminalität, verdeckte Ermittlungen, lauter so Zeug …«
»Klingt nicht nach einem Job, den man einfach so an den Nagel hängt. Was ist passiert?«
»Eine lange Geschichte.«
»Wir haben Zeit«, erwidert sie, derweil um uns herum der Regen in die Pfützen prasselt. Alle Zeit der Welt, einzig gemessen im Plätschern des Wassers und unseren Schritten, nur wir beide, eingehüllt in die Nähe unserer Körper.
»Naja, sagen wir einfach, ich hatte schon immer ein gewisses Talent, mich in Schwierigkeiten zu bringen. Die unbequemen Wege zu gehen. Die falschen Leute zu verärgern. Kann bei diesem Job ziemlich fatale Folgen haben … eigentlich sollte ich froh sein, dass ich überhaupt noch lebe.«
Nico wird sehr still. Ihr Profil wirkt ernst, als ich zu ihr rübersehe. »Ja, die Welt kann ein verdammt brutaler Ort sein«, sagt sie schließlich und greift meinen Arm unmerklich etwas fester.
»Klingt ganz so, als hättest du da auch so deine Erfa…«
Nico ist so unvermittelt stehen geblieben, als sei sie vor eine Wand gelaufen. Da wir immer noch fest untergehakt sind, reißt es mich beinahe von den Füßen.
»Hey! Was ist denn …«
Sie hebt abrupt die Hand und bringt mich damit zum Schweigen. Ihre Miene ist mit einem Mal todernst, ihr Kopf bewegt sich von links nach rechts, während ihre Augen blitzschnell die Schatten um uns herum absuchen. Meine eigenen Instinkte registrieren all das und wittern Gefahr.
»Stell keine Fragen«, sagt Nico plötzlich leise. »Wenn ich es dir sage, dann lauf einfach. Kümmer dich nicht um mich. Bleib nicht stehen. Sieh dich nicht um. Bring dich einfach in Sicherheit, kapiert?«
Ich nicke stumm. Ich habe zwar keine Ahnung, was los ist, aber Nico dafür offenbar umso besser. Der Ernst in ihrer Stimme und mein eigenes Bauchgefühl sagen mir, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt für lange Diskussionen ist und es wohl das beste sein dürfte zu tun, was immer sie vorschlägt.
Nico dreht sich langsam um, ich tue es ihr fast automatisch gleich. Ein paar Meter entfernt stehen zwei Gestalten auf dem Weg. Sie sind schwarz gekleidet, lange Mäntel, feste Stiefel, und sie sind ganz offensichtlich keine Spaziergänger. Sie stehen in dem schwachen Lichtschein einer der wenigen Laternen, die entlang der alten Promenade postiert sind. In der Dunkelheit hinter ihnen bewegt sich etwas, mannsgroße Schatten, die wirken, als könnten sie sich nicht entscheiden, ob sie auf zwei oder vier Beinen laufen sollen. Ein tiefes Knurren, das bis zu uns herüber zu hören ist, gelbe Augen leuchten in der Dunkelheit … ich spüre, wie ein eiskalter Finger mein Rückgrat entlangläuft und sich meine Nackenhaare aufstellen.
Eine der Gestalten ruft zu uns herüber: »Nicoletta diTredi! Endlich.« Selbst über das Prasseln des Regens hinweg kann man die Boshaftigkeit in der Stimme erahnen. Wer auch immer diese Typen sind, sie haben nichts Gutes im Sinn.
»Scompaio, scarafaggio!« ruft Nico grimmig zurück. »Nimm deine verdammten Schoßtiere und kriech zurück zu eurem Herrchen!«
»Ich fürchte das geht nicht«, kommt die Antwort zurück. »Wir haben eine Nachricht für dich und deinen Freund.«
»Wir sind nicht interessiert.« Nicos Tonfall hat Eiszapfen an den Rändern. Eine knappe Bewegung, und plötzlich hält sie etwas in der Hand, das bemerkenswerte Ähnlichkeit mit einer Sichel hat. Eine Klinge schimmert im schwachen Licht.
»Lauf!« sagt sie und sprintet auf die Gestalten zu, ohne sich noch einmal umzudrehen. Für einen winzigen Moment bin ich versucht, einfach zu bleiben und ihr Rückendeckung zu geben. Aber etwas an der ganzen Situation und an Nicos Verhalten überzeugt mich, dass sie sehr gut allein zurecht kommt und ich mich hier besser nicht einmische. Ich nehme mir daher nicht die Zeit mir anzusehen, was geschieht, sondern renne stattdessen die Böschung hinauf, weg vom Geschehen, so wie sie es gesagt hat. Ich rutsche auf dem nassen Gras mehrfach aus, höre hinter mir Geräusche eines Kampfes, menschliche Stimmen, das Knurren der seltsamen Kreaturen. Leider scheint Nicos Plan, alle Gegner auf sich zu ziehen, nicht aufgegangen zu sein. Ich kann spüren, dass mich etwas verfolgt, auch wenn ich wegen des Regens und der Dunkelheit nicht viel hören oder sehen kann. Ich weiß einfach, dass eine der gelbäugigen Kreaturen mir dicht auf den Fersen ist. Und ich bin unbewaffnet und außer Form – mein letztes BKA-Training ist über acht Jahre her. Schon nach wenigen hundert Metern spüre ich das Pochen meines Herzens, und mein Atem geht zusehends schwerer. Ich weiß, dass oberhalb der Promenade das Hafenviertel liegt, ein Gewirr aus Gassen, Häusern und Lagerhallen – optimales Terrain, um Verfolger abzuschütteln, vorausgesetzt, ich schaffe es bis dorthin. Ich kann das Knurren jetzt deutlich hören, das Biest ist nur ein paar Meter hinter mir. Ich schlage einen Haken, ändere meinen Kurs um neunzig Grad, wühle mich durch ein Gebüsch. Es wird mir nicht viel Vorsprung verschaffen, das weiß ich, aber im Moment zählt jede Sekunde, jeder Meter.
Ein paar schnelle Schritte später tauche ich in die erste Gasse ein, hetze zwischen Müllcontainern und Schutthaufen hindurch, biege willkürlich ab, verlasse mich ganz auf meinen Instinkt. Für einen Moment sieht es ganz so aus, als hätte ich sie abgeschüttelt, aber ich will mich besser nicht allzu sehr darauf zu verlassen. Wahrscheinlich sind sie durchaus in der Lage, meine Spur wieder aufzunehmen, auch wenn sie mich danks meines wüsten Zickzack-Kurses zwischenzeitlich verloren haben. Besser, ich bleibe in Bewegung.
Die Gebäude hier sind größtenteils verlassen, leere Fensterhöhlen, ein Gewirr aus Türen, löchrigen Zäunen, halb eingerissenen Mauern fliegt an mir vorbei. Plötzlich höre ich ein Heulen, ganz nah – das Biest hat mich wieder aufgespürt und mächtig aufgeholt. Während ich durch die Ruine einer Lagerhalle renne, wird mir klar, dass es mich jeden Moment erwischen wird, wenn ich mir nicht schnellstens was einfallen lasse. Zumal ich dieses Tempo ohnehin nicht mehr lange durchhalten kann. Ich brauche einen wirklich großen Vorsprung. Genug Abstand, um die Fährte zu verwischen. Oder wenigstens eine Waffe, um mich zur Wehr zu setzen.
Das Biest und sein Herrchen sind jetzt ganz nah, ich kann es spüren, ohne mich umzudrehen. Ich tauche seitlich weg, in einen schmalen Durchgang, und bereite mich auf eine Konfrontation vor, hoffe, dass sich meine Muskeln auch nach all den Jahren noch an das Nahkampftraining erinnern. Ich greife nach dem Erstbesten, das sich bietet, eine Orangenkiste voll mit leeren Bierflaschen, und schleudere es dem Schatten entgegen, der soeben auf mich zugeschossen kommt, gelbe Augen, blitzende Zähne … ich versuche mir so wenig Gedanken wie möglich darüber zu machen, was das sein könnte. Das einzige was zählt ist, es nicht allzu nah an mich rankommen zu lassen. Die Kiste war recht schwer und ich habe ihr ordentlich Schwung gegeben. Glas splittert, die Kreatur taumelt, heult auf, stürzt zu Boden.
Ich sprinte sofort weiter, um wieder einen kleinen Vorsprung aufzubauen. Nach ein paar Sekunden ist der Durchgang zu Ende und ich renne durch eine alte Fabrikhalle. Wären nicht die meisten Fenster zersplittert, so dass etwas von dem spärlichen Licht der Straßenlaternen hereinsickert, könnte ich überhaupt nichts sehen. Miese Situation. Ich renne nicht gerne, solange ich nicht sehen kann, wo ich hinlaufe. Da vorne, durch ein Tor, dahinter eine zweite Halle, auch diese voll mit alten Maschinen und jeder Menge Unrat. Hier gibt es etwas mehr Licht, direkt vor den Fenstern muss es eine Leuchtreklame oder sowas geben.
Und dank des Lichtes kann ich auch erkennen, dass ich jetzt wirklich in Schwierigkeiten bin: Eine Sackgasse! Das Tor am anderen Ende der Halle ist mit einer Kette verrammelt. Die glaslosen Fenster sind ein wenig zu hoch, um sie problemlos zu erreichen. Und so groß ist mein Vorsprung leider nicht, dass ich mir in Ruhe eine Treppe basteln könnte.
Da sind sie auch schon! Erneut italienische Wortfetzen, dann die gelben Augen am Ende des Durchgangs. Hektisch schaue ich mich um, suche den Boden nach etwas ab, das man als Waffe benutzen könnte. Da liegt ein Stück Metall, gerade in der richtigen Größe, etwas krumm, das eine Ende scharfkantig abgebrochen. Ich bücke mich danach, wiege es kurz in der Hand. Nicht perfekt, aber es muss reichen. Ich mache mich kampfbereit.
Das Augenpaar stürmt auf mich zu, dahinter sehe ich vage die Gestalt im dunklen Mantel. Später. Das erste zuerst.
Ich habe normalerweise verdammt gute Reflexe, aber dieses Biest, was auch immer es ist, ist schnell, wendig und hat verdammt viel Kraft. Obwohl ich geschickt ausweiche, erwischt es mich im Vorbeiflug mit einer Pranke und wirft mich von den Füßen, mein Schlag mit dem Metallrohr geht ins Leere, es haut mich von den Füßen und ich pralle vornüber gegen eines der ausgeschlachteten Maschinengehäuse, stoße mir den Kopf, lande mit dem Gesicht im Dreck. Bunte Muster flimmern vor meinen Augen, von einem Moment auf den anderen besteht die Welt nur noch aus Schmerz.
Wenn ich jetzt ohnmächtig werde, bin ich erledigt. Also rappele ich mich so schnell es geht wieder auf, kämpfe gegen den Drang an, einfach umzufallen und liegen zu bleiben, blinzele Blut aus den Augen. Die Welt ist etwas verschwommen, aber ich kann die Umrisse meines Gegners erkennen, der sich soeben orientiert und mich erneut ins Visier nimmt. Er macht ein, zwei Schritte auf mich zu, macht sich dann zum Sprung bereit …
Plötzlich ist da noch eine Gestalt, woher auch immer. Ich sehe zunächst nur das Flattern eines Mantels, Schimmern von Metall. Nico?
Ich taumele noch immer, mein Blick verschwimmt, ich sacke unwillkürlich auf die Knie. Die Einzelheiten des Zweikampfes entgehen mir deshalb größtenteils. Ich sehe nur Schemen, die sich verdammt schnell bewegen, höre Keuchen, hin und wieder gedämpfte Rufe, Nico hat sich offenbar mit beiden Gegnern gleichzeitig angelegt. Die Gestalt im Mantel taumelt, getroffen von einem wuchtigen Tritt, und verschwindet aus meinem Blickfeld. Das Sirren von Nicos Klinge, gleichzeitig das dumpfe Geräusch einer Pranke, die mit Wucht auf menschliches Fleisch trifft, ein Durcheinander aus Bewegungen, ein Aufschrei von Nico, ein Winseln der Kreatur, dann ganz plötzlich Stille.
Als ich wieder halbwegs geradeaus sehen kann, erkenne ich Nico. Sie liegt am Boden. Das Biest liegt zwei Schritte von ihr entfernt, eine formlose Masse aus Muskeln und Fell, und rührt sich ebenfalls nicht mehr. Im Halbdunkel sehe ich das Glänzen von Blut. Viel Blut.
»Nico?« höre ich mich selbst keuchen. Dann eine andere Stimme: »An deiner Stelle hätte ich mich tot gestellt, stupido!« Die Gestalt im Mantel taucht aus den Schatten auf. Ein wenig angeschlagen, aber offenbar noch immer kampfbereit. Ein kurzer Blick auf die beiden reglosen Körper zwischen uns. Dann beginnt er zu lachen. »Nicoletta die Große am Boden. Was für ein Tag.« Er verpasst der reglosen Nico siegessicher einen Tritt. Angesichts der Menge an Blut, die sie verloren hat, kann sie unmöglich noch am Leben sein. Ich spüre, wie sich meine Eingeweide zusammenziehen. Wut. Trauer. Das dringende Bedürfnis, dem Typen im Mantel mit bloßen Händen das Herz rauszureißen …
Was nun geschieht, geht so plötzlich vor sich, dass ich es eigentlich erst dann registriere, als es schon fast vorbei ist: Nico bewegt sich, erst nur ein kurzes Zucken, dann plötzlich schnellt sie hoch, mit unglaublicher Geschwindigkeit und Kraft, wirft den Kerl um und ist plötzlich über ihm. Die Mantelgestalt hat kaum Zeit nach Luft zu schnappen, ein kurzer erstickter Schrei, der ebenso schnell erstirbt. Ich kann nicht viel erkennen, es sieht so aus, als hätte sich Nico mit Klauen und Zähnen in der Kehle ihres Gegners verbissen …
»Nico!« Die dann folgenden Sekunden brennen sich mit quälender Genauigkeit in mein Bewusstsein ein: Nicos Kopf ruckt nach oben und wendet sich mir zu, ein fauchendes Geräusch aus ihrer Kehle – sie muss es sein, doch das Gesicht ist nicht wirklich das ihre. Es ist eine bleiche Maske, Blut tropft von blendend weißen Fangzähnen, läuft an ihrem Kinn herab, eine Strähne nasses schwarzes Haar verdeckt ihr eines Auge, das andere leuchtet mir bernsteinfarben entgegen, darin ein Raubtierblick … eine Fratze aus den ältesten Alpträumen der Menschheit. Das Gesicht des Jägers. Bleich wie der Mond, wild und gefährlich. Antlitz der Bestie …
Für einen Moment scheint die Zeit still zu stehen. Dann verändert sich der Blick in den Augen, aus Mordlust wird blankes Entsetzen. Furcht. Trauer. Ein Gewitter aus Emotionen in der Dauer eines Herzschlages, während die Augen auf unheimliche Weise wieder das vertraute Grau annehmen. Für einen schier endlosen Moment starre ich in Nicos vertrautes Gesicht, nur verunstaltet durch das Rinnsal aus fremdem Blut an ihrem Kinn. Wo mir eben noch ein Raubtier entgegen funkelte, ist jetzt – nur noch Nico. Und zum ersten mal sehe ich sie völlig ohne ihre Maske aus kühler Verschlossenheit. Nackt und verletzlich. Ich starre sie einfach nur an, unfähig mich zu rühren. Ich weiß, dass ich soeben Zeuge von etwas absolut Unglaublichem geworden bin. Ich knie hier, zwischen den blutleeren Überresten eines Menschen und dem Kadaver eines … Werwolfs? Auge in Auge mit etwas, das nach allem, was ich weiß und entgegen aller Vernunft, tatsächlich ein Vampir sein muss. Weiß nicht, was ich sagen könnte, nicht mal, was ich fühlen soll. Ich starre sie einfach nur unentwegt an, die echte Nico, die sich mir soeben enthüllt hat. Nicoletta die Große. Nicoletta die Finstere. Geschöpf der Nacht,
Aber ihr Blick hat nichts Bösartiges. Da ist nur Schmerz. Einsamkeit. Ihr ganzes Dasein in einem Blick. Trotz allem, was soeben geschehen ist, verspüre ich tief in mir den plötzlichen Impuls, sie zu berühren, sie in den Arm zu nehmen und festzuhalten …
Nico zuckt zusammen, als könnte sie spüren, was in mir vorgeht, wendet sich ab, schließt die Augen, senkt den Kopf. Plötzlich bewegt sie sich. Noch bevor ich etwas sagen kann, ist sie aufgesprungen, ein letzter Blick – dann ist sie in den Schatten verschwunden, lässt mich zurück. Allein. So allein wie noch nie zuvor in meinem Leben.

***​

Alles leer. Die Straßen. Das Diner. Mein Leben. Die Nächte werden lang, wenn etwas darin fehlt. Vier Wochen und kein Zeichen von Nico. Sie ist weg. Für immer.
Ich weiß nur zu gut, was ich neulich in dieser Fabrikhalle gesehen habe. Und ich weiß, dass ich mich eigentlich zu Tode fürchten und froh sein müsste, sie nie wiederzusehen. Aber alles, was ich empfinden kann, ist Sehnsucht. Bedauern. Eine tiefe Leere, dort wo Nico sein sollte. Und irgendwann ist jeder Tisch hundertmal geputzt, jeder Zuckerstreuer gefüllt, jeder Quadratmillimeter Fußboden blitzsauber gewischt, und mir bleibt nichts, als an jenem Tisch zu sitzen, an dem auch sie immer saß, und aus dem Fenster auf den Fluss zu starren, der träge und gleichmütig die Zeit mit sich fortträgt, Minuten und Stunden in seinen schmutzigen grauen Strudeln begräbt und für immer verschwinden lässt. Und irgendwo da draußen ist Nico, lebt ein Leben, von dem ich inzwischen nicht mehr die geringste Vorstellung habe. Oder auch eine viel zu genaue. Wenn sie wüsste, wie sehr sie mir fehlt …
Das Geräusch der Schwingtür schreckt mich auf. Normalerweise kommt um diese Zeit keine Kundschaft mehr. Und wie immer, wenn ich in den letzten vier Wochen dieses Geräusch hörte, fahre ich herum, in der Hoffnung, dass Nico dort steht.
Dieses Mal steht sie tatsächlich dort.
Zuerst denke ich, ich hätte mich doch wieder geirrt. Sie wirkt müde und irgendwie … kleiner als sonst. Kein bisschen Glamour, nur Bikerstiefel, Jeans, ein schlabbriger schwarzer Rollkragenpullover, keine Spur von Make-Up, die Haare zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden. Aber sie ist es tatsächlich, vielleicht sogar echter als jemals zuvor. Die Arme vor der Brust verschränkt, kommt sie mit langsamen Schritten, eingehüllt in eine tiefe Stille, auf meinen Tisch zu, setzt sich mir gegenüber auf die Bank mit der abgewetzten roten Polsterung, faltet zuletzt bedächtig die Hände vor sich auf dem Tisch und sieht mich schweigend an. Der Moment scheint ungefähr tausend Jahre zu dauern.
»Hast Du Angst vor mir?« fragt sie schließlich. Auch ihre Stimme ist leise und erschöpft und so gar nicht die Nico, die ich kenne. Sie wirkt ängstlich. Das habe ich bei ihr noch nie erlebt.
»Ich weiß nicht.« Die reine Wahrheit. Vier Wochen, und noch immer bin ich nicht sicher, was ich von all dem halten soll, das ich gesehen habe. »Ich weiß allerdings, wovor ich wirklich Angst habe.«
»Und das wäre?«
»Dich nie wiederzusehen.«
In ihren Augen leuchtet etwas, ihre Miene bleibt allerdings unbewegt, erschöpft, traurig. Zaghaft streckt sie ihre Hand aus, legt sie auf die meine. Das allererste Mal, dass ich wirklich ihre Haut berühre. Sie ist kühl. Raumtemperatur. Ich erwidere ihren Blick so ruhig wie nur möglich, auch wenn mir das Herz bis zum Hals klopft.
»Dann stört dich nicht, was ich bin?«
»Ich bin nicht mal sicher, ob ich überhaupt wirklich verstehe, was du bist.«
»Du hast es sehr gut verstanden, denke ich. Du willst es bloß noch nicht wahr haben.«
»Mag sein.« Für den Moment weiß ich nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nur, was ich fühle: Ich bin einfach froh, dass sie da ist. Alles andere ist erschreckend unwichtig. »Dann sind die ganzen Geschichten also wahr?« frage ich schließlich.
»Geschichten?«
»Naja, was in den Büchern steht. Du weißt schon, Dracula und der ganze Kram.«
Jetzt huscht tatsächlich ein Lächeln über ihr Gesicht, bricht sich an den tiefen Linien der Erschöpfung. »Einiges davon. Das meiste allerdings ist blanker Unsinn.«
»Das heißt, die Rüschenklamotten, Kruzifixe, die Angst vor Knoblauch …«
»Humbug. Die Wahrheit ist … etwas komplizierter.«
»Aber ihr seid doch, naja … Geschöpfe der Nacht?«
»Wenn du es unbedingt so romantisch formulieren möchtest: Ja.«
»Aber das ist doch … ich meine … wie ist das möglich?«
»Die gleiche Frage habe ich Benedikt, meinem Ziehvater, vor über 700 Jahren auch gestellt. Weißt du, was er gesagt hat? Er sagte: ›Frag nicht!‹«
»Hm. Ich schätze, du wirst mir trotzdem eine Menge erklären müssen. So richtig kann ich es nämlich immer noch nicht glauben. Wie kommt es, dass niemand etwas davon weiß?«
»Wir haben gelernt, uns verborgen zu halten. Und ich wäre dir dankbar, wenn du das, was du weißt, für dich behalten könntest.«
Jetzt ist es an mir, leise zu lachen. »Als ob das irgendjemand glauben würde.«
»Du glaubst es.«
»Weil ich es mit eigenen Augen gesehen habe. Und selbst so fällt es mir noch schwer genug.«
»Besser, du gewöhnst dich daran. Ich muss dir bedingungslos vertrauen können. Im Moment verstoße ich gleich gegen ein ganzes Dutzend Regeln, allein deshalb, weil du immer noch am Leben bist. Wenn das herauskommt, bin ich ziemlich in Schwierigkeiten.«
Ich überlege schweigend vor mich hin, ganze Bände von möglichen Geschichten schießen durch meinen Kopf, versuchen ein Bild zu formen von dem Leben, das sie führt und den Regeln, denen sie möglicherweise unterworfen ist. Alles, was ich über Ihresgleichen zu wissen glaube, ergänzt von dem, was ich aufgrund ihrer wenigen Äußerungen noch vermuten kann – es ergibt kein besonders schönes Bild: »Weil ich jetzt eigentlich tot – oder einer von euch sein müsste. Richtig?«
Sie seufzt leise. »Im Zweifelsfall tot. Es ist uns strikt untersagt, jemanden zu verwandeln, ohne dass der Rat seine Zustimmung gegeben hat.«
»Verstehe – Familienplanung der besonderen Art …«
»Sei nicht so zynisch. Wir tun nur, was nötig ist, um zu überleben.«
Sie schließt einen Moment die Augen. Ihre Hand streichelt nach wie vor gedankenverloren über die meine. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so müde wirkte. Sie scheint wochenlang nicht geschlafen zu haben.
Schließlich stelle ich die eine Frage, die mir in all meinen verwirrenden Träumen und Spekulationen der vergangenen Wochen am meisten auf der Seele brannte: »Werde ich … auch einer sein?«
Sie öffnet die Augen. Ihre Miene, ihr Blick, alles an ihr ist zutiefst ernst, als sie sagt: »Möchtest du das denn?«
»Ich weiß nicht. Sag du es mir.«
Ihr Gesichtsausdruck wird etwas entspannter. Sie scheint erleichtert zu sein. »Nein.« Sie greift meine Hand und drückt sie zärtlich. »Es verändert so vieles. Ich weiß nicht, ob das, was dich als Menschen ausmacht, die Verwandlung unbeschadet überstehen würde. Ich möchte höchst ungern riskieren, ausgerechnet das an dir zu zerstören, das ich am meisten liebe.«
…das ich am meisten liebe …
Etwas in mir löst sich. Ein Knoten. Anspannung, Ungewissheit … ein Schatten auf meiner Seele, der sich in diesem Moment in Luft auflöst. Ich hab mich entschieden. Und wohl schon lange vor diesem Moment.
Ich lege all meine Liebe und Wärme in mein Lächeln, als ich ihr die Entscheidung mitteile: »Tja, ich schätze, ich werde Heinz wohl bitten müssen, dass jemand anders die Nachtschicht kriegt.«
Zum ersten Mal, seit sie zur Tür hereingekommen ist, wirkt sie entspannt. Und da ist ihr vertrautes Lächeln, das Leuchten in ihren Augen. »Ja, das wäre nett.«

***​

Als ich aufwache, ist es tief in der Nacht. Seltsam, wie schnell man sich daran gewöhnt. Aber seit ich mit Nico zusammen bin, ist Tageslicht plötzlich nur noch eine ärgerliche Zeitverschwendung.
Am Fenster brechen Ströme von Regenwasser das Licht der Straßenlaterne, malen bizarre Muster an die Decke, und ich liege reglos auf dem Rücken, starre nach oben und versuche die Wege des Regens zu erraten. In meinem Kopf läuft ein Film – ein Kaleidoskop von Geschichten, die Nico mir in den vergangenen Tagen erzählt hat: Über ihre Kindheit in Italien irgendwann im dreizehnten Jahrhundert, über die Ermordung ihrer Familie und ihres Verlobten durch Turoch-Vampire. Und immer wieder über Benedikt, den gottähnlichen Patriarchen der diTredis, der sie als Tochter adoptierte, sie auf ihren eigenen Wunsch hin zum Vampir machte, damit sie ihren eigenen gnadenlosen, mittlerweile Jahrhunderte dauernden Rachefeldzug gegen die Turochs führen konnte. Wann immer ich versuche, mir auszumalen, wieviel Einsamkeit sie in all dieser Zeit erlebt haben muss, oder versuche, den Menschen, der sie einmal gewesen sein muss, mit der Nico in Einklang zu bringen, die ich kennengelernt habe, verschließt sich mein Verstand davor. Zu groß sind die Widersprüche. Aber zumindest habe ich jetzt die eine oder andere Erklärung für den seltsamen Ausdruck von Trauer und Zorn, der direkt hinter ihrem üblichen Firnis aus kühler Beherrschung verborgen liegt und durchscheint, wann immer sie sich unbeobachtet fühlt. Selbst in den leidenschaftlichen Momenten fällt es ihr schwer diese Maske abzulegen. Das mit anzusehen, tut mir weh. Aber ich weiß nur zu gut, dass sie auf mein Mitgefühl verzichten kann. Hätte sie keinen Weg gefunden, mit sich selbst klar zu kommen, gäbe es sie ohnehin schon längst nicht mehr.
Erst jetzt spüre ich, dass Nico nicht hier ist. Das ist ungewöhnlich. Ich drehe mich zur Seite: Ihre Hälfte des Bettes ist leer, stattdessen liegt ein Zettel auf dem Kopfkissen. Ich will keine Lampe einschalten, also muss ich einen Moment experimentieren, bis ich einen Winkel gefunden habe, in dem genügend Licht darauf fällt, damit ich ihn lesen kann:

Mein Liebster,

bitte verzeih, dass ich Dich einfach so zurücklasse. Ich musste leider überraschend aufbrechen – wichtige und unschöne Dinge verlangen meine Aufmerksamkeit.
Falls Du Dich fragen solltest, wann ich zurückkehre: So bald wie nur irgend möglich. Denn falls Du es noch nicht wissen solltest: Ich liebe Dich!
Du bist wie eine Offenbarung, erinnerst mich an etwas, von dem ich glaubte, es schon seit Jahrhunderten verloren zu haben: Du hast mir mein Herz zurückgegeben! Hast jene Leere gefüllt, von der ich bereits vergessen hatte, was ich einst statt ihrer einmal besaß.
Deine Liebe ist mir das kostbarste Geschenk, erhellt und erleuchtet mich und weckt seit langem verloren geglaubtes Leben in mir. Deine Berührung allein schenkt mir schiere Freude am Dasein, ein Regenbogengewitter in meiner Seele … es gäbe tausend Worte, meine Gefühle zu beschreiben, und doch wären auch alle zusammen niemals genug.
Erwarte mich in zwei Tagen gegen Mitternacht zurück. Und glaube mir: Ich würde den Ozean teilen und die Sterne verlöschen lassen, um bei dir zu sein. Hoffen wir, dass weniger nötig sein wird! Bis dahin begleitet dich die Gewissheit meiner immerwährenden Liebe.

Nico

Ich brauche eine Weile, bis ich begreife, dass diese Worte tatsächlich an mich gerichtet sind. Es ist einfach zu schön, um wahr zu sein. Und doch muss es wahr sein. Ich kann das raue Papier zwischen meinen Fingern spüren, sehe den löchrigen Vorhang aus steilen, nach rechts geneigten Buchstaben. Lese die Worte.
»… Regenbogengewitter in meiner Seele…«
Nicht nur für dich, Liebste. Wenn ich jetzt sterben müsste …
Ich komme leider nie dazu, den Satz zu Ende zu denken, weil plötzlich die Tür aufgestoßen wird. Oder besser gesagt: Aus den Angeln gerissen!
Noch bevor ich richtig reagieren kann, fließen drei, nein vier dunkle Gestalten ins Zimmer, Arme packen mich mit eisernem Griff, stärker als jeder Mensch, und werfen mich aufs Bett zurück, halten mich dort fest. Als ich den Kopf hebe, sehe ich eine weitere Gestalt, die in den Streifen aus Laternenlicht tritt. Ich habe dieses Gesicht schon einmal gesehen: Eine fiese kleine Eidechsenvisage mit schwarzen Augen über einem dünnen Bärtchen: Maximilian!
»Ganz ruhig, mein Romeo.« Seine Stimme ist noch immer die eines schizophrenen Chorknaben, weich und schlingernd, als seien die Worte lästige Hindernisse zwischen seinem Irrsinn und der Welt. Seine süffisante Art ist zudem hervorragend dazu geeignet, jeden halbwegs normalen Menschen innerhalb von dreißig Sekunden die Wand hoch zu treiben. Ich aber kann im Moment nur an eins denken: »Nico!« Ich zappele, versuche mich aus den Schraubstockgriffen von Maximilians Gorillas zu befreien. »Was ist mit ihr?«
Maximilian spitzt die Lippen, dann grinst er süßlich und fährt sich in einer gezierten Geste mit dem kleinen Finger über die Spitze seines Schnurrbärtchens. »Och, die Turteltäubchen machen sich Sorgen umeinander?«
»Wenn du ihr was angetan hast …«
»Der Ritter auf weißem Pferd – Liebe muss was Wundervolles sein.« Max kichert. Es klingt wie eine Hyäne, die einen über den Durst getrunken hat, unmenschlich und zutiefst zynisch. »Ich sehe schon, meine kleine Inszenierung war ein voller Erfolg. Ach, und das Drama danach: ›Buhu, ich bin eine Vampirin, wirst du mich trotzdem noch lieben?‹« Er schnaubt verächtlich. »Pah. Natürlich wirst du sie trotzdem noch lieben, du Versager. Was bleibt dir schon übrig? Welche lebendige Frau würde sich schon mit dir abgeben?«
In mir kocht Wut. Nicht über seine offensichtlichen und armseligen Versuche, mich zu beleidigen, sondern über die Tatsache, dass er die ganze Zeit ein Spielchen mit uns getrieben und sich dabei offenbar köstlich amüsiert hat.
»Der Überfall … das alles war nur ein Test!«
»Natürlich, mein Prinz. Wir mussten doch wissen, was für eine Rolle du spielst. Und jetzt, da wir es wissen und sich die liebe Nicoletta als sehr viel sentimentaler erwiesen hat als ich jemals zu hoffen gewagt hätte, haben wir den perfekten Köder für unsere Eisprinzessin.«
Bei dem Wort »Köder« gefriert mir das Blut in den Adern. »Was habt ihr mit ihr vor?«
Maximilian streicht sich erneut über den Bart. In seinen Augen glitzert etwas zutiefst Boshaftes – offensichtlich die kindische Vorfreude auf jede Menge Leid, das er anderen zufügen kann. »Süßer – an deiner Stelle würde ich mir viel mehr Sorgen darum machen, was wir mit dir vorhaben.«

***​

Ich weiß nicht, ob ich mich in meinem Leben schon mal so beschissen gefühlt habe. Ich hocke in einem dunklen, muffigen Raum, gefesselt und halb tot, mein ganzer Körper ein einziger Schmerz. Maximilians Gorillas – »Ghuls« ist wohl der passende Fachbegriff dafür – haben mich stundenlang bearbeitet, mich geschlagen, mit Messern traktiert, mir Elektroschocks verpasst. Ein Verhör kann man es eigentlich nicht nennen, da sie mir kaum wirklich eine Frage gestellt haben. Es ging wohl nur darum, mir möglichst viel Schmerzen zuzufügen. Irgendwann wurde ich endgültig bewusstlos, und sie haben mich in dieses feuchte Loch geworfen und an die Wand gekettet wie ein Tier. Und hier sitze ich, ohne jedes Gefühl für Ort und Zeit und mit Sicherheit schwer verletzt. Ohne ärztliche Hilfe werde ich wohl bald ganz tot sein. Absolut großartig.
Irgendwann das Geräusch von Metall, das über Beton kratzt. Dann leichte Schritte, weiche Ledersohlen an italienischen Schuhen, der Geruch von edlem Rasierwasser, ein heller Fleck in meinem Blickfeld – dünnes Bärtchen, Eidechsenfresse: Maximilian. Seine weiche, irre Mädchenstimme säuselt durch die Wolke aus Schmerz in meinem Kopf: »Hallo, Romeo.«
Ich nehme all meine Kraft zusammen, um ihn möglichst geradeaus anstarren zu können. »Ach, der alberne Kastraten-Vampir. Was willst du noch?«
Meine Beleidigung scheint ihn nicht sonderlich zu stören. Das verdammte Reptilienlächeln hängt auf seinen Lippen wie angeklebt. »Nun, ich hatte dir ja versprochen, dass ich mich noch ausführlicher mit dir beschäftigen würde, nicht wahr? Ich hoffe nur, dir hat der Aufenthalt hier bisher gefallen?« Er legt den Kopf schief und spitzt höhnisch die dünnen Lippen. »Ich habe ja so gerne Gäste.«
»Spar's dir, Kumpel. Du wirst nicht davonkommen. Irgendwann wird Nico dich aufspüren, und dann wird sie dir deinen hübschen kleinen Tuntenarsch aufreißen!«
Maxmilian mimt den Furchtsamen und legt in einer affektierten Geste gespielten Entsetzens die Hände an seine Wangen. Sein Mund formt ein spöttisches ›Oh!‹, bevor er antwortet: »Wird sie das? Ach, du glaubst fest daran, nicht wahr? Liebe ist ja so was Wundervolles … nun, mit einem hast du absolut Recht: Nicoletta wird kommen. Das will ich jedenfalls schwer hoffen. Schließlich habe ich ihr nur zu genaue Anweisungen hinterlassen, wo und wie sie dich finden kann. Zweifellos ist sie in diesem Moment schon auf dem Weg hierher, pünktlich zum großen Finale. Wäre auch zu schade, wenn sie all die hübschen kleinen Überraschungen versäumt, die ich für sie vorbereitet habe.«
Ich muss mich zusammenreißen, um meiner Stimme ein bisschen Kraft zu verleihen. Mir tut einfach alles weh und ich fühle, wie ich praktisch mit jeder Sekunde schwächer werde, aber ich werde Maximilian nicht die Genugtuung gönnen, mir etwas anmerken zu lassen. »Du fiese kleine Küchenschabe. Du liebst das große Drama, nicht wahr?«
Maximilian seufzt theatralisch und blickt einen Moment zur Decke. »Ja, das ist wohl wahr. Ich meine: Der Kampf ist eine Notwendigkeit, sicher doch. Aber das heißt nicht, dass man ihn sich nicht ein bisschen versüßen kann, oder? Vielleicht mit einem Hauch von Romantik? Zum Beispiel einer Eisprinzessin, die losstürmt, um ihren Liebsten aus den Fängern der finsteren Turochs zu erretten – zweifellos eine meiner gelungensten Inszenierungen. Und weißt du, was das Allerschönste daran sein wird? Der Moment, wenn Nicoletta diese Tür öffnet und feststellen muss, dass alles umsonst war – weil das Gift, das ich dir vor einigen Stunden verabreicht habe, dich bereits getötet hat. Tragisch, nicht wahr?«
Gift! Das erklärt alles. Was für ein schleimiger kleiner Mistkerl. Es genügt ihm nicht, mich einfach umzubringen. Er muss es auch noch so langsam und effektvoll wie möglich tun, damit ich möglichst lange was davon habe. Perfider geht kaum noch. Hätte ich noch genug Energie und ein bisschen Speichel übrig, würde ich ihn jetzt anspucken. »Du miese kleine Ratte! All der faule Zauber … nur weil du ohne miese Tricks nicht Manns genug bist, es mit Nico aufzunehmen …«
Maximilian überhört auch diese Beleidigung und kichert lediglich auf seine widerliche, echsenhafte Art. »Oh, du glaubst tatsächlich immer noch, es ginge ausschließlich um die liebe Nicoletta, nicht wahr? Törichter Romeo! Du hast ja keine Ahnung. Es geht um so viel mehr als du ahnst. Wobei ich jedoch zugeben muss: Nicolettas Untergang als spektakuläre Eröffnung und Höhepunkt des ersten Aktes ist ein geschmackvolles kleines Extra in meinem Plan.«
»Dein Plan? Was für ein Plan soll das sein? Warum das alles? Oh nein, lass mich raten: Du bist auch einfach nur so ein schwanzloser kleiner Mistkerl, der seine schlechte Laune austoben will, stimmt's?«
Das war ein Treffer! Von einem Moment auf den anderen verwandelt sich Maximilians süffisantes Grinsen in eine bizarre Fratze der Wut. Er bleckt die spitzen Zähne, plötzlich ist er so nah, dass ich die Pomade in seinem Bärtchen riechen kann, und seine Chorknabenstimme faucht mir ins Ohr: »Du hast doch nicht die geringste Ahnung, mit wem du hier sprichst, du Wurm! Ich habe bereits die Kreuzfahrer vor den Toren Jerusalems aufmarschieren sehen. Die Blutlinie der Turochs reicht zurück bis an die Anfänge der Menschheitsgeschichte. Und einst waren wir eine stolze Rasse, Herrscher über die Welt, und ihr wart nicht viel mehr als namenloses Vieh!« Die letzten Worte zischt er regelrecht, in seinen Augen lodert blanker Hass. »Aber dann kamen die Reformer … all die Gemäßigten und Verweichlichten, und an der Spitze die diTredis. Sie trieben uns in die Schatten, ins Verborgene, in die ständige Angst vor Entdeckung. Sie nahmen uns unsere Geburtsrechte, unseren ganzen Stolz, und sperrten uns in einen goldenen Käfig aus Gesetzen und Furcht. Und es ist wirklich, wirklich an der Zeit, dass dieser Irrsinn ein Ende findet und wir diese Dummköpfe, allen voran die diTredis mitsamt ihrer verdammten Arroganz, wieder unter den Stein zurückjagen, unter dem sie einst hervorgekrochen sind. Dieser Tag heute ist der Anfang. Beginn einer glorreichen Zukunft, in der wir wieder die wahren Herren über die Welt sind!« Ich lasse den Sermon schweigend über mich hinwegschwappen. Allmählich beruhigt sich Maximilian ein wenig, und einen Moment später spielt wieder das gewohnte Lächeln um seine Mundwinkel. »Sei stolz auf dich«, sagt er beinahe heiter. »Du bist Teil eines historischen Ereignisses. Nur schade, dass du nicht mehr allzu viel davon mitbekommen wirst.«
Wie gerne hätte ich jetzt einen Ziegelstein, um damit diesem selbsternannten Fürsten der Finsternis das Grinsen aus der Visage zu prügeln. Leider habe ich nur noch Worte.
»Oh Mann, Mäxchen«, erwidere ich und versuche so viel Verachtung wie nur möglich in jede Silbe zu packen. »Kannst du mich nicht einfach weiter zusammenschlagen? Von mir aus auch Elektroschocks. Ganz egal. Hauptsache, ich muss mir nicht noch mehr von deinem Geschwafel anhören.«
Mäxchen zieht etwas indigniert die Augenbrauen hoch, doch sein Lächeln bleibt. Er ist offenbar entschlossen, sich von mir nicht mehr aus der Ruhe bringen zu lassen.
»Weißt du, was als einziges wirklich schade ist?« fahre ich fort und bemühe mich, ein möglichst diabolisches und selbstsicheres Grinsen zustande zu bringen. »Dass ich nicht mehr miterleben kann, wie Nico und ihre Kumpels dich in einen Aschenbecher abfüllen, du Arschloch!«
Für einen kurzen Moment wirkt Maximilian beinahe verblüfft – dann verfällt er in ein unnachahmliches, hyänenartiges Lachen. »Du bist wirklich bemerkenswert. Allmählich begreife ich, was Nicoletta an dir findet.« Er legt sich mit einer gezierten Geste die Hand auf die Brust und fügt im besten Plauderton hinzu: »Weißt du, ich würde ja wirklich gerne noch länger mit dir Plaudern, aber ich hab leider noch so viel zu erledigen. Und du, mein Romeo, wartest jetzt wohl einfach auf deine Julia.« Er winkt mir zum Abschied, übertrieben geziert, wie eine Ballerina, die für die allerletzte Reihe tanzt. »Ich wünsche dir einen schönen Tod.«
Er wendet sich ab, und von einem Moment auf den anderen bin ich wieder allein. All die Kraft, die ich zusammengenommen hatte, um vor Maximilian aufrecht zu bleiben, verpufft und ich sacke zusammen. Tränen laufen meine Wangen herab. Es ist zu spät. Die Falle ist perfekt, sie wird zuschnappen, und ich werde nicht mal mehr lange genug am Leben sein, um Nico ein letztes Mal in die Augen zu sehen. Wir haben endgültig verloren.

***​

Ich weiß nicht, wie lange ich weggetreten war. Ich komme zu mir, weil jemand mich berührt, immer wieder meinen Namen sagt. Ich öffne mühsam die Augen, meine Lider sind tonnenschwer. Und dann sehe ich ein Gesicht vor mir: Nico ist da! Sie streichelt meine Wange, flüstert immer wieder meinen Namen, versucht dabei vorsichtig, mich auf die Füße zu stellen.
»Nico? Bist du das?« Ich bringe kaum mehr zustande als ein mattes Flüstern, meine Zunge fühlt sich an wie ein Stück Blei.
»Ja, Paul. Ich bin es. Ich bin hier. Kannst du aufstehen?«
Ich schüttele müde den Kopf, meine Muskeln gehorchen mir kaum noch, das Gift hat mich bereits halb gelähmt. »Du … hättest nicht herkommen dürfen«, versuche ich sie zu warnen. »Du musst … verschwinden. Maximilian … eine Falle!«
»Ich weiß«, erwidert Nico ruhig. »Ich weiß alles. Maximilian war so nett, mir eine ausführliche Botschaft zukommen zu lassen. Den Rest haben unsere Kundschafter herausgefunden. Ich weiß, dass es eine Falle sein soll. Deshalb bin ich auch nicht allein. Aber ich musste kommen. Ich konnte dich unmöglich hier lassen.«
»Aber … alles umsonst. Ich … sie haben mich vergiftet. Du bist nur etwas zu früh gekommen. Eigentlich sollte ich schon tot sein …«
Durch den Schleier meiner Erschöpfung kann ich die plötzliche Panik und das Entsetzen in Nicos Gesicht erkennen. Doch einen Augenblick später weicht es einem Ausdruck grimmiger Gewissheit.
»Nein«, sagt sie entschieden. »Du hast noch immer nicht begriffen, wie Maximilian tickt, oder? Ich bin genau richtig gekommen. Gerade rechtzeitig, um dich sterben zu sehen. Das würde ihm am besten gefallen.«
»Was spielt das noch für eine Rolle? Er hat … gewonnen.«
Nico packt mit festem Griff mein Kinn und hebt meinen Kopf, der mir auf die Brust gesunken ist.
»Paul! Sieh mich an!« befiehlt sie, und ihre Stimme schneidet durch den Nebel, der sich um mein Bewusstsein gelegt hat und sorgt dafür, dass ich sie jetzt tatsächlich ganz deutlich vor mir sehe. »Ich liebe dich«, sagt sie sehr viel sanfter. »Glaubst du wirklich, ich lasse dich einfach sterben?« In ihrem Blick lodern Entschlossenheit und tiefe Liebe, aber auch Trauer, und mit einem Mal ist mir klar, was sie vorhat.
»Nico, du … ich dachte immer, du wolltest das niemals tun.« Vielleicht habe ich bereits Halluzinationen, aber ich meine tatsächlich eine Träne auf Nicos Wange zu erkennen.
»Habe ich denn eine Wahl?« flüstert sie. »Ich kann ohne dich nicht mehr leben. Und … du musst keine Angst haben. Es ist auch ein Geschenk, weißt du? Die Welt wird so viel größer … und ich werde bei dir sein. Wir bleiben zusammen. Für immer. Hab keine Angst …«
»Ich hab keine Angst«, murmele ich mit geschlossenen Augen. Mit jedem Atemzug flieht etwas mehr Leben aus meinem Körper. »Nicht um mich …«
Das letzte, was ich spüre, ist ihr Atem auf meiner Haut, ein kurzer, ferner Schmerz und dann – Dunkelheit.

***​

Eigentlich sollte ich jetzt tot sein. Aber ich fühle noch etwas, spüre meinen Körper, meine Gedanken rasen schneller als ich folgen kann …
Ich öffne die Augen. So ungefähr muss eine Geburt aussehen, wenn man selbst das Baby ist: Die Dunkelheit teilt sich, einen schmerzlichen Moment lang ist alles fremd – und dann ist da die Welt.
Um mich müsste es stockfinster sein. Doch die Finsternis pulsiert und leuchtet in scharfen Konturen, als hätte jemand mit Silberfarbe das Gemälde einer Nacht direkt ins Nichts gepinselt.
Dann wird mir klar, dass ich nicht atme, und Panik überfällt mich. Ich liege auf dem Rücken in der Dunkelheit und mein ganzer Körper beginnt zu zittern, während ich gegen das Gefühl ankämpfe, allmählich zu ersticken.
Eine leise, vertraute Stimme, etwas rau und unterkühlt, aber mit jeder Menge Mitgefühl an den Rändern, die sagt: »Ganz ruhig, Paul. Es dauert einen Moment, bis man sich daran gewöhnt hat.« Ich spüre eine Hand auf meinem Brustkorb, ein Gesicht taucht in meinem Blickfeld auf: Nico!
»Eigentlich bräuchtest du jetzt nicht mehr zu atmen – aber die meisten von uns tun es trotzdem, alleine schon, um nicht aufzufallen …« Sie redet einfach so dahin, wahrscheinlich, um mich zu beruhigen. Ich habe keine Ahnung, ob eine Minute vergeht oder etliche Stunden, alles in mir ist Schmerz, ein qualvolles Bedürfnis zu leben, der verzweifelte Versuch, sich daran zu erinnern, wie man atmet. Und plötzlich bricht ein heiserer, abgehackter Schrei aus mir heraus, ich erspüre mit einem Mal all jene Muskeln, die mich mein Leben lang mit Luft versorgt haben, mein Brustkorb krampft sich zusammen – und plötzlich ist die Furcht weg: Ich atme wieder. Flach und beinahe verlegen. Aber ich atme. Bin wieder ich selbst. Zurück in der Welt. Oder besser: Endlich angekommen in einer neuen.
»Bin ich tot?«
Nico schüttelt den Kopf: »Nein. Etwas völlig anderes.«

***​

Wir schleichen durch ein schier endloses Gewirr aus Räumen, Gängen und Türen. Oder besser gesagt: Nico schleicht. Ich lasse mich vollkommen orientierungslos hinterher schleifen wie ein taumeliger Treibanker. Offenbar sind wir irgendwo im alten Hafenviertel in einem unüberschaubaren Labyrinth aus miteinander verwobenen und verschachtelten Lagerhallen, Schreibstuben, Kellern und Kühlhäusern gelandet. Alles, was ich davon mitbekomme, sind vage Eindrücke von fleckigen Fußböden, zerschrammten Containern und verrottenden Büromöbeln, Stapel feuchter Zeitungen, nackte Wasserleitungen, aus denen übel riechende Flüssigkeit tropft, ein allgegenwärtiger Gestank nach Moder und totem Fisch, dazu das ständige Kratzen und Tippeln winziger Rattenkrallen auf nacktem Beton. Die Details rauschen an mir vorbei wie ein Video im Schnellvorlauf. Mein Kopf fühlt sich an, als hätte jemand muffige Baumwolle hineingestopft, vielfarbige Schmerzen verbeißen sich in meinem Bewusstsein, ich bin völlig unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
Dass ich gestolpert bin, merke ich erst, als eine Hand mich an der Schulter packt und im letzten Moment davor bewahrt, der Länge nach auf die Nase zu fallen. Zumindest haben wir angehalten. Eine kleine, erholsame Pause im Schnellvorlauf.
»Alles okay? Wie fühlst du dich?« Besorgnis in Nicos Stimme, in ihren Augen.
»Hungrig …« Der Durst wühlt in meinen Eingeweiden. Nico hat es erklärt. Meinte, das gehöre dazu – das erste Mal sei immer am schlimmsten. Gut zu wissen. Viel schlimmer ist auch kaum vorstellbar. »Und verwirrt. Irgendwie … sehe ich dich zweimal.«
In der Tat kann ich Nicos Präsenz direkt hinter meiner Stirn spüren – eine unmissverständliche Repräsentation von ihr, klar und scharf wie ein Eiszapfen.
»Das ist die Telepathie. Du gewöhnst dich daran.«
»Vampire sind Telepathen?«
»Nicht alle. Nur eine Spezialität unserer Blutlinie – ein Familienerbstück, wenn du so willst.«
»Warte!« Der Schwindel in meinem Kopf wird unerträglich. Ich wollte mich nicht einmal hinsetzen, irgendwie hat mein Körper völlig ohne mein Zutun den Weg nach unten gefunden.
»Okay, vielleicht brauchst du eine Pause. Die Verwandlung kann einen ganz schön umhauen.«
Ich spüre Nico unentwegt in meinem Kopf, regelrecht lästig, als hätte man mir einen Pfahl aus kühlem Silber quer durch den Verstand gerammt. Im Augenblick bekommt der Pfahl eine warme rötliche Tönung. Sie ist besorgt um mich, aber da ist auch noch was anderes: Eine bohrende, nur schwer gezügelt Unruhe – sie möchte so schnell wie möglich fort von hier.
Sie gibt mir eine Minute, dann packt sie mich mit eisernem Griff am Handgelenk und zieht mich mühelos auf die Füße. Ich mache ein oder zwei Schritte und laufe beinahe vor die nächste Wand. Meine Augen haben noch immer eine fatale Tendenz, in verschiedene Richtungen schauen zu wollen.
»Verdammt, ich kann immer noch nicht richtig sehen.«
»Die Telepathie überlagert deine Wahrnehmung«, erklärt Nico, »dauert eine kleine Weile, bis man scharf stellen kann.«
»Schätze, ich hab wohl noch eine Menge zu lernen.«
»Keine Sorge – dein Blut weiß, wo's langgeht. Folge ihm einfach.«
»Netter Ratschlag … wieviele Jahrhunderte hattest du gleich nochmal zum üben?«
Irgendwo jenseits von Nico kann ich andere Präsenzen spüren, einige grau und kühl, wie Nebelfetzen, und ein paar andere in einer Art scharfem Dunkelrot. Etwas in mir, ein Instinkt oder was auch immer, fühlt sich von ihnen magnetisch angezogen. Ein Ziehen in meiner Magengrube vermittelt mir ein seltsames Bedürfnis, die roten Schemen zu packen und über sie herzufallen.
»Da sind andere. Weiter weg. Sie wirken irgendwie vertraut.«
»Arturo und Lukazs. Sie sind Familie.«
»Und die roten Flecken? Sie machen mich irgendwie … nervös.«
Jetzt dreht sie sich zu mir um. Ein schwer zu deutender Ausdruck liegt auf ihrem Gesicht. Schmerz? »Menschen«, flüstert sie. »Frisches Blut.«
Ein kurzes, unangenehmes Schweigen. Ihr Blick spricht Bände. Offenbar ist das ein Thema, das sie liebend gerne später diskutieren möchte. Trotzdem gibt es Fragen, die nicht warten können: »Der Durst … werde ich sie töten müssen?«
Nicos Miene wird grimmig: »Eigentlich ist es uns verboten, Menschen zu töten, selbst wenn wir von ihnen trinken. Aber dass diese Menschen hier sind, bedeutet, dass sie für Maximilian arbeiten, insofern tun wir der Welt wahrscheinlich einen Gefallen, wenn wir sie allesamt einfach leertrinken und die Reste im Hof verscharren.«
Ich kann trotz der scheinbaren Unberührtheit ihrer Worte etwas Düsteres, Trauriges in ihrem Blick erkennen. Über die Desorientierung und den reißenden Blutdurst, der in meinen Eingeweiden brodelt, hinweg erinnere ich mich an ihre Worte: »… das an dir zu zerstören, das ich am meisten liebe.«
»Lass uns später darüber reden, okay?« sagt sie, als hätte sie genau erahnt, was ich gerade sagen will. Dann ruckt plötzlich ihr Kopf zur Seite und sie wirkt, als lausche sie einem für mich nicht hörbaren Geräusch. »Turoch-Leute. Scheint so, als hätten sie uns endlich bemerkt.«
»Ich glaube, ich spüre sie. Einer davon fühlt sich irgendwie … schleimig an. Ist das Maximilian?«
Nico grinst: »Treffer. Ich denke, allmählich hast du den Bogen raus.«
»Warte, da ist noch etwas …«
Im selben Moment trifft es mich wie ein Faustschlag: Wie aus dem Nichts taucht eine weitere Präsenz auf, springt förmlich in mein Bewusstsein. Eine diffuse, grellrote Wolke aus geballter Blutgier und Aggression. Sie hat absolut nichts Menschliches an sich, wirkt schlicht und bösartig wie eine Gewehrkugel. Doch noch bevor ich mich näher damit befassen kann, ist sie schon wieder verschwunden. Scheiß drauf, ob ich atmen muss oder nicht – ich schnappe nach Luft und gerate für einen Moment ins Taumeln. Als ich mich wieder halbwegs gefangen habe, verrät mir ein Blick in Nicos Gesicht, dass sie davon genauso überrascht ist. Sie taumelt zwar nicht, aber ihre Augen sind weit aufgerissen und ein starrer Zug des Entsetzens hat sich in ihre Miene eingegraben.
»Was zum Teufel war denn das?«
Nico schweigt. Das ist kein gutes Zeichen.
»Nico?«
»Wir sollten besser verschwinden.«
Wir kommen nur ein paar Schritte weit, dann ist die Präsenz wieder da, diesmal noch stärker, näher, füllt für einen Moment mein ganzes Bewusstsein wie eine Springflut aus Blut und Gewalt … und dann noch etwas anderes. Eine Art Schrei, nur dass ich ihn nicht mit den Ohren höre sondern direkt in meinem Kopf. Wie eine Klinge, die durch die Gedanken schneidet. Entsetzen, Schmerz – und dann plötzlich Stille. Nico ist mit einem Mal bleich und wie unter Schock.
»Lukasz«, flüstert sie. »Er ist tot.«
Noch bevor ich eine Frage stellen kann, taucht eine dunkle Gestalt am Ende des Überganges auf, auf dem wir uns gerade befinden. Ihre Präsenz hinter meiner Stirn ist grau und kühl: Ein Freund. Arturo.
Ein paar Sekunden später ist er bei uns, auch er wirkt erschöpft und zutiefst entsetzt. Er sieht mich kurz überrascht an, ein fragender Blick zu Nico, ihre Antwort ein Nicken und eine kaum merkliche »Erklär ich dir später«-Geste. Das scheint ihm zu genügen. Er nickt mir knapp zu: »Willkommen in der Familie.« Dann wendet er sich an Nico: »Es hat Lukasz getötet … ich bin nur knapp davongekommen. Ich hab sowas noch nie gesehen … hast du … habt ihr es gespürt?«
Nico nickt. »Ja. Was zur Hölle war das?«
»Ich weiß es nicht genau. Ich dachte, du hättest vielleicht eine Ahnung. Du warst schon immer die Bessere im Präsenzenlesen.«
Nico senkt den Blick, man kann förmlich sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitet. »Das war nichts Reines«, sagt sie schließlich, »da war alles mögliche drin: Mensch, Vampir, Werwolf …«
Arturo zieht bei dem letzten Wort scharf die Luft ein. »Ein Hybrid?«
»Ein ziemlich gefährlicher. Das war also Maximilians großes Projekt.«
Arturo spuckt auf den Boden. »Miese kleine Blutratte. Sowas kann sich wirklich nur ein Turoch ausdenken.«
Nico schüttelt unmerklich den Kopf. »Das ist nicht mal das schlimmste. Du hast es auch gemerkt, oder?«
Arturo nickt. »Ja. Sein Abbild war plötzlich verschwunden. Kurz bevor es Lukasz angriff.«
Nicos Mundwinkel verziehen sich, ihr Unbehagen hat ein Ausmaß erreicht, das ich bei ihr noch nie erlebt habe. »Offenbar kann es sich vor Telepathen verbergen.«
»Du weißt, was das heißt.«
»Allerdings: Eine Waffe. Eine gegen telepathisch begabte Vampire.«
Die beiden schweigen einen Moment, doch die Konsequenzen leuchten selbst mir unmittelbar ein: »Also eine Art inoffizielle Kriegserklärung.«
Beide sehen mich einen winzigen Moment überrascht an, dann nickt Arturo anerkennend: »Ja.« Und Nico fügt hinzu: »Offenbar ist das hier die eigentliche Falle: Ein Testlauf für seinen Prototypen. Wie es aussieht, haben die Turochs sehr viel mehr vor, als wir dachten.« Sie ist längst wieder abgekühlt, ihr Verstand arbeitet auf Hochtouren. »Arturo, wir müssen dieses Ding finden, unschädlich machen und die Überreste mitnehmen. Je mehr wir darüber in Erfahrung bringen können, desto besser.«
Arturo nickt und zieht sein Handy aus der Tasche »Ich werde Leon Bescheid geben. Wir brauchen unbedingt noch ein paar Leute hier.« Dann sieht er kurz zu mir rüber. »Was ist mit ihm?«
Nico betrachtet mich einen Augenblick, dann sagt sie zu mir: »Ich glaube, du wartest besser hier. Du siehst so aus, als müsstest du dich erst noch ein wenig erholen. Wir sind so schnell wie möglich zurück. Leg dich am besten mit niemandem an, wenn's geht.« Beim letzten Satz zwinkert sie mir zu, aber es sorgt nicht unbedingt dafür, dass ich mich besser fühle.
Mit einem Mal blitzt etwas auf – Nicos sichelförmige Klinge, blanker, bläuchlich schimmernder Stahl, der einen leuchtenden Halbmond in die Dunkelheit schneidet. »Bis gleich!« sagt sie noch, dann sind sie und Arturo in dem Labyrinth aus Übergängen, Treppen und Gängen verschwunden.
Ich setze mich einfach hin, an das rostige Geländer gelehnt, und versuche innerlich ein wenig zur Ruhe zu kommen, was mir nur schlecht gelingt. Der Durst brennt, meine Muskeln zittern, alles in mir steht unter Hochspannung, versucht sich an die neue Situation zu gewöhnen, während meine Gedanken vor sich hin rasen.
Wie konnte das alles nur passieren? Vor zwei Monaten war ich noch ein ganz gewöhnlicher abgewrackter Ex-Bulle und Kellner in einem Schnellrestaurant. Und jetzt bin ich … was eigentlich? Ein simpler Gruselfilm-Blutsauger? Dunkler Prinz? Nachaktives Raubtier mit Interesse für gute Musik uind Wodka Tonic? Das ist doch alles vollkommen verrückt!
Plötzlich höre ich das Geräusch. Unter mir, am Ende der Halle, hat sich etwas bewegt, kommt mit vorsichtigen Schritten auf die Treppe zu, die direkt zu dem Übergang hinauf führt. Eine Sekunde später höre ich auch aus der entgegengesetzten Richtung leise Schritte. Unglaublich, wie empfindlich mein Gehör plötzlich ist. Die Typen laufen nicht einfach, sie schleichen, und das ziemlich gut. Dennoch höre ich ihre Schritte wie durch ein Richtmikrofon. Aber selbst ohne die Geräusche könnten sie sich nicht verstecken, denn zeitgleich sind am Rande meines Bewusstseins ihre Präsenzen aufgetaucht, dunkelrot und warm – Menschen.
Blut!
Der erste ist bereits auf der Treppe, der andere bewegt sich unten am Boden von mir weg durch das Gewirr aus Frachtkisten. Offenbar haben sie den Auftrag, das Gebäude zu durchsuchen.
Mein Verstand verspürt den Wunsch, mich einfach zu verstecken und zu warten, bis sie weg sind. Aber selbst, wenn das ginge – da ist eine andere, sehr viel lautere Stimme in mir, die nur eins sagt: Da ist Blut! Hol es dir!
Ich bin zwar recht zittrig, aber der Durst bringt mich auf die Beine. Geduckt bewege ich mich auf die Präsenz an der Treppe zu, versuche so lautlos wie möglich über die wackelige Metallkonstruktion zu huschen. Mir wird klar, dass ich nur zum Teil Kontrolle darüber habe, was ich tue. Was ist das? Jagdinstinkt? Ich erinnere mich an Nicos Worte: »Dein Blut weiß, wo's langgeht. Folge ihm einfach.«
Ich kann mein Opfer jetzt sehen, die Andeutung eines Kopfes, der soeben am Rand der Treppe erscheint. Ich ducke mich noch tiefer, tauche in die Schatten ein, die zwischen den trüben Lichtflecken der verschmutzen Neonleuchten dümpeln wie große Seen aus schwarzer Tinte. Etwas in mir weiß, dass es besser ist, den Überraschungseffekt zu nutzen, solange ich nicht voll bei Kräften bin, und bringt mich dazu, mich in einem besonders tiefen Schatten ans Geländer zu drücken und auf die Lauer zu legen. Das ist unheimlich. Ich komme mir vor wie ein Jagdflugzeug auf Autopilot.
Der Kerl ist jetzt auf dem Übergang – ein kräftig gebauter Mann in Tarnkleidung, bewaffnet mit einem schmalen Automatik-Gewehr mit Zielfernrohr. Offenbar beschäftigen die Turochs nicht gerade Kneipenschläger als Leute fürs Grobe.
Mir wird erst jetzt bewusst, dass er wahrscheinlich sehr viel weniger sehen kann als ich. Was für mich ein schimmerndes Muster aus Licht und hellgrauen Schatten ist, dürfte für ihn nicht mehr sein als tintige Finsternis mit ein paar etwas weniger dunklen Ecken, dort, wo das Licht der Neonröhren hinsickert.
Er kommt näher, noch ein paar Meter, meine Muskeln spannen sich, mein ganzer Körper vibriert vor Aufregung, nur mühsam kann ich ein Knurren unterdrücken. Alles in mir ist bereit für den Sprung, ich kann ihn jetzt deutlich riechen, seine Körperwärme spüren wie eine Aura, die ihm vorauseilt, fast glaube ich das Wummern seines Pulsschlags zu hören, der Durst brennt …
Ein Sprung, ich fühle vage, wie ich den schweren Körper meines Gegners zu Boden reiße, seine Bewegungen wirken träge, wie in Zeitlupe … wie schnell bewege ich mich gerade? Die folgenden Momente sind ein Rausch, ich spüre heißes Blut auf meiner Zunge, und von da an: Blackout.
Der nächste bewusste Eindruck: Ich knie über einem toten Körper, seine Präsenz ist erloschen, und in mir pulsiert das Feuer von tausend Sonnen. Das frische Blut heizt das alte Blut an, das in mir schlummert, Nicos Blut, das Blut der diTredis, alt wie die Welt, weise und hungrig, und es erwacht endgültig zum Leben und fließt durch meinen Körper und meine Seele wie flüssiger Stahl, brennt alles fort, was schwach und sterblich ist und lässt nichts zurück außer Stärke und Gewissheit. Ich kann mich beinahe selber sehen, wie ich dort knie, leuchtend in der Dunkelheit einer Nacht, in der ich das einzige bin, vor dem ich mich fürchten muss. Eine Flutwelle von Erkenntnis spült durch meinen Geist, Erinnerungen sämtlicher diTredis, bis zurück zum Ursprung der Blutlinie, füllen meinen Kopf, alles in mir ist hellwach und wird es von nun an für immer bleiben. Ich spüre jede einzelne Zelle meines Körpers, unglaubliche Kraft in jedem Muskel. Meine Sinne, mein Körpergefühl – alles ist neu und um das Tausendfache verstärkt. Ich fühle mich, als hätte man mir eine dicke Kapuze vom Kopf gezogen und plötzlich stehe ich in einer Welt aus blendender Helligkeit, Formen, Gerüchen, Geräuschen und völlig neuen Eindrücken, Präsenzen, die weit weg sind, alles im Umkreis von hunderten von Metern ist da, in meinem Kopf, scharf und hell, Menschen, Vampire … da ist Nico!
Sie ist irgendwo ein paar hundert Meter westlich von mir. Und sie ist nicht allein! Da ist der grellrote Schatten, ganz in ihrer Nähe, und er bewegt sich auf sie zu. Sie ist ohne Rückendeckung, von Arturo getrennt, der weit weg ist, umgeben von fahlen Turoch-Präsenzen und offenbar ziemlich in Schwierigkeiten. Mir ist sofort klar, dass das nicht gut ist. Gar nicht gut! Nico sollte es auf keinen Fall alleine mit diesem Gegner aufnehmen. Sie kann die Kreatur zwar genauso spüren, wie ich jetzt, aber ich weiß inzwischen nur zu gut, dass ihr das nicht viel nutzt. Das Biest kann sich jeden Moment vor ihr verbergen, und dann …
Mein Geist schreit auf, brüllt ihren Namen, aber ich weiß, dass sie mich nicht wirklich hören kann. Mein Blut kocht, treibt mich an, bringt mich auf die Füße und trägt mich automatisch in ihre Richtung, lautlos wie ein Schatten, in unfassbarer Geschwindigkeit, zu schnell für den zweiten Handlanger, der mich nur noch als Schemen sieht, bevor meine neu erwachten Kräfte ihm praktisch im Vorbeigehen das Genick brechen.
Verdammt! Der rote Schatten ist soeben vom Radar verschwunden – ich muss mich beeilen!

***​

Solange noch ein Funke in mir brennt, werde ich diese Momente nie wieder vergessen. Mein Sprint durch leuchtende Finsternis, Türen, die aus den Angeln reißen, als ich sie aufstoße, dahinter ein, zwei überrumpelte Turochs, die kaum Gelegenheit haben, verblüfft zu sein, bevor ich geradewegs durch sie hindurch stürme, wie von Sinnen Knochen breche und Kehlen mit den Fingern zerfetze, dann komme ich in eine weitere Halle voller Gerümpel, spüre Nico ganz in der Nähe, rieche den Hybriden, seinen Gestank nach Blut, Tier und Gewalt.
Dann sehe ich Nico, wie sie angespannt in die Finsternis starrt, um die Kreatur zu suchen, deren Witterung sie zweifellos längst aufgenommen hat. Und da ist das Biest, ein flüchtiges Glimmen roter Augen in der Dunkelheit zwischen Kisten und Maschinenteilen. Sie sieht ihn leider nicht, er ist seitlich und hinter ihr, sie muss sich auf ihr Gehör verlassen, weil die Präsenz des Jägers nach wie vor unsichtbar ist.
Und dann tue ich ohne nachzudenken etwas, wofür ich mich für den Rest aller Zeiten verfluchen werde – ich rufe ihr zu: »Nico! Hinter dir!«
Sie reagiert, aber leider falsch. Sie sieht zu mir, statt zu dem Angreifer in ihrem Rücken. Und das lenkt sie für den einen entscheidenden Moment ab. Der Hybrid taucht aus den Schatten empor, blitzschnell, gierig, eine bizarre Ansammlung von Klauen, Zähnen, struppigem Fell und drahtigen Muskeln. Nico hört ihn, riecht ihn, spürt den Luftzug, aber sie sieht dank mir leider in die falsche Richtung, braucht zu lange, um sich umzudrehen. Der Halbmond ihrer Klinge zischt ins Leere, das Raubtier wirft sie um, bevor sie ausweichen kann, gräbt seine mächtigen Krallen tief in ihren Hals und ihren Brustkorb. Und ich bin zu weit weg, zwanzig Meter oder tausend Meilen – es spielt keine Rolle. Zu weit. Und egal wie schnell ich mich bewege, es ist zu langsam. Ich muss hilflos mitansehen, wie die Kreatur mit ein, zwei schnellen, brutalen Bewegungen Nico buchstäblich in Fetzen reißt. Als ich schließlich die beiden erreiche, zerfällt Nico in einer Wolke aus rotglühendem Staub, erst ihr Fleisch, dann ihre Knochen, verzehrt von jenem seltsamen Feuer, das sie bislang über den Tod hinaus am Leben hielt. Ich nehme alles, was dann kommt, nur noch schemenhaft wahr, ein animalisches Geheul, das wohl von mir stammen muss, als ich die letzten Meter mit einem einzigen gewaltigen Satz zurücklege. Meiner unbändigen Wut hat der Hybrid nichts entgegen zu setzen, als ich ihm im Sprung mit bloßen Händen den Kopf vom Rumpf reiße. Er zerfällt nicht, liegt einfach nur da, in einer Lache aus dunklem Blut, eine groteske Puppe aus dreihundert Pfund totem Fleisch.
Zu guter Letzt knie ich auf dem dreckigen Boden vor dem Häufchen aus Staub und Kleidungsstücken – alles, was noch geblieben ist von der Frau, die ich über alles liebe … geliebt habe.
Nico ist fort.
Für immer.

***​

Ich bekomme nicht mehr viel mit von dem, was um mich herum vorgeht – Stimmengewirr, entfernte Schüsse, das unverwechselbare Geräusch von Kampfstiefeln auf Beton, als die Verstärkung der diTredis eintrifft und das Areal unter Kontrolle bringt. Zu spät. Der schlimmste Schaden ist bereits angerichtet.
Eigentlich sollte ich jetzt weinen. Aber offenbar gehört das zu den Dingen, die ich jetzt nicht mehr kann. Vielleicht wollte mich Nico deshalb davor bewahren? Weil sie sich nur zu gut daran erinnerte, was sie einst dabei verlor? Doch es spielt keine Rolle mehr. Es ist nichts im Vergleich zu dem, was ich soeben verloren habe.
Etwa dort, wo ihr Hals war, liegt das kleine Silberkruzifix, halb in ihrer Asche vergraben. Meine Hand braucht eine Million Jahre, um sich dorthin zu bewegen. Es ist noch immer kühl, makellos, wunderschön, genau wie an dem Tag, als ich es zum ersten Mal in der Hand hielt. Und während ich es anstarre, schlägt etwas Großes und Finsteres wie eine gewaltige Welle über mir zusammen: Das Wissen um die Zukunft – eine graue, leere Ansammlung von Tagen, die ich ohne sie verbringen muss. Mich überkommt der übermenschliche Drang, ihr zu folgen, meine Asche mit der ihren zu vermischen, das kleine Silberkreuz als einziges gemeinsames Grabmal …
»Willkommen in der Familie, mein Sohn.« Mein Kopf ruckt unwillkürlich nach oben. Aus dem Dunkel bei der Tür schält sich eine Gestalt. Groß, hager, mit vollem weißem Haar und grauen Augen, die im Dunkeln leuchten. Ein feiner schwarzer Mantel, manikürte Hände, und über allem thront ein Blick, der älter ist als die Welt. Ich habe den Mann nie gesehen, aber etwas in meinem neuen Blut erkennt ihn wieder: Das muss Benedikt sein.
Er sieht kurz auf die Überreste seiner Adoptivtochter, und ich glaube zu erkennen, dass sich in seinem Inneren ein Schmerz zusammenballt, der gewaltiger ist als alles, was ich jemals empfinden könnte. Und nach einem Blick in seine Augen weiß ich, dass er niemals ein Wort darüber verlieren wird. Er wird es tief in sich begraben, so wie ich es begraben werde, zusammen mit dem Rest meiner Seele. Für einen Moment sind wir schweigend vereint in unserer Trauer.
Dann plötzlich wieder seine Stimme, leise und kraftvoll, mit dem Gewicht endloser Jahre in jedem Wort: »Nicolettas Blut war schon immer sehr stark. Und es scheint, als hätte es in dir ein würdiges Gefäß gefunden.« Sein Blick durchdringt mich. Es ist, als könnte er mit diesem einen Blick mein Innerstes nach außen kehren, jeden Winkel meiner Seele erforschen und am Ende besser wissen wer ich bin, als ich selbst. Vielleicht ist es auch so, ich weiß es nicht. Seine Augen nageln mich fest, und seine nächsten Worte legen mir genau jene Last auf, vor der ich mich in diesem Moment am meisten fürchte: »Du solltest ihr Andenken ehren, in dem du so lange wie möglich am Leben bleibst.«
Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Und einen Moment später spielt auch das keine Rolle mehr. Alles, was ich spüre, ist eine bleierne Leere. »Ich … bin gerade gestorben.«
Plötzlich spüre ich eine Hand auf meiner Schulter, jemand legt etwas Kühles in meine Hand, schließt meine Finger darum: Nicos Klinge, ein Halbmond aus Stahl, darin geheimnisvolle Verzierungen wie Fußspuren winziger Spinnen, Buchstaben einer Sprache, an die sich mein Blut ebenfalls erinnert, obwohl ich sie noch nie zuvor gesehen habe. Ein uraltes Erbstück, kalt und tödlich. Und ich spüre, dass es jetzt mir gehört.
Benedikt ist nun ganz nah. Und wie unter Hypnose bringt er mich dazu, den Kopf zu heben und ihn anzusehen. Die ganze Welt besteht nur noch aus seinen Augen, und ich meine, eine seltsame Art von Mitgefühl darin zu erkennen. Dann sagt er: »Nein, mein Sohn! Du hast gerade erst begonnen zu leben.«

 

Guckt nich so ... das war quasi eine "Auftragsarbeit". Die Bestellung war eindeutig, also hatte ich bezüglich Thema und Plot nur bedingt Spielraum ... hoffe, das genügt als doofe Ausrede? Oder soll ich noch ein "Im Zweifelsfall is Kit an allem schuld!" ergänzen? :D

Und vorhin fiel mir dann auf, dass ich sie eigentlich schon längst mal online gestellt haben wollte - was hiermit nachgeholt wäre. Ich war mir nich ganz sicher mit der Rubrik, aber da ich sie nicht als explizit "gruselig" empfinde, hab ich sie jetzt mal nach Fantasy gepackt... denke, das passt schon.

 

Hallo Horni,
doch, ich gucke so. Auftragsarbeit? Pah! Mit dem Thema... Du weißt ja :D
Inhaltlich ist es eine "nette" Umsetzung des guten alten Vampire-The-Masquerade-Stoffes. Die organisierten Vampire, die haufenweise Regeln befolgen, die bösen Sabbat-Spinner, die die Weltherrschaft wiederhaben wollen, dazwischen Blutlinien und die uralte Thematik des Vampirs, der das, was er liebt, vernichtet - interessanterweise hier bei dir in einer Art von Double-Bind-Situation, denn immerhin trifft es sie beide.
Mal ehrlich. Was soll ich dazu sagen? Ich habe dir, glaube ich, außer Kritik am anämischen Plot, nicht viel zu sagen. Dein Protagonist erscheint mir etwas zu lyrisch. Wirkt so ein bisschen wie diese Leute aus Sin City, und da fand ich es schon albern. Ich denke, weniger ist manchmal mehr... oder? Wenn es dir gefällt, ist es wahrscheinlich okay, aber mir ist etwas zu viel Melodramatik drin.
Sprachlich ist der Text echt gut. Rechtschreibfehler sind mir so gut wie keine aufgefallen. Aber der Plot. Gähn. Wahrscheinlich muss man ein Liebhaber sein für sowas... :D

gruß
vita
:bounce:

 

Moin, vita!

Hehe, das war ja noch glimpflicher, als ich befürchtet hatte. :D

Die Bestellung lautete halt "Ich will was mit Vampiren und Romantik..." Und ich hatte gerade ein paar Nächte "Bloodlines" gezockt und brauchte schnell ne Story... letzten Endes ist es wohl eher eine Übung in "Ich schreib das verdammte Ding fertig, egal wie sehr ich festhänge..." geworden als alles andere, und so lange man sie so einigermaßen weglesen kann und das Ganze stilistisch soweit noch ok geht, bin ich erstmal zufrieden. :Pfeif:

Was den Tonfall des Prot angeht, hast du wahrscheinlich recht - dummerweise hab ich das Dingsbums am Ende dann in losen Abständen über mehr als ein Jahr hinweg zusammengestückelt, deshalb gibt es da mit Sicherheit Inkonsistenzen und allzu "blumige" Passagen, weil ich an manchen Stellen einfach nich mehr so in den alten Flow reinkam, dann aber irgendwie fertig werden musste. Sollte ich das Ding jemals noch mal gründlich überarbeiten, wäre das mit Sicherheit einer der Hauptpunkte, wo ich nochmal ran müsste...

Aber auf jeden Fall schon mal thanx fürs Feedback - nörgeln macht doch immer wieder Spaß, gell? :D

Gruß,
Horni

 

Hallo Horni,

ja, was soll ich sagen?

Es hat einen Vorteil, wenn man kein Fantasy-Leser ist: Die meisten Sachen kommen einem sehr neu vor. Mit Vampiren kenne ich mich allerdings ein bisschen aus und das führt mich zum einzig echten Kritikpunkt, den ich wirklich habe - ein bisschen hätte ich mir gewünscht, dass du mit den gängigen Vampirklischees brichst und ein paar neue Aspekte betonst.

Gefallen hat es mir trotzdem, ehrlich. Du erzählst sehr spannend und so, dass man einfach immer weiterlesen muss. Es gibt hier ein paar Leute, die das können und du zählst eindeutig dazu.

Der Tonfall des Prot hat mich übrigens gar nicht gestört - vielmehr halte ich seine "lyrischen Anwandlungen" für einen Teil seines Wesens. Er wäre nicht der gleiche, wenn er anders sprechen würde.

Zwei Kleinigkeiten:

Ihre Miene ist mit einem Mal todernst, ihr Kopf bewegt sich von links nach rechts, während ihre Augen blitzschnell die Schatten um uns herum absuchen. Meine eigenen Instinkte registrieren all das und wittern Gefahr.

Hier fällst du, meines Erachtens, ein bisschen aus der Erzählperspektive, d.h. diese Wahrnehmungen sind mir zu detailliert, als dass dein Prot. sie einfach so feststehen konnten.

Nachaktives Raubtier mit Interesse für gute Musik uind Wodka Tonic?

Ein Minifehler.

Lieben Gruß, Bella

 

Großen Respekt für die Geschichte. Konsequent durchgezogene Handlung, hätte sich mehr Komm's verdient. however... gefällt mir sehr, sorry für den f***-nutzlosen kommentar, aber . . . lg

 

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