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Bonn, meine zweite Heimat
Meine zweite Heimat
Bonn war meine zweite Heimat geworden, nachdem ich zum Studium aus meiner kleinen Heimatstadt in der norddeutschen Provinz geflüchtet war. In meiner Heimatstadt, oder eher Geburtsstadt, war ich stets der Außenseiter gewesen, hatte so gut wie keine Freunde und mochte mich, anders als die Einheimischen, nicht gerne auf Schützenfesten oder Dorfdiskos herumtreiben. In Bonn war jedem, den ich kennenlernte, meine Vergangenheit egal. Was zählte, waren der Moment, das Studium, die Feiern, die gemütlichen Videoabende oder die geselligen Zusammenkünfte abends im Stadtpark.
Fünf Jahre, nachdem ich nach Bonn gezogen war, hatte ich mir einen großen Freundeskreis aufgebaut – zum ersten Mal in meinem Leben. Ich brauchte nur einmal in die Innenstadt oder durch mein Viertel zu gehen und traf immer jemanden, den ich kannte und der Lust auf einen Small-Talk hatte. Dabei ist Bonn keine kleine Stadt, müsst ihr wissen. Hier jemanden zu treffen, den man kennt, ist nicht selbstverständlich. Bestimmt jeden zweiten Abend bekam ich Einladungen zu einem Treffen in der Kneipe oder zu einer privaten Party. In Bonn war ich nie allein und hier fühlte ich mich wohl. Ich kannte die Ladenbesitzer in meiner Umgebung und ging selten ohne einen gemütlichen Plausch oder einen kleinen Rabatt aus dem Laden heraus. So kam es, dass ich auch in Bonn blieb, als mein Studium zuende war. Ich suchte mir hier eine Arbeit, die ich zu Hause erledigen konnte. Wie viel Geld ich dabei verdiente, war mir egal. Hauptsache, es reichte, um die Miete und die kleinen Vergnügen des Lebens zu bezahlen. Mehr brauchte ich nicht.
„Verleugne nie deine Heimat“, hatte meine Mutter mir gesagt. „Du wirst dich eines Tages dorthin zurücksehnen, wenn alles andere zerbricht.“ Vielleicht hatte sie recht, aber wo war denn meine Heimat? Das kleine Provinznest, in dem man mich hänselte und auslachte, selbst noch kurz vor dem Abitur, und wo man mich nie wirklich akzeptierte? Oder war nicht vielmehr Bonn meine wirkliche Heimat geworden, dort, wo ich alle Freunde hatte und man mich so akzeptierte, wie ich war? Heimat ist doch dort, wo man sich wohlfühlt.
Mit Andrea, meiner besten Freundin, ging ich eines Abends über den Weihnachtsmarkt. Wir trafen uns am Glühweinstand und unterhielten uns wie immer lebhaft. Über das Neueste aus unserer Arbeit, über unsere Vorstellung vom Leben und über unsere jeweiligen Beziehungsprobleme. Davon gab es genug und es war schön, denn so hatten wir uns mehr zu erzählen. Nach dem dritten Glühwein hakte sich Andrea bei mir ein und wir gingen über den Weihnachtsmarkt, um nach Geschenken und einer Kneipe zu suchen, wo es noch ein wenig Platz für uns gab. Wir probierten Weihnachtsessen an den Ständen, begutachteten, ob die angebotenen Kerzen auch als Geschenke taugten und lachten über die ersten Betrunkenen, die lallend und torkelnd von ihren Freunden gestützt werden mussten.
Wir bogen gerade in eine Seitenstraße ein, als wir eine Gruppe entfernter Freunde auf einem Mauervorsprung sitzen saßen. Einige von ihnen waren Freunde von Freunden, mit denen ich samstags manchmal die Fußballkonferenz in unserer Stammkneipe guckte. Kerstin, die Freundin eines meiner besten Freunde, war auch dabei. Andrea kannte niemanden aus der Gruppe, aber ich bat sie zu warten, damit ich ihnen kurz hallo sagen konnte.
Die Gruppe schien auf weitere Freunde zu warten. Einer sah mich von weitem kommen und lachte kurz auf. Ich gab ihm die Hand. Ein weiterer Bekannter nickte mir zu, zwei andere waren so in ein Gespräch vertieft, dass sie mich nicht bemerkten. Als Kerstin mich kommen sah, sah sie mich kurz an, schaute dann sofort wieder weg und sagte: „Ah, da kommt ja noch einer.“ Aber ich entgegnete: „Nein, ich bin nur zufällig hier. Und ihr geht zusammen über den Weihnachtsmarkt?“ Aber niemand hörte mir zu; auch Kerstin sagte nichts. Niemand verlor danach ein Wort. Also beschloss ich, die Gruppe alleinzulassen und verabschiedete mich, aber niemand grüßte zurück. Alle waren in ein Gespräch vertieft oder standen Gedanken verloren herum. „Na, die haben sich ja gefreut, dich zu sehen!“, sagte Andrea im Scherz, als ich höchstens eine halbe Minute später zu ihr zurückkehrte. Ich lachte mit und entschuldigte meine Bekannten: „Denen ist wohl eine Laus über die Leber gelaufen. Bestimmt der Weihnachtsstress.“
Wir gingen noch eine Weile Arm in Arm über den Markt, als uns zwei Leute aus der Gruppe entgegen kamen. Ich lächelte ihnen zu, doch sie beachteten mich gar nicht.
Nur wenig später saßen Andrea und ich in einer belebten Kneipe im Kellerraum, tranken einige Bier, kicherten und lachten wie die kleinen Kinder und unterhielten uns weiter über Gott und die Welt. Kurz vor Mitternacht torkelten wir zur Straßenbahn, wo ich Andrea mit einer langen Umarmung verabschiedete. Für einen platten Mittwoch war es ein schöner Abend mit ihr gewesen.
Als ich am nächsten Morgen leicht verkartert aufwachte, dachte ich an den Abend zurück. Dachte ich an Andrea, freute ich mich. Aber die seltsam kalte Begegnung mit meinen Bekannten ging mir nicht mehr aus dem Kopf? Was war da bloß losgewesen? Waren sie körperlich am Ende, weil sie schon vorher drei Stunden lang Geschenke kaufen mussten? Hatten sie sich über etwas gestritten? Oder hatte sie etwa meine Anwesenheit gestört? Als ich auf sie zugegangen war und hallo sagte, kam ich mir wie ein Eindringling vor. Ich hatte sie nicht bei etwas gestört, da war ich mir sicher. Sie standen doch nur da und unterhielten sich. Ich kam nicht umhin zu denken, dass es an mir gelegen haben musste. Irgend etwas hatte sie an meiner Anwesenheit gestört. Aber war es einfach nur der falsche Moment gewesen oder waren sie einfach generell nicht an meiner Anwesenheit interessiert?
Die Wochen nach Weihnachten vergingen langsam. Freunde meldeten sich nur noch alle zwei Tage, und wenn ich einen Bekannten in der Stadt traf, war es meist nicht mehr als ein kurzer Small-Talk. Andrea verabschiedete sich im Frühling. Sie zog zurück zu ihrer Familie nach Nürnberg. Mein Mitbewohner und bester Freund zog aus, um mit seiner Freundin zusammenzuwohnen. Ich suchte mir einen neuen Mitbewohner, mit dem ich mich nach seinem Einzug nicht ganz so gut verstand; aber wir kamen zurecht. Ich besuchte meine Eltern öfter, auch wenn ich mich in dem kleinen Provinznest, in das ich geboren wurde, noch immer nicht gut zurechtfand. Aber auch Bonn hatte für mich seinen Reiz verloren. Es waren immer die gleichen Straßen, die gleichen Gesichter in den Geschäften, die gleichen Gespräche mit den Menschen in meinem Viertel. Noch im Sommer packte ich meine Sachen und zog nach Berlin. In Bonn hielt mich gar nichts mehr.