Was ist neu

Bonn, meine zweite Heimat

Mitglied
Beitritt
22.12.2004
Beiträge
53
Zuletzt bearbeitet:

Bonn, meine zweite Heimat

Meine zweite Heimat

Bonn war meine zweite Heimat geworden, nachdem ich zum Studium aus meiner kleinen Heimatstadt in der norddeutschen Provinz geflüchtet war. In meiner Heimatstadt, oder eher Geburtsstadt, war ich stets der Außenseiter gewesen, hatte so gut wie keine Freunde und mochte mich, anders als die Einheimischen, nicht gerne auf Schützenfesten oder Dorfdiskos herumtreiben. In Bonn war jedem, den ich kennenlernte, meine Vergangenheit egal. Was zählte, waren der Moment, das Studium, die Feiern, die gemütlichen Videoabende oder die geselligen Zusammenkünfte abends im Stadtpark.

Fünf Jahre, nachdem ich nach Bonn gezogen war, hatte ich mir einen großen Freundeskreis aufgebaut – zum ersten Mal in meinem Leben. Ich brauchte nur einmal in die Innenstadt oder durch mein Viertel zu gehen und traf immer jemanden, den ich kannte und der Lust auf einen Small-Talk hatte. Dabei ist Bonn keine kleine Stadt, müsst ihr wissen. Hier jemanden zu treffen, den man kennt, ist nicht selbstverständlich. Bestimmt jeden zweiten Abend bekam ich Einladungen zu einem Treffen in der Kneipe oder zu einer privaten Party. In Bonn war ich nie allein und hier fühlte ich mich wohl. Ich kannte die Ladenbesitzer in meiner Umgebung und ging selten ohne einen gemütlichen Plausch oder einen kleinen Rabatt aus dem Laden heraus. So kam es, dass ich auch in Bonn blieb, als mein Studium zuende war. Ich suchte mir hier eine Arbeit, die ich zu Hause erledigen konnte. Wie viel Geld ich dabei verdiente, war mir egal. Hauptsache, es reichte, um die Miete und die kleinen Vergnügen des Lebens zu bezahlen. Mehr brauchte ich nicht.

„Verleugne nie deine Heimat“, hatte meine Mutter mir gesagt. „Du wirst dich eines Tages dorthin zurücksehnen, wenn alles andere zerbricht.“ Vielleicht hatte sie recht, aber wo war denn meine Heimat? Das kleine Provinznest, in dem man mich hänselte und auslachte, selbst noch kurz vor dem Abitur, und wo man mich nie wirklich akzeptierte? Oder war nicht vielmehr Bonn meine wirkliche Heimat geworden, dort, wo ich alle Freunde hatte und man mich so akzeptierte, wie ich war? Heimat ist doch dort, wo man sich wohlfühlt.

Mit Andrea, meiner besten Freundin, ging ich eines Abends über den Weihnachtsmarkt. Wir trafen uns am Glühweinstand und unterhielten uns wie immer lebhaft. Über das Neueste aus unserer Arbeit, über unsere Vorstellung vom Leben und über unsere jeweiligen Beziehungsprobleme. Davon gab es genug und es war schön, denn so hatten wir uns mehr zu erzählen. Nach dem dritten Glühwein hakte sich Andrea bei mir ein und wir gingen über den Weihnachtsmarkt, um nach Geschenken und einer Kneipe zu suchen, wo es noch ein wenig Platz für uns gab. Wir probierten Weihnachtsessen an den Ständen, begutachteten, ob die angebotenen Kerzen auch als Geschenke taugten und lachten über die ersten Betrunkenen, die lallend und torkelnd von ihren Freunden gestützt werden mussten.

Wir bogen gerade in eine Seitenstraße ein, als wir eine Gruppe entfernter Freunde auf einem Mauervorsprung sitzen saßen. Einige von ihnen waren Freunde von Freunden, mit denen ich samstags manchmal die Fußballkonferenz in unserer Stammkneipe guckte. Kerstin, die Freundin eines meiner besten Freunde, war auch dabei. Andrea kannte niemanden aus der Gruppe, aber ich bat sie zu warten, damit ich ihnen kurz hallo sagen konnte.

Die Gruppe schien auf weitere Freunde zu warten. Einer sah mich von weitem kommen und lachte kurz auf. Ich gab ihm die Hand. Ein weiterer Bekannter nickte mir zu, zwei andere waren so in ein Gespräch vertieft, dass sie mich nicht bemerkten. Als Kerstin mich kommen sah, sah sie mich kurz an, schaute dann sofort wieder weg und sagte: „Ah, da kommt ja noch einer.“ Aber ich entgegnete: „Nein, ich bin nur zufällig hier. Und ihr geht zusammen über den Weihnachtsmarkt?“ Aber niemand hörte mir zu; auch Kerstin sagte nichts. Niemand verlor danach ein Wort. Also beschloss ich, die Gruppe alleinzulassen und verabschiedete mich, aber niemand grüßte zurück. Alle waren in ein Gespräch vertieft oder standen Gedanken verloren herum. „Na, die haben sich ja gefreut, dich zu sehen!“, sagte Andrea im Scherz, als ich höchstens eine halbe Minute später zu ihr zurückkehrte. Ich lachte mit und entschuldigte meine Bekannten: „Denen ist wohl eine Laus über die Leber gelaufen. Bestimmt der Weihnachtsstress.“

Wir gingen noch eine Weile Arm in Arm über den Markt, als uns zwei Leute aus der Gruppe entgegen kamen. Ich lächelte ihnen zu, doch sie beachteten mich gar nicht.

Nur wenig später saßen Andrea und ich in einer belebten Kneipe im Kellerraum, tranken einige Bier, kicherten und lachten wie die kleinen Kinder und unterhielten uns weiter über Gott und die Welt. Kurz vor Mitternacht torkelten wir zur Straßenbahn, wo ich Andrea mit einer langen Umarmung verabschiedete. Für einen platten Mittwoch war es ein schöner Abend mit ihr gewesen.

Als ich am nächsten Morgen leicht verkartert aufwachte, dachte ich an den Abend zurück. Dachte ich an Andrea, freute ich mich. Aber die seltsam kalte Begegnung mit meinen Bekannten ging mir nicht mehr aus dem Kopf? Was war da bloß losgewesen? Waren sie körperlich am Ende, weil sie schon vorher drei Stunden lang Geschenke kaufen mussten? Hatten sie sich über etwas gestritten? Oder hatte sie etwa meine Anwesenheit gestört? Als ich auf sie zugegangen war und hallo sagte, kam ich mir wie ein Eindringling vor. Ich hatte sie nicht bei etwas gestört, da war ich mir sicher. Sie standen doch nur da und unterhielten sich. Ich kam nicht umhin zu denken, dass es an mir gelegen haben musste. Irgend etwas hatte sie an meiner Anwesenheit gestört. Aber war es einfach nur der falsche Moment gewesen oder waren sie einfach generell nicht an meiner Anwesenheit interessiert?

Die Wochen nach Weihnachten vergingen langsam. Freunde meldeten sich nur noch alle zwei Tage, und wenn ich einen Bekannten in der Stadt traf, war es meist nicht mehr als ein kurzer Small-Talk. Andrea verabschiedete sich im Frühling. Sie zog zurück zu ihrer Familie nach Nürnberg. Mein Mitbewohner und bester Freund zog aus, um mit seiner Freundin zusammenzuwohnen. Ich suchte mir einen neuen Mitbewohner, mit dem ich mich nach seinem Einzug nicht ganz so gut verstand; aber wir kamen zurecht. Ich besuchte meine Eltern öfter, auch wenn ich mich in dem kleinen Provinznest, in das ich geboren wurde, noch immer nicht gut zurechtfand. Aber auch Bonn hatte für mich seinen Reiz verloren. Es waren immer die gleichen Straßen, die gleichen Gesichter in den Geschäften, die gleichen Gespräche mit den Menschen in meinem Viertel. Noch im Sommer packte ich meine Sachen und zog nach Berlin. In Bonn hielt mich gar nichts mehr.

 

Hi JayWalker,

"Stationen" hätte als Titel irgendwie besser gepasst. Gesellschaftlich kann man im Text das "Streben nach Glück" erkennen, das meist, so auch bei dir, in anderen liegt.
Dein Protagonist entflieht der Einsamkeit. Ob die Freunde, die er in Bonn dabei findet, real sind, ist, finde ich, nicht ganz klar. Während des Spaziergangs mit Andrea hatte ich zwischenzeitlich den Eindruck, alles, was er erzählt hat, hat er erzählt, weil er es glauben wollte, nicht, weil es der Realität entspricht.
In der Unklarheit empfinde ich allerdings auch eine Schwäche deiner Geschichte, da sie uns inkulusive des Protagonisten die Menschen vorenthält. Das formulierte Gefühl von Fremdheit ist sehr pauschal, an seinen Freunden mag er, dass sie ihn mögen und akzeptieren, eigenen Eigenschaften scheinen sie so wenig zu haben, wie er.
Ich bekomme keinen Eindruck, warum er dazu neigt, sich störend zu fühlen. Das ist ein bisschen schade, da dein Prot mir so nicht nahe kommt.
Details:

Was zählte, was der Moment, das Studium, die Feiern, die gemütlichen Videoabende oder die geselligen Zusammenkünfte abends im Stadtpark.
zum einen ein Tippfehler, zum anderen ein Grammatikfehler, da das Prädikat im Plural stehen muss, wenn der Satzgegenstand aus einer Aufzählung besteht.
Ich suchte mir hier eine Arbeit, die ich von zuhause aus erledigen konnte.
von zu Hause aus erledigen konnte.
„Du wirst dich eines Tages dorthin zurücksehen, wenn alles andere zerbricht.“
zurück sehnen
Das kleine Provinznest, in der man mich hänselte und auslachte
in dem
zwei andere waren so in ein Gespräch vertieft, dass er mich nicht bemerkte.
dass sie mich nicht bemerkten.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Sim,

danke fürs Lesen! Ich hab die Fehler, die du angemerkt hast, ausgebessert. Deine Anmerkungen treffen den Prot ziemlich genau, würde ich sagen. Ob ich das so schreiben wollte oder es zufällig passiert ist: Es soll sich tatsächlich um einen Mann mit wenigen Eigenschaften handeln, der sich lange Zeit etwas vorgemacht hat. Den Grund dafür, dass seine Bekannten ihn ablehnen, habe ich bewusst im Dunkeln gelassen.

Dass dir die Charaktere inklusive dem Prot fremd bleiben, war allerdings nicht so gewollt. Aber danke für den Fingerzeig!

Beste Grüße und danke fürs Lesen!
Jay

 

Hallo Morphin. Danke fürs Lesen! :)
Ich wollte die Geschichte nicht zu lang werden lassen, dachte die Infos würden reichen. Aber na ja, das hat es wahrscheinlich doch nicht.
Bei der nächsten Geschichte werde ich es mal anders versuchen.

Danke nochmal, viele Grüße und schöne Feiertage
Jay

 

Hallo JayWalker,

das Thema deiner Geschichte hat mir gut gefallen. Nicht nur, weil ich Bonn mag und mich auch seit Jahren in einer anderen Stadt zu hause fühle. Dieses Gefühl verändert sich halt, und es hängt immer an Menschen. Das hast du gut rübergebracht.

Aber auch mir war das zuwenig. Was genau ist passiert zwischen ihm und seinen Freunden? Und warum versucht er nichts dagegen zu tun, zumindest heraus zu finden was los ist? So wirkt es, als ob diese Menschen nur wichtig sind, damit er sich wohl fühlt, ihm aber ansonsten nichts bedeuten. Ich weiß nicht, ob du das so darstellen wolltest.

Liebe Grüße
Juschi

 

Hallo Juschi. Ich war mir selbst nicht ganz sicher, was genau den Erzähler eigentlich dazu bewogen hat zu tun, was er tut. Wahrscheinlich ist es das wirklich: Er ist kein Kämpfer und hat seine Freunde nur dazu, um sich selbst besser zu fühlen. Kein Wunder, dass sie ihn dann im Gegenzug links liegen lassen.
Die Geschichte ist übrigens zu einem großen Teil autobiografisch... Deine und die Antworten der anderen Leser haben mir dabei geholfen, die Dinge etwas besser zu verstehen... Danke! Sorry, wenn ich euch als Versuchskaninchen missbraucht habe. Hoffe aber, dass das Lesen trotzdem einigermaßen erträglich war.

Übrigens Entschuldigung wegen der späten Antwort. Ich war über die Weihnachtstage in der besagten norddeutschen Provinz, wo ich nicht ins Internet konnte... ;)

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom