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Botschaft von Alpha Centauri
Ich wiederhole für Sie, was mir im Traum erzählt wurde. Immer wandeln meine Wahrträume die Geschehnisse, wie sie dann wirklich eintreten, leicht ab. Ich hörte eine Stimme, und sie berichtete also:
Ich habe die berückenden Dinge, von denen ich euch, Kinder, nun erzählen will, erlebt, als ich in meinen Zwanzigern war; ich hatte mein Studium abgebrochen, aber war durch warme Begegnung mitten in die sogenannten informierten Kreise hineingekommen.
Der erste Hinweis darauf, dass etwas Ungewöhnliches geschah, war für mich ein Vorfall auf dem Highway. Nun, Claire, du mit deinen fünf Jahren wirst dir unter dem Wort "Highway" nichts vorstellen können, weil deine Eltern dich dorthin nicht mitnehmen. Ihr anderen Kinder werdet es mir nachsehen, wenn ich aus Rücksicht auf Klärchen vieles breiter schildere, als es nötig wäre, wenn nur ihr – du, Karsten, mit deinen vierzehn, du, Mullina, mit deinen zwölf, du, Gertenschlanke, mit deinen neun, und du, Warfritz, mit deinen siebeneinhalb Jahren - mir zuhören würdet. Eure Mutter, meine liebliche Schwiegertochter Carmen, die ja gerade wieder nackt im Garten herumlaufen muss, hat schon ganz richtig entschieden, als sie beschloss, euch den brutaleren Bereich unserer Welt nur Stück für Stück, und zum Teil eben auch über mich vertraut zu machen. Die Art homo sapiens sapiens, zu der wir gehören, – also der Mensch – war nicht immer in einer so hochkomplexen Umgebung zuhause, wie er sie heute bewohnt, und da wäre es unnatürlich, wenn wir euch auf einmal damit zuschütten würden, gewissermaßen, als würfen wir euch, bevor ihr das Schwimmen gelernt habt, ins Wasser. Nun – ein Highway, Clarissa, das ist eine große Straße. Du hast schon ein paar Autos gesehn – erinnerst du dich? Das sind die rundlichen Zellen aus Metall, die überall zwischen unseren Häusern hier in Mülheim hinauf- und hinuntersteigen, aus denen die Leute Güter tragen – Lebensmittel, Möbel, Haushaltswaren –, besonders viel, wenn sie am Monatsende ihr Gehalt überwiesen bekommen haben. Diese Dinger – schau, da oben flitzt schon wieder eines! – fliegen ja auf festgelegten Bahnen über unsere Häuser, so dass ihnen nichts in die Quere kommt, und senken sich sachte, sachte hinunter, wenn ihre Passagiere dort angekommen sind, wo sie hinwollen. Nun gleichen die Bahnen, auf denen die Autos sich bewegen, Straßen. Denn genauso, wie du, wenn du mit deiner Mutter, meiner lieblichen Schwiegertochter Carmen, deren schöne Rundungen du da hinten unter der Magnolie betrachten kannst – aber du hast noch keine Sinnen dafür, Mädchen! – über die Straße gehst und dabei etwa hier in der Adolfstraße viele andere Menschen in der gleichen Richtung gehen wie ihr, muss auch der Flugverkehr kanalisiert, also in Ströme gelenkt werden, damit a) nicht überall die "großen eisernen Vögel", wie die Indianer des alten Amerika sie nennen würden, Schatten auf die Gärten und Häuser werfen und b) nicht ein heilloses Durcheinander entsteht. Mogul, unser Kunsthirn, könnte uns sonst nicht mehr so schnell vom einen Ort zum andren befördern, wie er es jetzt vermag. Du weißt auch, dass man für einen Aufpreis von Mogul im Auto quer durchs Verkehrschaos hindurchgeschoben wird – so, wie sie früher, als es noch Autos gab, die Räder hatten wie unsere Handkarren, damit in Paris und Rom um die großen Triumphbögen herumgewuselt sind. Vor allem Politiker, aber auch reiche Geschäftsleute lieben diese Art der Beförderung. Daher kommt es, dass du im Auto immer mal wieder leicht nach unten gedrückt und nach oben gehoben wirst. Nach unten wirst du gedrückt, wenn Mogul dich über einen Politiker hinüberhebt, und leicht zu schweben und zu tanzen beginnst du, wenn dein Auto unter einem solchen besonders eiligen Menschen hindurchtaucht. Die Schleifen, die du immer so lustig findest, weil das Auto sich dabei so stark in die Kurve legt, haben damit übrigens nichts zu tun. Das sind die ganz normalen Zubringer an unseren Kreuzungen. Die hat`s schon gegeben, als man noch sogenannte Autobahnen baute, damals waren sie noch aus Stein, und der Fliehkraft begegnete man da noch fast gar nicht, die Schleifen waren tischeben, weshalb die Wägelchen, mit denen man damals fuhr, in diesen Schleifen auch immer wieder aus der Kurve flogen. Wir können uns das am Wochenende im Freilichtmuseum "Düsseldorfer Autobahndreieick" alles mal ganz genau anschauen. Da kannst du sogar in ein original nachgebautes Auto aus dem Jahre 2000 steigen und dich im Schneckentempo durch eine Schleife kutschieren lassen... Aber zurück zu meiner Geschichte. Ich hab euch ja schon gesagt, dass es etwas mit dem Sternenhimmel zu tun hat. Ich saß also im Auto – das war damals noch ganz anders als heute, es gab noch kein Bordkino, weil man noch Gewicht sparen musste und deshalb das dicke Panzerglas nicht einbauen konnte, mit dem die Bildwand vor Rabauken geschützt wird –, und wie ich gerade über dem Wasserbahnhof aus dem Fenster schaue und darüber nachsinne, wie schön es doch wäre, da unten bei Plati ein Eis zu essen, meldet sich übers Telefon mein Freund Fred. Er berichtete – heute, wo das alles schon über sechzig Jahre zurückliegt, kann ich euch das ja sagen – von einer für ihn unverständlichen Botschaft aus seiner Dienstleitstelle.
Ich sah auf einmal Claire, wie sie auf ihrem Stuhl vor- und zurückwippte. Sie rief: "Opa, die Sternengeschichte!" – Ihr Großvater – den ich nicht sah – fuhr fort:
Ja, so wichtig war Freds Bemerkung wirklich nicht. – Ich kam nach Köln. Dort gibt es breite, lange Prachtstraßen mit kilometerlangen genau rechteckigen Häusern. Sie haben vielleicht vier Stockwerke. Der Highway in die Stadt endet mit einer solchen Achse und mündet von dort aus ins Kölner Verkehrsnetz. Große Leuchtreklamen säumen den Straßenrand: Fahrten zum Mond, zu Mars, Jupiter, Uranus, Neptun und Pluto. Ihr wisst ja, dass man dazu den Flughafen in Gabun aufsuchen muss. Leuchtreklamen von PanSpace, EarthWings, Lufthansa, Singapore Airlines, Sa-Turns und Nasa. So dachte ich bis dahin. Aber an diesem Tag tauchte ich tief in den Kosmos ein, der unsere Natur ist. Ich habe mich extensiv mit der Kunst der Jahrtausende und mit modernem naturwissenschaftlichem Schrifttum beschäftigt, und ich rieche es gewissermaßen, wenn die majestätischen Szenerien von Mutter Natur mit ihren Seen, Meeren, Wäldern und Bergrücken und den dies alles bevölkernden Tieren Gehör fordern. Denn ich weiß, dass vieles im Leben des Menschen kein Zufall ist, ja, letztlich sogar alles, was man überhaupt erlebt, nur Teil einer großen, natürlichen Sprache Gottes genannt werden kann.
Mit unserem Papst Urban dem Fünfzehnten bin ich darin übrigens vollkommen einer Meinung.
Was glaubt ihr, wieviele Möglichkeiten es gibt, 25 Buchstaben zu kombinieren? Unendlich viele. –
Ich geriet in einen Stau. Mein Auto schwebte oft eine Weile an einem und demselben Fleck. Und wie ich so nach links auf die Leuchtreklamen schaue, lese ich:
Aeroflot – Nasa – Thomas Cook – Wings of Love – OverAllPlanets – Richard Flights – Thousand Moons – Eternal Joy – Trust ´n Joy – Uranus Tours – Neptun Space Affairs – Sa-Turns – Air Canada – Lufthansa – PanSpace – Hungarian Space Agency – Alitalia – Crew of God – Englische Flügel – Nautilus – Time Travels – Austrian Airlines – Uigur Moon Flights – Rover Space – Indian Airways.
Ganz zufällig fiel mir auf, dass die Anfangsbuchstaben der ersten fünf Luftgesellschaften zusammen ANTWO machten. Das erinnerte mich an den Begriff "Antwort" beziehungsweise "antworten", was ja mit Botschaften höherer Mächte eng assoziiert werden kann. Deshalb schaute ich, wie es weiterging, und zu meinem unendlichen Erstaunen bemerkte ich, dass man auf diese Weise tatsächlich lesen musste: ANTWORTETUNSALPHACENTAURI.
Ich war mir im Klaren, dass das nicht von Menschen beabsichtigt sein konnte. Denn viel zu viele Mitarbeiter von all jenen Luftgesellschaften hätten das mitbekommen, und zu mir wäre es schon lange gedrungen gewesen. Ich war damals mit Köln dermaßen verschmolzen, wusste dermaßen genau, worüber geredet wurde, kannte dermaßen lückenlos alle Stadtwitze, dass mir sofort klar war: Hier liegt eine Botschaft direkt von unserem Nachbarstern Alpha Centauri vor.
Was glaubt ihr, wie lang es dauert, um mit Richard Flights, dem schnellsten Anbieter, bis zum Pluto zu rasen? Vierzig bis fünfzig Tage, und zurück nochmal das Gleiche. Manche ganz harte Kerle machen sogar Trips bis zu Varuna und Quaoar, die noch weiter weg sind als Pluto. Aber auf so langen Reisen muss man schon ununterbrochen seine Muskeln üben, um nach der Rückkunft überhaupt noch gehen zu können. Der nächste Stern in unserer Galaxis, Alpha Centauri, ist aber zweitausendmal so weit weg wie Pluto! Zum Pluto, zu Varuna und Quaoar – die, nebenbei bemerkt, alle nicht besonders interessant sind – Neptun besitzt noch eine gewisse Eleganz, und Uranus besticht durch seinen Ring, aber noch weiter weg von der Sonne haben wir auf unseren Planeten bloß noch eine einzige Wüstenei, es gibt halt bloß ein paar Freaks, die unbedingt die besondere Atmosphäre eines jeden Sterns um sich herum spüren wollen, sie sagen, sie fühlen die Aura eines Himmelskörpers – dahin also kann man jetzt so ungefähr seit hundert Jahren fliegen. Seit die schnellen Ionen-Antriebe entwickelt worden sind. Und natürlich hat man, als man diese Motoren schuf, auch sofort eine Sonde zu Alpha Centauri losgeschickt. Weil aber der Sonnenwind, aus dem jeder Ionen-Motor aufgeladen wird, draußen, im stockdunklen All zwischen den Sternen, praktisch aufhört, sind solche Sonden sehr klein und können sich nur wesentlich langsamer fortbewegen als unsere Passagierfähren. Bodo I, die Sonde, die man im Jahre 2395 zu Alpha Centauri aussandte, ist noch lange nicht angekommen. Sie hat bis jetzt erst ein Sechstel der Strecke geschafft.
Umso stärker war für mich der Schock, als mir klarwurde: die Alpha-Centaurianer sind schon lange bei uns! Und nicht nur das, sie beeinflussen sogar unser Handeln.
Als ich in Köln bei meiner Freundin angekommen war, eröffnete sie mir sofort, dass außerplanmäßige Aktivitäten eingeleitet worden waren. Sie wollte nicht einmal mit mir schlafen, obwohl wir doch jung waren und uns gerade eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatten. Sie war wie ich Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der Regierung, also jenes Dienstes, in dem man keinen festgelegten Arbeitsbereich hat und von Kontrolleuren, die sich ihrerseits wieder im Kreis herum kontrollieren, nur allgemein nach seiner Disziplin – und auch nach seinem Effizienz-Grad – für das jeweils folgende Quartal sein Gehalt festgelegt bekommt. – Ein Gehalt, Klärchen, ist ein Bonus, der geringer oder höher ausfallen kann. – Wir mussten sofort zu unserem Vorgesetzten, Jürgen Pieper, in die Aquinostraße sausen.
Jürgen empfing uns lässig in seinem alten englischen Ohrensessel zurückgelehnt. Er schaute auf seiner Bildwand einen Dokumentarfilm über Grenzwissenschaften an. Als er uns sah, plapperte er sofort drauflos.
"Es sind ungewöhnliche Dinge vorgefallen. Die Weltregierung hat einen Krisenstab eingesetzt. Ein paar Leute sind auf einmal vernünftig geworden. Tschapass hat gesagt, er will anfangen zu lesen. Das wär` doch mal was. Schaut euch mal das hier an."
Er sagte "Teneriffa". Seine Bildwand zeigte Luftaufnahmen von der Insel, live, man sah, wie die Leute auf den Felsen Kreistänze tanzten und sich in den Armen lagen.
Offenbar ein plötzlicher Schub inneren Lichts, wie sie aus dem Mittelalter überliefert sind.
Jürgen sagte "New York". Man sah, dass der Verkehr angehalten worden war wie zu Silvester und das große Laserkino der Stadt über den Wolkenkratzern die verrücktesten Bilder-Folgen abspielte. Die Mona Lisa folgte auf unter Bäumen sich zärtlich Liebende, der Gouverneur der Vereinigten Staaten wechselte mit komplizierten Codizes ab, sogar Tabellen mit Jahreszahlen, Baupläne von Raumschiffen, Sternkarten und Überblickstafeln über die Reiche unserer Biologie – das Reich der Tiere, der Pilze, der Pflanzen und so fort – wurden teils dreidimensional, teils als aufrecht stehende Platten so groß wie Manhattan an den Himmel geworfen. – Ihr wisst ja, dass solche Stadtkinos – auch Essen hat eins – von mehreren Punkten aus Strahlen in den Himmel schicken, die erst sichtbar werden, wenn sie aufeinandertreffen, so dass man genau dort, wo man es haben will, jedes x-beliebige Bild über der Stadt erzeugen kann.
Unser Boss drehte sich zu uns um.
"Alpha Centauri hat sich gemeldet. Es sind an verschiedenen Orten Botschaften aufgenommen worden. Wir wissen nur noch nicht, wie wir antworten sollen."
Ich berichtete ihm von meiner scheinbar zufälligen Beobachtung an den uralten Leuchtreklamen auf dem Kölner Stadtzubringer.
Jürgen wusste, dass ich keinen Unfug rede. Er stand senkrecht in der größten Aufregung vor mir.
"Die haben den Stau gemacht! Die haben dich dazu gebracht, das zu lesen! Die können alles! Aber wie sollen wir ihnen jetzt antworten?!"
Aufgrund des Formates dessen, was geschehen war, schloss ich sofort auf eine Verbindung zu Thomas von Aquin, dem Philosophen aus dem Mittelalter, der die moderne Wissenschaft begründet hat. Immerhin befanden wir uns in der Aquinostraße – denn dieser Denker hatte in seinen Zwanzigern in Köln studiert –, und wenn die Aliens schon bewirken konnten, dass die Leuchtreklamen an einer Kölner Ausfallachse ein Wort von Alpha Centauri transportierten, dass ich im Stau stand und dass ich überdies dort hinblickte, würde es auch kein Zufall sein, dass Jürgens Büro in der Aquinostraße eingerichtet worden war.
Malva stimmte mir in diesem Gedanken zu.
"Und wie gedenkst du jetzt weiter vorzugehen?" fragte mich Jürgen.
Ich wusste es sofort. Wir mussten in die Universitätsbibliothek. Zu den Schriften des Thomas von Aquin, geboren 1225 auf Burg Roccasecca in Süditalien, gestorben 1274 in Rom. Dort würden wir herausbekommen, was wir zu tun hatten.
Und ich behielt Recht. Die Universitätsbibliothek war noch geöffnet. Ich kannte zufällig sogar die Stelle, an der im Hauptlesesaal die Werke des Thomas von Aquin standen, in einer lateinisch-deutschen synoptischen Ausgabe aus dem zwanzigsten Jahrhundert.
Ich hatte mich während meines Studiums generale nicht nur mit Thomas von Aquin, sondern auch mit seinen Fortsetzern in späteren Jahrhunderten befasst. Einer davon hatte herausgefunden, dass man durch das willkürliche Öffnen von Büchern immer das gesagt bekommt, was man braucht: Martin Grabmann, am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Er nannte dieses Phänomen – oder besser diese Fertigkeit – inventio. Ich war so gut mit Thomas vertraut geworden, dass ich mich nunmehr auf meinen Instinkt verlassen konnte. Ich ging zu den Büchern hin – es waren hellblaue Bände, klein und handlich –, zog willkürlich einen heraus und öffnete ihn. Es war die Abhandlung über die Scham. Thomas von Aquin hatte herausgefunden: Scham besitzen nur die Mittelmäßigen – die ganz Schlechten und die ganz Guten besitzen sie nicht. Ich zeigte Jürgen den Satz.
Ich ließ meine Assoziationen spielen.
Glücklicherweise wusste ich in Jürgen und in der Reihe von höheren Vorgesetzten, die mich über ihm noch mit der Weltregierung verbanden, eine Gruppe von Personen, die sich felsenfest auf mich verließ und sogar noch meinen absurdesten Einfall ernstnehmen, ja, nicht nur das, ihn sogar ausführen würde.
Ich war schnell darauf gekommen.
Die Alpha-Centaurianer konnten offenbar in unsere Sprache hineinwirken; aber offenbar wussten sie selbst, nachdem sie auf meditativem Wege in unser Seelenleben eingegriffen und Dinge wie das Wort am Kölner Stadtzubringer hinbekommen hatten, nicht, wie nach außen hin aussah, was sie uns von innen heraus geschickt hatten.
Jedoch das verlässlichste Mittel menschlicher Intelligenz und menschlicher Kommunikation, das es gibt – eine Universitätsbibliothek – hatte offenbart, wie wir zurück in den Strom der interstellaren Kommunikation würden eintauchen können.
Gemäß Pierre Teilhard de Chardin, einem anderen Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts, besitzen Universitätsbibliotheken ein eigenes Leben, ja, sind es sogar Gehirne.
Dies bestärkte mich in meinem Schluss.
Sizilien musste sofort evakuiert werden.
Nun, das war für Jürgen eine Kleinigkeit. Zwischen ihm und der Weltregierung stand nur noch eine einzige Rangstufe – und zwar schon eine, in der, wie auch ganz oben, immer gleich mehrere nach dem Einstimmigkeits-Prinzip entscheiden mussten. Dadurch gehörte Jürgen in Wirklichkeit zu den Menschen mit dem größten Einfluss. Aber das wusste in Köln außer mir und Malva niemand. Die Weltregierung, und auch die Stufe unter ihr, die gerade noch über Jürgen war, nun gab sich mit ganz anderen Dingen ab als mit so trivialen Erforderlichkeiten wie zum Beispiel einer Evakuierung Siziliens.
Jürgen rief in Palermo an. Er sagte ins Telefon eine Reihe von Zahlen und Nummern, erhielt ein Okay und legte wieder auf. Dann sagte er "Sizilien". Seine Bildwand schaltete auf diese Insel um. Wir sahen, wie sich die Straßen mit Menschen füllten und die Autos starteten. Ab und zu wechselte die Kamera auf einen Satelliten, und man konnte beobachten, wie sich ein nicht endenwollender Strom von Auto-Lichtern über die Meerenge von Messina, wo der dortige Highway verlief, auf den italienischen Stiefel hinüberzog.
Dann war die Evakuierung abgeschlossen. Die flächendeckenden Wärmekameras vergewisserten uns von ihrer vollständigen Durchführung; auch die Küstenstriche, die vor der Insel liegenden Wasser waren ins Unternehmen eingeschlossen worden. Die Sizilianer hatten in Tarent, in Brindisi, in Neapel, auf Capri, auf Elba, in Rom, ja – das wusste ich – sogar in den Gemächern des Vatikanstaates Unterschlupf gefunden.
Nun erst teilte ich Jürgen mit, was weiter zu tun war.
Er hatte es noch nicht einmal geahnt.
Der Ätna musste zum Ausbruch gebracht werden.
Jürgen sah mich verzweifelt an.
Ich sprach nur ein Wort: Scham besitzen nur die Mittelmäßigen. Die ganz Schlechten und die ganz Guten besitzen sie nicht.
Jürgen nahm seinen Telefonhörer und rief in Hawaii beim internationalen Erdbebenzentrum an. "Der Ätna ist sofort zum Ausbruch zu bringen", hörte ich ihn ins Telefon sagen. Am anderen Ende der Leitung war ein unterdrücktes Schlucken zu vernehmen.
Jürgen legte auf.
Auf seiner Bildwand wurde gerade die Gegend um Palermo aus der Vogelperspektive gezeigt. Die Straßenlaternen der Stadt zogen sich wie die Girlanden auf einem Kindergeburtstag die Hänge zum Vulkan hoch.
Am Rande des Bildes erschien ein oranger Fleck. Er wurde größer und teilte sich sternförmig in mehrere Strahlen.
Der Ätna war ausgebrochen.
Jemand hatte in Hawaii auf einen Knopf gedrückt und dadurch den Schlot, also den Magma-Gang unter dem Vulkan, durch mehrere Stöße mit einem unterseeischen Hammer vor Maui, die in unterschiedliche Richtungen gingen, an der Erdkruste abprallten und sich genau unter dem Ätna wieder trafen, so stark erschüttert, dass das glühende Erdinnere die zerborstenen Schollen des Pfropfens problemlos durchstieß und hinausschoss.
Das musste sowieso von Zeit zu Zeit gemacht werden. Es war ganz normal, dass man dafür nicht auf den Arbeits- beziehungsweise sonstigen Geschehensablauf an der Erdoberfläche, sondern nur auf geologische Gesichtspunkte Rücksicht nahm. Niemandem würde es also auffallen. Denn die Mitarbeiter des Erdbebenzentrums auf Hawaii waren auf Stillschweigen eingeschworen.
Wir plauderten noch ein bisschen über die unerwartete Botschaft von intelligenten Wesen auf unserem Nachbarstern. Da jeder von uns philosophisch schon lange solche Fragen gewälzt hatte und sich letztlich eigentlich nur für sein Sexualleben interessierte, hatte der Schock, den wir alle drei zunächst empfunden hatten, als die Alpha-Centaurianer sich meldeten, schnell wieder nachgelassen.
Auf dem Heimweg zu Malva las ich links die Anfangsbuchstaben von Leuchtreklamen.
Da stand:
Allos Früchtemüsli
Neandertal Technology
Tante-Emma-Laden
Warner Bros. Inc.
Olof-Palme-Studios
Rolls-Royce
Toyota
EDEKA
Rumsfield Weapons
Honda
Aga-Aga
Lagerfeld
Trude-Unruh-Stiftung
Edelsteine
Nanu-Nana
Die Alpha-Centaurianer waren wieder schneller gewesen.