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Bowle de luxe
Bowle de luxe
Spritzig, fruchtig und ohne Alkoholgeschmack. So musste eine gute Bowle schmecken, meinte Lysann. Und diese hier, so war sie der Ansicht, war mehr als hervorragend.
"Hey Eric", rief sie. "Probier mal. Schmeckt verdammt gut."
"Na wenn du das sagst." Er leerte den Rest Wodka-Lemon, um sich wieder etwas neues ins Glas kippen zu können. Anschließend schenkte er sich etwas von der Bowle nach.
Saufen! Was konnte man auf so einem Klassentreffen besseres machen? Erics Erinnerungen an diese Scheißzeit mussten betäubt werden. Überall diese verhassten Fratzen der Weichwichser, die man damals schon nicht leiden konnte.
Warum er überhaupt hier war? Lysann hatte ihn eingeladen. Da wurde er neugierig, dann vor zehn Jahren noch war er verdammt scharf auf sie gewesen. Vielleicht, so hoffte er, würde ja heute Abend noch eine gute Nummer bei rausspringen. Bei ihr wusste man nie. Damals hatte sie sich durch die Hälfte des eine Stufe höheren Jahrgangs gevögelt. Hoffentlich weckt sie endlich mal Interesse für ihren eigenen Jahrgang.
"Hey, sieh mal", sagte sie und stieß ihm ihren Ellebogen in die Seite. "Wer da kommt." Er blickte sich erschrocken um, als befürchtete er, von einem der Weichwichser erkannt, verhöhnt, vermöbelt oder erschossen zu werden. Dann sah er ihn.
"Scheiße, den hatte ich ja ganz vergessen." Auf einmal kam Erics Gedächtnis mächtig in Schwung.
"Will hoffen, dass der uns nicht sieht."
"Meinst du, der weiß noch, was damals war?"
"Leck mich doch."
Wie gerne würde ich das heute noch tun, dachte Eric und hoffte, dass er das jetzt nicht laut gesagt hatte. Doch Lysanns Blick verriet, dass ihre Aufmerksamkeit ganz woanders abgeblieben war. Sie beobachtete den Weichwichser, der da soeben den Saal betreten hatte und ein paar ehemaligen Klassenkameraden die Hand schüttelte.
"Wie hieß er gleich nochmal?", fragte sich Eric laut.
"Hermann Frick", kam die Antwort von Lysann, ohne den Blick abzuwenden.
"Ach ja", Eric musste plötzlich grinsen. "Wie konnte ich das nur vergessen?"
"Diesen Scheißnamen hattest du doch damals bestens ausgeschmückt."
An der Stelle musste er kurz auflachen. Die Erinnerung kehrte wieder zurück, so lebhaft, als wäre es erst gestern gewesen. ",Komm her, Mann und frick meine Katze´, haben wir immer gerufen. Das waren noch Zeiten." Er musste erneut lachen.
"Ihr habt ihm doch in der Sportumkleide die Klamotten geklaut und versteckt." Lysann stieg mit ins Gelächter ein. "Das war in der sechsten Klasse und das erste mal, dass ich ´nen Schwanz zu Gesicht bekam."
"Der Trottel rannte wirklich splitternackt durch das Gebäude, um seine Klamotten zu finden."
Die Lachanfälle wurden länger und lauter. Die Bilder, die plötzlich wieder erwachten und schon über fünfzehn Jahre alt waren, hatten für Eric etwas so komisches, dass sich das Klassentreffen schon fast wieder lohnte.
"Behindi-Kindi nannten wir ihn immer, weil er so´ne komische Gangart drauf hatte mit seinen X-Beinen."
"Wir haben seinen gesamten bescheuerten Piss-Mantel mit Schneebällen ausgestopft, damals im Winter der Klasse..." Er überlegte, wann das gewesen sein musste.
"Klasse sieben. Ich war dabei, erinnerst du dich? Wir beide und zwei aus der Parallelklasse hatten dafür ´nen Tadel kassiert."
"Scheiße", entfuhr es Eric. "Dafür, dass er uns verpetzt hatte, tauchten wir ihn nach der Schule im Schnee."
"Und seine dämliche Kapuze diente uns bestens als Mülleimer."
"Scheiße", kam es wieder von Eric. "Das war ein herrlicher Anblick, jedesmal, wenn er sich das Ding aufgesetzt hatte." Erneutes Gelächter. Sein Zwerchfell begann allmählich zu schmerzen.
"Du Eric", unterbrach Lysann. "Meinst du, der nimmt uns das heute noch übel?"
"Ich glaub nicht. Wir sind doch jetzt alle erwachsen. Ich meine, wir waren jung und es ist Ewigkeiten her. Wir beide haben uns doch selber kaum daran erinnert, wieso sollte er das tun?"
"Halt die Klappe." Wieder stieß sie ihn in die Seite - auf gewisse Weise machte ihn das geil. "Ich glaube, er kommt rüber."
Tatsächlich kam Hermann dahergelaufen. Mit einem breiten Lächeln und einem Gesicht der Wiedersehensfreude.
"Hallo Eric, Lysann", sagte er. "Wie geht´s euch beiden?" Er reichte jedem die Hand und lächelte zufrieden. Für Eric war damit eindeutig klar: Er erinnerte sich nicht mehr. Eine gewisse Erleichterung durchfuhr ihn.
Hermann sah verdammt gut aus. Gepflegte Frisur, teure Designerklamotten mitsamt Jackett und Krawatte. Eric hatte keine Ahnung, was das für ein Stoff sein könnte, aber er sah verdammt teuer aus. Und dann diese funkelnden schwarzen Lederschuhe erst...
"Mensch Hermann, was machst´n du inzwischen?", wollte Lysann wissen.
"Oh, ich bin in der Pharmaindustrie und in der Produktentwicklung."
"Scheiße", war alles, was Eric dazu einfiel. Er war nicht weniger erstaunt, als Lysann.
"Krass", war ihre Antwort. "Du hast es ja echt weit gebracht."
"Findet ihr?", fragte Hermann. "So weit sind wir auch noch nicht. Wir forschen gerade nach neuen Toxiden und deren Gegenmittel. Die Lizensen, die wir verkaufen bringen eine Menge Geld ein."
"Ich werd´ nicht mehr." Lysann erschlaff der Unterkiefer. "Aus dir ist wahrlich was geworden. Hätt´ ich nie geglaubt."
"Ja, das stimmt." Hermann lächelte erneut. "Ich auch nicht."
Dieser letzte Satz hallte bei Eric nach. Er machte ihn stutzig, genauso wie dieses verdammte Lächeln. Es hatte etwas seltsames an sich. Es konnte nicht echt sein. Wie schaffte es dieses einstige Mobbingopfer Nummer Eins sich derart über das Wiedersehen seiner Peiniger zu freuen? Irgendwie war ihm das absurd und er hielt sich lieber raus.
"Oh, wie schmeckt euch die Bowle?", fragte Hermann.
"Echt gut", sagte Lysann.
"Das freut mich. Die wurde von mir für dieses Treffen gespendet."
"Wow. Find ich voll in Ordnung von dir. Dankeschön."
Eric nahm bei der Gelegenheit einen Schluck davon aus dem Glas, um sich von dem angeblich gutem Geschmack zu überzeugen. Lysann hatte Recht. Spritzig, fruchtig und ohne Alkoholgeschmack... So musste eine gute Bowle schmecken.
"Na gut, ich werd´ mal weiterziehen", sagte Hermann. "Ich wünsch euch noch einen schönen Abend."
"Gleichfalls."
Und dann zog er ab. Das einzige, was Eric dazu noch einfiel war: "Scheiße!"
"Das kannst du laut sagen, Mann." Lysann war genauso fassungslos über diese Begegnung, wie er selbst.
"Eingebildeter Schwanzlutscher", murmelte Eric, neidisch über Hermanns Wohlstand. "Na wenigstens hat er keine dummen Fragen gestellt."
"Da gebe ich dir Recht. Hätte noch gefehlt, wenn der mich wegen Bruf oder Ehe ausgefragt hätte. Das geht den Vogel ´nen feuchten Dreck an."
Eric schaute zu Lysann auf. "Du bist verheiratet?"
"Ja."
"Na schöne Scheiße auch."
"Mach dir nichts draus. Mein Mann kommt übermorgen wieder."
"Und das heißt?"
"Du kommst gefälligst nachher mit oder dachtest du, ich hab dich umsonst hierher eingeladen?"
Eric grinste wieder. "Wozu haben wir uns dann erst hier getroffen? Wir hätten doch gleich zu dir..."
"Was denkst du von mir? Ich hatte dich zehn Jahre lang nicht gesehen. Vielleicht wollte ich dich erstmal überprüfen, ob du überhaupt zurechnungsfähig bist."
Erneutes Grinsen. Der Tag war gerettet. "Bestens", sagte Eric und nahm noch einen Schluck von der Bowle. Er konnte es gar nicht erwarten, endlich hier rauszukommen, diese Nullköpfe hinter sich zu lassen und die Schlampe neben ihm zu ficken. Darauf wartete er jetzt schon seit wie vielen Jahren?
Seine Überlegung wurde abrupt unterbrochen, als er wieder in ihr Gesicht sah. "Scheiße", entglitt es ihm vor Schreck.
"Was ist?", fragte Lysann und wendete ihr Gesicht vollständig zu Eric. Erst jetzt bekam er einen kompletten Überblick über die Scheiße, die ihm da präsentiert wurde.
"Verdammt nochmal, was ist los?", fragte sie, ohne irgendetwas zu bemerken. Sie sah Erics Augen, die groß wurden. Riesengroß. Die Kinnlade klappte ihm herunter und seine Stimme versagte. Nur ein Krächzen entrann seiner Kehle. Kurz: Eric stand das reine Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Und er hatte auch einen guten Grund dazu:
Lysanns Haut wurde zunehmend blasser, bis sie komplett weiß war. Aus ihren Nasenlöchern liefen zwei Fäden von Blut heraus, die soeben ihre Oberlippe erreichten. Und nach und nach kam ein rötlicher Ausschlag auf ihrem Gesicht zum Vorschein.
"Verdammt nochmal Eric, sag mir endlich, was du mich so blöde anglotzt. Hab ich irgendwie Kacke in den Haaren?" Danach blieb ihr die Luft weg. Sie fing an zu röcheln und zu würgen, als würde ihr etwas den Hals heraufkriechen und dort stecken bleiben. Augenblicklich schien sich ihr gesamter Körper zu verkrampfen. Sie zitterte und schmiss sich ruckartig herum. Der Tisch mit den Getränken wurde umgestoßen. Durch den entstehenden Lärm blickten nun auch die restlichen Gäste zu ihr. Sie waren sichtlich erschrocken und reagierten nicht.
Eric, der diesen ersten Schock schon überwunden hatte, wurde wieder Herr seiner Stimme und schrie: "Scheiße, ruft einen Notarzt."
Doch als er sich umsah, war niemand da, der sich irgendwie bereiterklärte, ein Telefon zu besorgen. "Ruft doch mal einer den Arzt, ihr Weichwichser."
Anschließend brach eine Art Panik aus. Die Leute strömten kreuz und quer durch den Raum und suchten ihr Hab und Gut zusammen oder versuchten den Ausgang zu erreichen. Währendessen kämpfte Lysann immer noch mit ihrer Atemluft und stolperte quer durch den Saal. Sie stürzte einen Tisch nach dem anderem um und riss die Dekorationsvorhänge von den Wänden, als sie sich daran versuchte festzuhalten. Dadurch stürzte sie zu Boden.
Und dann begann sie, Blut zu spucken oder zu erbrechen. Eric konnte es nicht genau feststellen. Zuerst kam es stoßweise, danach in einem einzigen, mit Fleischstückchen vermischtem, Schwall. Er glaubte, Lysann würde ihre Lunge auskotzen oder sowas in der Art.
Er lief zu ihr hin. Doch was sollte er tun? Was musste man in solch einer Situation machen? Scheiße, er konnte doch nicht einfach nur rumstehen und wie bescheuert zusehen, so unreal diese Situation ihm auch erschien.
Lysann versuchte sich selber noch einmal aufzurappeln, rutschte aber mit ihren Händen nach vorne. Ihr Gesicht prallte auf dem Boden auf, wobei sich Hautfetzen von ihrem Gesicht lösten, als wären sie aus Papier. Sie wand sich hin und her, wie bei einem epileptischen Anfall. Aus ihrem Mund quoll immer noch Blut, so lange, bis ihr Körper schließlich den Geist aufgab und abschaltete.
Entsetzen packte Eric. Pures Entsetzen. Es war unfassbar. Was zum Geier war hier eigentlich gerade geschehen? War dies einer seiner beknackten Träume? Wäre er nicht schon spätestens jetzt in diesem Moment vor Schrecken aufgewacht? Also musste es real sein. Doch sein Verstand fand keine logische Erklärung dafür. Zumindest noch nicht. Sein Gehirn war noch nie das schnellste.
Da plötzlich tauchte Hermann auf und stellte sich zwischen ihn und Lysann. Er beugte sich zu ihr herunter und schaute ihr ins Gesicht. Ihre Augen bewegten sich noch. Hermann fing an zu grinsen und sprach mit hoch erfreuter und zufriedener Stimme: "Das ist für die dreihundertundfünfundachzig Behindi-Kindi. Siehst du? Ich hab Strichliste geführt." Er offenbarte ein kleines Notizbuch und zeigte ihr seitenweise Striche, die er über die Jahre hineingezogen hatte.
Anschließend richtete er sich wieder auf und wandte sich an Eric, der wie gelähmt und erstarrt alles beobachtete. "Die Bowle ist ihr gut bekommen", sagte Hermann und fing wieder an zu lachen. "Ich geb dir noch maximal zehn Minuten, Eric. Danach liegst du neben ihr." Und damit verschwand er.
Eric war zu sehr damit beschäftigt, diese ganzen Informationen zu ordnen. Er musste begreifen, dass dies kein Traum war. Oder war es vielleicht unter gewissen Umständen doch einer? War nicht sein gesamtes Leben ein Traum gewesen? Von Geburt bis zu seinem Tod, der in wenigen Minuten einsetzen würde? Genauso wie das der ganzen Menschen, denen er das Leben zerstört hatte?
Na und wenn schon. Wenigstens gab es Gratisgetränke. Damit ließ es sich aushalten. Das einzige, was er ein wenig schade fand war, dass er diese alte Schlampe nicht vögeln konnte, bevor sie krepieren musste.
Das wäre ein zu schöner Abgang geworden.