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Boy George und Geronimo's Cadillac
„Bist du Boy George?“, frage ich.
„Nein.“
„Egal. Knof, mein Name. Ich bin der Mann von der Zeitung. Ich denke, man hat mich angekündigt.“
„Nein, aber schön, dass Sie halt kommen konnten.“ Er hat, bis auf einen kleinen Zopf am Hinterkopf, eine Glatze. Über der Hakennase ist ein roter Punkt, sein Gewand ist schlicht und in einem blassen rosa bis orange gehalten.
„Du siehst aus wie ein Skinhead im Flamingokostüm“, sage ich.
„Das ist halt das Merkmal unseres Meisters.“
„Dass ihr alle hier wie eine Kolonie Flamingos auf dem Nikolaikirchhof steht?“
„Nein, die Farben sind halt das Erkennungsmerkmal für unseren Meister.“
„Verstehe. Also, was ist das hier?“
„Wir feiern halt das Ratha Yatra. Das bedeutet halt Wagenfest.“
„So was wie die Love Parade?“
„Nein, wir leben halt nach der indischen Kultur und möchten das hier in Deutschland vorstellen.“
„Klingt verdammt nach PR. Was heißt das, ihr lebt nach der indischen Kultur?“
„Wir haben hier halt einen richtigen Tempel und ich bin halt richtiger Mönch geworden?“
„Mönch, hah.“
„Ich hab halt hier in Leipzig Soziologie und Erziehungswissenschaften studiert. Hab dann halt abgebro-“
„Alles klar.“
„Was?“
„Was steht da an dem Wagen? Hare was?“
„Hare Krishna.“
„Also doch wie Boy George.“
„Was?“
„Ganz schön gonzo. Pass auf, ich bin eigentlich auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Was würdest du als Möchtegern-Inder dazu sagen?“
„Der Körper ist halt vergänglich, aber die Seele ist halt ewig.“
„Verstehe, und die schlechte Seele wird im nächsten Leben eine Frau und wer es völlig verrissen hat, kommt als das Tier zurück, das seinem Benehmen entspricht?“ Er sieht mich fragend an und schüttelt langsam den Kopf. „Platon ist auch nicht dein Ding, hah?“
„Mirco?“, fragt jemand hinter mir.
„Ah, Günther.“
„Weißt du schon was du für ein Foto haben willst?“
„Überlass ich ganz dir. Ach, Boy George hier kann dir sagen, wo der ganze Zirkus lang zieht.“
Trommelmusik beschallt den Platz, ein Typ, vermutlich der Chef der Flamingos, singt „Hare Krishna. Hare Krishna. Hare, hare, hare ... “ in ein Mikro und der Rest antwortet: „Hare Krishna. Hare Krishna. Hare, hare, hare ... “ Ein paar junge Frauen, die im Gegensatz zu den meisten Flamingos wirklich aussehen, als kämen sie aus Indien, tanzen zu der Musik. Sie tragen lange Kleider in kräftigen Farben. Ich stelle mich neben eine der Frauen, und versuche die Schritte zu imitieren. Sie sieht mich mit ihren großen dunklen Bambi-Augen an und lächelt.
„Studierst du Soziologie und Erziehungswissenschaften?“, frage ich sie.
„Pardon me?“
„Nice dress.“
„Thank you.“
„Mirco?“, spricht mich Günther wieder von hinten an.
„Was ist für dich eigentlich der Sinn des Lebens?“
„Dass ich meine zwei Töchter groß und aus dem Haus kriege. Dafür muss ich noch jede Menge Fotos machen. Womit wir beim Thema wären. Pass auf, dass du mir nicht wieder ins Bild läufst.“
Der Tross setzt sich in Bewegung. Die Schallwellen der Trommeln lassen meine Bauchdecke vibrieren. Die junge Inderin tanzt mit den anderen Mädchen im Kreis. Ich lächle ihr zu und die anderen Mädchen kichern. Ich fühle, dass meine Füße leichter werden. In meinem Kopf schallt es:
... Hare Krishna. Hare Krishna. Hare, hare, hare ...
„Hare Krishna ist halt der Name für Gott“, sagt Boy George plötzlich neben mir. „Wenn man den Namen Gottes singt, erhebt das halt das Bewusstsein.“
„Erhebt das Bewusstsein, hah.“ Ich fühle mich immer leichter.
„Wenn Ihnen das gefällt, dann kommen Sie doch halt mal in unserem Tempel vorbei.“ Er drückt mir einen Flyer in die Hand und verschwindet. Alles nur verdammte PR. Die Umgebung verändert sich. Es wird heller. Mein Körper scheint die Schwerkraft zu überwinden. Das ist ein großartiges Gefühl. Ich habe meine Religion gefunden! Was ist das? Der Sinn des Lebens? Ich kann die Antwort auf die größte Frage aller Zeiten spüren. Ich muss mich nur kurz konzentrieren. Konzentrieren. Es ist ... es ist ...
„Mirco?“
Scheiße! „Ja, Günther?“
„Ich hab das Bild. Bis später.“
Ich versuche mich wieder zu konzentrieren, aber die Worte Hare und Krishna schlagen gegen meinen Schädel wie ein Klöppel gegen die Innenwand einer Glocke. Ich brauche eine Pause, nehme eine Abkürzung zum Burgplatz und warte dort auf die Flamingos. Aber ich merke, dass ich kaum noch einen klaren Gedanken fassen kann. In meinem Kopf harekrishnat es hin und her. Das Schlagen in meinem Kopf verwandelt sich in ein endloses Wiederhallen der Trommelmusik und der Worte Hare Krishna. Zeit für den Notfallohrwurm. Zu den Trommeln passt Sympathy for the Devil von den Stones. Ich drücke den Play-Button an meinem imaginären CD-Player.
... Please, allow me to hare krishna myself. I'm a man of hare, hare, hare ...
Was zum Teufel sing Mick Jagger da in meinem Kopf? Okay, keine Panik. Ich versuche etwas anderes. Etwas lautes. Last Resort von Papa Roach.
... Cut my life into pieces. I've reached my last resort, Hare Krishna, Hare, Hare ...
Nein! Was mach ich? Bleib ruhig. Denk nach. Schlechte Musik und wenig Text. Das ist es! Ich muss mich musikalisch auf ein niederes Niveau einlassen. Das unterste Niveau. Auf die größten Verbrecher am Notenschlüssel, den Hitlers der deutschen Musikgeschichte. Aber um nicht auf diesen Songs hängen zu bleiben und Gefahr zu laufen völlig zu verblöden, darf ich mich nur kurz darauf einlassen und muss dann den Song wechseln. Damit kann ich mich zu einem Plattenladen retten, wo ich mir die Trommelfelle mit richtiger Musik raus blasen kann. Vorsichtig taste ich mich in meinem inneren Musikarchiv an einen bestimmten Karton. Er trägt die Aufschrift Nicht öffnen! Verblödungsgefahr! Ich atme einmal tief ein und los geht es. Dieter Bohlens und Thomas Anders' Stimmen kreischen wie eine Kreissäge durch meine Schädeldecke. „Ahhhhhhhh!“
... Geronimo's Cadillac. It's tossing oh in your head. It's tossing. It's turning. It's burning. It makes you mad. Geronimo's Cadillac. Oh Baby, I hold you back. It's tossing and turning. It's burning. It makes you sad ...
Der Kopfschmerz wird wieder stärker, ich kann nicht mehr klar sehen und frage mich für einen Moment wo ich gerade hin wollte. Ach, ja. Warum gibt es in der gesamten Leipziger Innenstadt noch weniger Plattenläden als Parkplätze für Hare Krishna's Cadillac? Ich könnte heulen.
... Wenn du fast am Heulen bist und es nach Ärger riescht, Supa Supa Richie kommt zu disch gefliecht! Supa Richie schneller als der Wind. Du musst nur an ihn gläuben tun, dann hilft er disch bestimmt. Hare Hare Krishna schneller als der Wind ...
„SUPA RICHIE!!!“, schreie ich aus und starre in die Luft. Etwas zwackt mich ins Bein.
... Ich bin Schnappi, das kleine Krokodil. Komm aus Ägypten. Das liegt direkt am Nil. Zuerst lag ich in einem Ei. Dann schni, schna-, schnappte ich mich frei. Schni Schna Schnappi. Schnappi Schnappi Hare Krishna Schnapp ...
In einem kurzen Moment der geistigen Klarheit weiß ich plötzlich warum sich Kurt Schni Schna Schnappi Cobain seine Birne ins Hare-Krishna-Nirvana geballert hat. Er muss auch die musikalische Büchse der Pandora geöffnet haben und war einfach nur zu schwach. Verdammt, vielleicht tut es auch ein Schni-schna-schnappi-hare-krishna-Buchladen. Ich richte meinen Zeigefinger mit Schwung in die Richtung des nächsten Buchhändlers und stürze los.
... Everybody on the floor? We put some energy into this place! I want to ask you something ... are you ready for the sound of Scooter? I want to see you sweat! I said ... I want to see you sweat! Yeah! Hyper! Hyper! Hare! Hare! ...
„Geht es Ihnen nicht gut“, fragt mich eine Angestellte des Buchladens, als ich auf allen Vieren versuche, ihr in das Wadenbein zu beißen.
„Schni Schna Scooter Hyper Krishna.“
„Autsch!“
„Supa Schnappi! Hahaha!“
„Sicherheitsdienst!“
„Grrr. Ich bin Geronimo. Baby, ich will meinen Hare Hyper Krishna Cadillac bei dir parken. Hm.“
„Ah! Nehmen Sie ihre Hand da weg!“
Der Sicherheitsdienst taucht auf und ich flüchte über die Rolltreppe eine Etage höher. Da sehe ich es. Die Rettung. Eine CD. Ich schnappe sie mir und knie mich neben das Regal. Der Sicherheitsmann kommt über die Treppe in die erste Etage und geht weiter in das zweite Obergeschoss. Ich weiß nicht was die Zeichen auf dem Cover bedeuten und halte die CD an mein Ohr.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragt ein anderer Angestellter. Ich halte die CD weiter an mein Ohr.
„Huhuhuhuha.“
„Kommen Sie mit. Ich zeig Ihnen wie Sie die CD anhören können.“ Wir gehen zu einem Kasten mit Kopfhörern dran, der Typ greift nach der CD, ich presse sie an meine Brust und drehe mich von ihm weg. „Ich will sie Ihnen ja nicht weg nehmen.“ Er hält mir seine offene Hand entgegen. Ich gebe ihm die CD. Er setzt mir Kopfhörer auf.
... Ein kleines Harfenmädchen sang. Sie sang mit wahrem Gefühle und falscher Stimme, doch ward ich sehr gerühret von ihrem Spiele. Sie sang von Liebe und Liebesgram, Aufopferung und Wiederfinden dort oben, in jener besseren Welt, wo alle Leiden schwinden ...
Als ich zu mir komme, finde ich mich zusammen gerollt am Boden liegen. Ich sehe auf das Cover der CD. Heinrich Heine, Deutschland, ein Wintermärchen.
„Sind Sie okay?“, fragt jemand.
„Das war gonzo. Ich fürchte, ich bin einfach nicht religionskompatibel.“
„Wie bitte?“
„Die geistigsten Menschen, vorausgesetzt, dass sie die mutigsten sind, erleben auch bei weitem die schmerzhaftesten Tragödien: aber eben deshalb ehren sie das Leben, weil es ihnen seine größte Gegnerschaft entgegenstellt.“
„Ich fürchte, ich verstehe nicht.“
„Nietzsche“, sage ich und stehe auf. „Kurt Cobain hätte Nietzsche lesen sollen. Dann hätte er die Pandora besiegt.“
„Philosophie und Biographien führen wir im zweiten Obergeschoss.“
„Er muss sich gefühlt haben, als wäre ihm am Ende Geronimo's Cadillac durch den Kopf gefahren.“
„Bitte?“
„Natürlich nur bildlich gesprochen. Sie haben nicht zufällig eine Best-of von Modern Talk-“
„Modern Talking? Tut mir Leid. Solche Tonträger führen wir nicht.“
„Schuldigung, kleiner Rückfall.“ Über die Hausanlage erklingt eine mir bekannte Melodie.
... Come
As you are
As you were
As I want you to be
As a friend
As a friend
As a known memory ...