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Brückenbauer

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13.09.2007
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Brückenbauer

Marie bohrt ihre Fersen in die Flanken des Pferdes und setzt zum Sprung an, über den Felsen.
Luft festigt sich. Kurt. Er fliegt ihr entgegen, ohne Gleitschirm. Lockend ruft er: "Komm!"
Marie fällt.

Piepsen gellt in ihren Ohren. Wecker, geht nicht aus.
Metallenes Klicken, Luftzug, hastige Schritte, murmelnde Stimme. Hände ziehen an Armen und Beinen, verdrehen ihren Kopf, drücken gegen Schulter und Hüfte.
Marie fliegt, wohin fliegt Marie? Angstschrei implodiert zu Brei, quillt in Mund und Nase. Kaltes Plastik sticht in Maries Nasenloch, schiebt sich in den Rachen und saugt schmatzend zähen Schleim weg. Plastik wird unter ihre Nase über die Ohren bis hin zum Kinn gelegt, festgezurrt. Luft blubbert in ihre Lunge, ihr Brustkorb hebt und senkt sich gleichmäßig.
Schritte entfernen sich.
Die Nase juckt, Marie sucht ihre Hand zum Kratzen.
Tür schließt sich.
Marie sucht eine Hand, die Nase juckt! Sie juckt, dass ihr die Augen tränen.

Kurts Hand kitzelt ihre Nase mit Gänseblümchen. Marie muss niesen. Sie lacht und balgt sich mit Kurt im Gras. Kurts spröde Lippen auf ihrem weichen Mund, der sich gern seiner Zunge öffnet. Kurts Hände liebkosen ihren Hals, ihre Brust.
Marie zittert: "Kurt, mir ist so kalt!"
"Komm Marie, ich bring Dich rüber, ans andere Ufer. Du musst nicht frieren."
Strahlend nimmt Marie seine Hand. Kurt lässt sein Lachen klingen. Es trägt sie über die Wiese zum Felsen am goldenen Fluss.
Mutter winkt zum Abschied.
Vater streckt die Hand nach ihr aus: "Komm zurück!" Seine Stimme heult, wird zur Sirene.

Laut: "Defi!"
Eisige Götterspeise presst sich auf Maries nackte Brust.
Lauter: "Weg vom Bett!"
Ihre Muskeln ballen sich zur Faust, werfen Marie in die Luft. Schmerz flutet ihren Körper. Lärm zerfetzt ihre Ohren. Hände, die Nadeln und Schläuche in sie schieben.
Laut: "Schwacher Puls, wir haben sie! Weiter beatmen und Verlegung auf Intensiv! Ich sag den Eltern Bescheid!"
Maries Bett dreht sich, wird zur Achterbahn.

"Bitte, bitte Mami! Bitte lass mich Achterbahn fahrn! Nur einmal!"
"Nein, Marie! Du weißt doch, der Papa hats verboten! Du bist noch viel zu klein dafür!"
"Aber, weißt Du was, Mamilein? Ich sag's den Papa nicht, bitte, bitte!"
"Nein, Marie! Das ist zu gefährlich für kleine Mädchen."
"Warum, waru-hum?"
"Du könntest raus fallen, Marie!"
"Bin ich dann tot?"
"Ach, Marie, wo hast Du das denn her!"
"Papa hat gesagt, man kann sich tot fallen."
"Nein, so was sagt der Papa doch nicht!"
"Doch, hat er! Papa hat gesagt, wenn ich mit Kurt so wild tobe, wird sich noch einer tot fallen."
"Ach Marie, das sagt man so. Das verstehst Du noch gar nicht! Komm, ich geh mit Dir zur Schiffschaukel!"
"Mama, was, was, oh Schiffschaukel fetzt! Mama, da ist Kurt! Kurt! Fährst Du mit mir Schiffschaukel?"

Schiffschaukel schlingert durch die Geisterbahn.
Papa schluchzt: "Lass uns nicht allein, Marie! Kleine, Du darfst uns nicht verlassen, hörst Du! Alles wird gut, verlass uns nicht! Ich..."
Mama weint, hält Maries Hand.
Fremde Stimme, sehr ernst: "Kommen sie bitte, ich möchte mit ihnen sprechen!"
Schritte verlassen sie. Marie ist allein mit den stöhnenden und schmatzenden Geräuschen. Sie will weg, zu Kurt!

"Kurt, was willst Du mal werden, wenn Du groß bist?"
"Pilot!"
"Warum?"
"Weil, dann kann ich fliegen in der Luft!"
"Ich, ich werd dann Pilotin, dann fliegen wir zusammen, wie in der Schaukel!"
"Mädchen können das nicht!"
"Das ist doof! Warum?"
"Weil, Mädchen werden Stuardressen."
"Gut, dann eben das! Kurti, bist Du schon mal Achterbahn gefahrn?"
"Klar, schon mindestens hundert und tausend mal."
"Und wie ist das?"
"Cool!"

Kalt! Stille. Warme Hände streicheln.
"Liebes", weint Mama, ich lass Dich."
"Meine kleine Marie, mein Schatz, ich war, bin so sehr gern Dein Papa, aber ich lasse Dich auch."
Maries Wimpern zittern, die Lider schieben sich ein paar Millimeter nach oben und sacken bleiern zurück. Ihre Lippen zucken, Maries Mund bleibt stumm.
"Darf ich zu Kurt, zur Achterbahn?"
"Liebling, hab keine Angst, Du darfst gehen."
"Bis bald.“

"Kurt, weißt Du was? Ich darf mit der Achterbahn fahrn!"
"Komm Marie, wir fliegen mit der Achterbahn zum goldenen Fluss."
"Zum goldenen Fluss und dann?"
"Und dann, Marie, dann baue ich Dir eine Brücke darüber, bis ans andere Ufer."

 
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Salü Damaris,

ich hab Deine Geschichte schon heute früh gelesen und sie geht mir echt nach. Gut geschrieben, gut zu lesen und die Erinnerungsbilder hast Du prima placiert. Völlig unkitschig auch die Kindheitserinnerungen, die jenseitigen Begegnungen mit Kurt und das Loslassen der Eltern. Alles gut nachvollziehbar.

PIEP.. PIEP.., gleicher Ton, gleicher Takt. Dann Schnarren, Wind, Schnarren und Klack-Klack, PIEP, Klack-Klack, PIEP-KLICK, Stille. Klack-Klack, Klack-Klack.

Nur, Damaris, dieses Piepen und Klacken, das ist einfach furchtbar. Das habe ich schon mal in einer anderen Geschichte von Dir mokiert. Ich weiss ja, es piept und klackt, aber es so zu lesen holt mich einfach raus aus der ganzen Geschichte. Auch optisch ist das ein Graus. (Entschuldige bitte!)
Vielleicht geht es so: Hohe Piepstöne schiessen durch ihren Kopf, Klicken und Klacken hämmern in ihren Schläfen ...
Ich weiss auch nicht, irgendwie geschehen diese Töne ausserhalb Maries und doch nimmt sie sie wahr, sie dringen ein in ihren Todeskampf, nur WIE ...

Vielleicht hilft Dir dieser Hinweis?

Der Schluss ist Dir wirklich rund gelungen.

Liebe Grüsse,
Gisanne

 

Hallo Gisanne,
danke für Dein Lob und Deine Kritik. Hab mich wieder ran gesetzt und schau mal!
Mir gefällts jetzt viel besser.
Also vielen Dank nochmal und liebe Grüße von Damaris!
PS.: Eigentlich ist "Brückenbauer" eine Liebesgeschichte, oder?

 

Hallo Damaris,
ich habe deine Geschichte heute Nachmittag schon einmal gelesen.
Ich mochte gerade diese "direkten Geräusche" der Maschinen. Gut, es hätten weniger sein können, aber der Bruch zur "anderen Welt" hat mir gut gefallen. Dennoch ist er auch in den anderen Absätzen sehr deutlich vorhanden, sodass diese Geschichte eine besondere Dynamik erhält.
Hat mir sehr gut gefallen.
Noch ein paar Dinge, die mir aufgefallen sind:

Marie gallopiert über Wiesen und Felder.
Also ein L und zwei P.
Allerdings ist das Wort hier nicht stimmig. Zwar können gut gelaunte Menschen galoppieren, aber wenn sie auf einem Pferd sitzen, funktioniert das nicht, da das Verb aktiv nicht mit Marie verwendet werden kann. Liesel und nicht Marie galoppiert in diesem Fall.
Angstschrei implodiert zu Brei, quillt in Mund und Nase und erstickt sie.
Sehr schön!
Plubbergeräusche.
Blubbergeräusche oder Blubbern
Liebe Grüße,
Bambule

 

Hallo Bambule,
vielen Dank auch Dir! Ich weiß, was Du meinst. Die Gegensätze der beiden Welten waren durch die direkten Geräusche krasser. Es bestand aber auch die Gefahr der unangebrachten Komik, finde ich. Ich denke, so ist das Ganze fassbarer. Marie bleibt ein denkendes Wesen. Oder?
Liebe Grüße Damaris :-)

 

Hallo Damaris,

mir hat die Geschichte sehr gut gefallen. Ich empfinde sie als sehr einfühlsam ohne dabei in Kitsch abzudriften - ein schwieriger Drahtseilakt bei diesem Thema. Besonders gut gefallen haben mir die Übergänge zwischen den beiden Erzählsträngen, die sind dir wirklich gut gelungen. Die Überarbeitung hat der Geschichte gut getan, vorher hatten mich die Comic-artigen lautmalerischen Geräuschbeschreibungen auch gestört. Das passte nicht zum restlichen leisen Ton der Geschichte. Stilistisch gesehen.

Ich hatte es so verstanden, dass Kurt nicht real ist, sondern nur in der Einbildung von Marie existiert. Ein fiktiver Freund. Sowas haben ja viele Kinder. Eine fiktive Person, der sie Gedanken, Wünsche und Träume mitteilen. Dazu passt auch folgende Passage:

Kurt fliegt ihr entgegen. Er kann längst fliegen, ohne Gleitschirm.
Wenn ich jetzt noch einmal darüber nachdenke, wäre es aber auch möglich, dass Kurt existierte, aber bereits gestorben ist. Und noch einen festen Platz in Maries Gedanken einnimmt. Auch eine denkbare Variante.

Wie auch immer, eine sehr gelungene Geschichte!

Zwei Kleinigkeiten noch:
Üblicherweise beginnt eine wörtliche Rede in einer neuen Zeile. Das könntest du noch ändern.

Alles wird gut, verlass uns nicht! Ich...
Leerzeichen vor den drei Pünktchen.

Viele Grüße
Kerstin

 

Hallo Kerstin,
vielen Dank. Hab die Form (hoffentlich richtig) geändert.
Die Geschichte lässt viele Deutungen zu, das mag ich.
Für mich ist Marie eine erwachsene Frau, die im Sterbeprozess in Jugend/Kindheit zurückreist. Kurt war ihr Freund und ist mit dem Gleitschirm zu Tode gestürzt.
Meine Großeltern hießen Marie und Kurt. Opa hat mit dem Sterben gewartet, bis Oma aus dem Krankenhaus kam. Sie ist ihm knapp 2 Monate später gefolgt. In ihrer dementiellen Welt war sie jung, ist querfeldein geritten und alle Jungs wollten sie heiraten. Manchmal hat sie Kurt gesucht.
Ich werde sie immer vermissen.
Liebe Grüße von Damaris :-)

 

Hej Damaris,

ich habe die Geschichte zuerst so verstanden, wie Du es schilderst. Bis mich das hier aus der Bahn geworfen hat:

"Schwacher Puls, wir haben sie! Weiter beatmen und Verlegung auf Intensiv! Ich sag den Eltern Bescheid!"

Wie ist das jetzt? Ist sie eine (alte) Frau, die während des Sterbens in die Vergangenheit zurückkehrt oder ein Mädchen, dessen Eltern am Krankenhausbett stehen?
Vielleicht lässt sich das tatsächliche Alter von Marie und ihren Eltern irgendwo unauffällig einbauen. Andererseits scheint es sonst niemanden gestört zu haben…

Sehr gelungen finde ich, wie Du in die angenehmen Erinnerungsfetzen die zunehmend harte Wirklichkeit eingebaut hast, um sie zum Schluss ganz außen vor zu lassen. Der letzte Eindruck ist dem Sterben zum Trotz positiv, wirkt auf mich aber nicht überzogen oder unrealistisch.

Hat mir gut gefallen!

Viele Grüße
Ane

 

Hallo Ane,
danke Dir.
Für mich ist sie eine erwachsene Frau mit Eltern, die sie überleben. Aber sie könnte auch ein Kind sein mit Kurt als fiktiven Freund. Ich möchte dem Leser die Wahl lassen.
Liebe Grüße Damaris :-)

 

PS.: Eigentlich ist "Brückenbauer" eine Liebesgeschichte, oder?

Salü Damaris,

ja, so empfand ich sie beim ersten Lesen und auch jetzt noch. Du hast gut überarbeitet und die Geräusche integriert. Fein.

Kleiner Tippfehler noch:

sucht eine Hand, die Nase juckt! Sie juckt,
dass
ihr die Augen tränen.

ohne Zeilenumbruch

und im letzten Satz:

"Und dann, Marie, dann bau ich Dir eine Brücke darüber, bis ans andere Ufer."

Vor der Überarbeitung las ich, glaube ich, "Und dann, Marie, dann bau ich Dir eine Brücke, bis ans andere Ufer." Ohne darüber und das fand ich schöner, bis ans andere Ufer sagt das ja. Schau nochmal, es klang und las sich melodischer.

Lieben Gruss,
Gisanne

 

Hallo Gisanne,
Du hast wieder Recht :-)
Irgendwie hat mich das beim Lesen auch gestört, aber manchmal braucht man erst die Draufsicht.
Danke und liebe Grüße von Damaris.

 

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