- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Brückengedanken
Brückengedanken
© 2004 by Shade
Langsam verschwand die Sonne über dem Horizont, tauchte den Himmel und die Wolken in schillerndes Rot und Orange. Ein kühler Nordwind, der nach Salz und Freiheit roch, strich sanft über die Wellen der Ostsee, die von der Fehmarn Sund Brücke aus, ganz winzig aussahen. Der tägliche Touristenverkehr über die Verbindung mit dem Festland war abgeebbt, auch Pendler waren fast keine mehr unterwegs, denn heute war irgendein Fußballsamstag. Ein Länderspiel wurde heute im Fernsehen übertragen und deswegen war die E47 wie leer gefegt. Das war gut.
Dort wo das Fahrwasser der Schiffe die Brücke kreuzte, war sie am höchsten, wie hoch, das wußte Frank nicht, aber er war sich sicher, es würde reichen. Die Tiefe, sie rief nach ihm. Dort unten, wo er das Kräuseln des Wassern im schwindenden Tageslicht kaum noch erkennen konnte, dort unten lag die Freiheit, der Weg aus all den Problemen dieser Welt. Er würde frei sein, es war entschieden, jetzt und für ewig. Niemand konnte ihn heute zurückhalten, der Zeitpunkt war richtig gewählt. In ein paar Tagen würde man den Wagen auf dem Parkplatz finden, den er vorsorglich in der hintersten Reihe abgestellt hatte, direkt neben einem alten Ford, dem man bereits die Räder geklaut hatte. Aber das kümmerte Frank nicht, er starrte in die Tiefe. Er hatte sich eine Tauchergürtel besorgt und sich umgeschnallt. Die gut vierzehn Kilo Blei zogen heftig nach unten. Sie wollten wir er dort hinunter, hinab bis auf den Grund, nie wieder zurück. Doch nun hielt er inne. Ein kleiner Zweifel in ihm formte einen Gedanken.
Würde er seine Frau dort wiedersehen, den alten Drachen? Frank schauderte.
Die Leute glauben an ein Leben nach dem Tode. Was war das für ein Leben? Da scheiden sich die Geister. Frank war eigentlich ein guter Christ, so lange er auch nachgrübelte, er hatte keine Sünde auf sich geladen, so war ihm doch das Himmelreich verheißen. Fehler hatte er viele gemacht, einer davon war es gewesen Inga zu heiraten.
Sie war so oft fremdgegangen, daß Frank es aus Ausnahme empfand, wenn sie mal mit ihm schlief. Sie machte ihm das Leben zur Hölle, gab das ganze Geld für Kleider, Parfüm und Schuhe aus. Seit Jahren hatte sie kein gutes Wort für ihn übrig, demütigte in, wo es nur ging. Aber all das hatte er ertragen, im Alkohol ertränkt. Vor einigen Monaten war Inga dann schwanger geworden, und er war sich wirklich sicher, daß es sein Kind war. Aber als sie es dann abgetrieben hatte, ohne mit ihm gesprochen zu haben, beschloß er, sich das Leben zu nehmen. Es war ihm kein anderer Ausweg eingefallen. Tagelang hatte er nach dem passenden Weg gesucht, eine um die andere Lösung verworfen, bis ihm nur noch eine blieb. So hatte ihn sein weg hierher geführt, auf das Geländer der Brücke, doch nun zögerte er.
Der Schrei einer vorbeifliegende Möve riß Frank aus seinen Gedanken. Ein Schiff näherte sich der Brücke. Frank erkannte die Lichter eines Ausflugsdampfers, der gemächlich auf die Stelle zusteuerte, wo Frank stand. Jetzt würde er nicht springen, womöglich sah man ihn und würde ihn retten. Nein, er wollte warten bis ihn niemand mehr sehen konnte.
Der Himmel war inzwischen dunkel geworden, die Sterne und der Mond kamen heraus. Der Wind frischte auf und trieb dunkle Wolken heran. Es würde Regen geben. Aber was machte das schon, wenn er jetzt Regen abbekam? Er würde bald ganz naß sein und schlafen. Frank wurde ungeduldiger, als er darauf wartete, daß das Schiff endlich verschwand. Warum fuhr es nur so langsam?
Dem Ausflugsschiff folgten noch ein paar Fischerboote. Die Kälte drang durch die Ritzen seiner Jacke, kroch die Hosenbeine empor. Er fröstelte.
Frank begann wieder zu überlegen, er glaubte etwas vergessen zu haben. Hatte er wirklich alles bedacht? Es war etwas falsch.
Dann fiel es ihm endlich ein, was man ihm in der Kirche gelehrt worden war, daß die Leute nach dem Tode für ihre Sünden büßen müßten. Selbstmord ist eine Todsünde und egal was er vorher getan hatte, er würde ihm Fegefeuer enden.
Frank schluckte schwer, als ihm die Konsequenzen klar wurden.
Er würde dorthin kommen, wo er Inga eines Tages wiedersehen würde. Das war es, was er nicht bedacht hatte. Wenn er jetzt sprang, dann würde er dahin kommen, wo seine Frau auch landen würde, für ewig.
Hastig riß er sich den Tauchergürtel herunter. Mit einem Schrei, in den er all die Verzweiflung legte, die er in sich trug, warf er den Gurt über das Geländer.
Nein, das war ja schrecklich, konnte er denn seinem Schicksal gar nicht entfliehen?
Der Gurt fiel.
Lange.
Er verlohr ihn aus den Augen.
Sekunden später erst hörte er ganz schwach ein dumpfes Platschen.
Da hatte er hinunterspringen wollen?
Ernüchtert schüttelte Frank über sich selbst den Kopf.
Er drehte sich in die Richtung aus der er gekommen war und ging zu seinem Auto, das immer noch treu und brav auf dem Parkplatz wartete. Als er wieder hinter dem Steuer saß, begann er zu weinen. Tränen rannen ihm über die Wangen, weil er keinen Ausweg wußte.
Als die Tränen verebbt waren, drehte er am Zündschlüssel, der Motor erwachte zum Leben. Er fuhr langsam nach Hause, zurück nach Kiel. Das Radio spielte gerade „Knocking on Heavens Door“, Frank summte leise mit, wieder kullerte ihm eine Träne über das Gesicht, dann kamen Nachrichten. Frank hörte nur mit einem Ohr hin. Er grübelte wieder über sein gescheitertes Vorhaben, verlor sich in Selbstmitleid.
Nach der allgemeinen Politik kam eine Lokalmeldung. Irgendwo ihn Kiel war ein Haus in die Luft gefolgen. Gasexplosion. Grimmig schaute Frank über sein Lenkrad auf die Straße. Es gab Menschen die Gott zu sich holten. Warum nicht ihn? Warum mußte er mit dieser Frau zusammenleben?
Vergraben in seine Gedanken fuhr er nach Kiel hinein, er summte die Melodie des Liedes weiter, das sie vorhin gespielt hatten. Irgendwie fand er es passend. Als er in seine Straße einbog, mußte er anhalten. Ein Polizeiauto blockierte den Weg, Blaulichter soweit er sehen konnte. Ein Polizist, kam auf ihn zu winkte ihm umzudrehen. Frank reagierte nicht, sondern starrte auf die Stelle, wo eigentlich sein Haus stehen sollte. Es war weg.
Der Polizist kam ärgerlich näher und gestikulierte, er solle wenden, doch er reagierte immer noch nicht.
Auf Franks Gesicht breitete sich zum ersten Mal seit zehn Jahren eine breites Grinsen aus.