- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Brüder
Drei Teller, drei Tassen, blitzblank, auf einem modischen Halbrund von Tisch, das an die Wand grenzt. Daneben schauen zwei längliche, kleine Fenster auf den Innenhof, über dem der Himmel zusammenbricht; gleichmäßiger, energischer Regen, das graue, massige Gewölk wälzt sich um, dazwischen schießt ein Blitz, in einer Aura glühenden Blaus, im Zickzack hinab und taucht das Innere des Zimmer in weißes, gnadenloses Licht.
Auf dem runden Kopf des Vaters, der von Röte bedeckt wird, perlt Schweiß. Die Söhne ballen ihre Fäuste und schlagen auf den Tisch wie die Trommler auf Sklavenschiffen, die den Takt des Ruderns vorgeben und ziehen dabei wütende Fratzen. Der Vater wischt immerzu den Schweiß von der Stirn und spottet mit müdem Lächeln. „Ihr könnt ja selbst kochen, ihr faulen Säcke… Ihr faulenzt tagsüber, erscheint und wollt Fressen, Fressen, Fressen.“ Darin erklingt seine Boshaftigkeit, aber es trommelt im etwas schwermütigen Takt. „Wir haben Hunger, Hunger, Hunger!“
Die Falte des Zorns zeichnet sich auf der Stirn ihres Vaters ab und dunkelgraue Brauen bilden darunter eine Diagonale. Er wischt immerzu Schweiß von der Stirn, kratzt den wulstigen Kugelbauch. „Nichtsnutze…“, sagt er und unterdrückt die Wut über diesen Mangel an Würdigung seiner Tätigkeiten; es ist eben dieser Mangel, den er seinen Söhnen ständig vorwürft; und er füttert sie, und finanziert und arbeitet; wie sie manchmal vor Verwöhnung ihre Zähne fletschen, sich ins Zimmer verkriechen und heulen können sie, ja, kreischen und endlose Fluten von Tränen erzwingen, die dann in den traurigen, verdunkelten Augen schimmern, wenn sie etwas nicht bekommen. Sie ähneln sich; das braune Haar lockt sich bis über Schläfen und Stirn, die etwas zu dicke Nase ragt über den vollen, geschwungenen und glanzvollen Lippen hervor. Jedoch rundet sich das Gesicht des Jüngeren, Armin, gleichmäßig ab; Wangenknochen und Kiefer treten weniger markant hervor; und er kann ein herzerweichendes, unschuldiges Lächeln zwischen seinen Pausbacken zeigen, um das sein Bruder, Johann, ihn schweigend beneidet.
Gemeinsam trommeln sie; der Vater sieht aus dem Augenwinkel die hervor gestreckten Zungen.
„Nichtsnutze, Faule Säcke …“
Langsam erschlaffen die geballten Fäuste zu kleinen, glatten Händen, die sich um die Tassen klammern; langsam erstickt ihr freudiges Hunger-Hunger-Gerufe unter dem Spott, der sich von der Zunge des Vaters löst: „…Johann, hast du heute gelernt? Nein, was? Der kleine Johann lässt das Leben fließen. Du bist achtzehn und kriegst es nicht gebacken. Die Karriere als Hartz-4-Empfänger hat er im Visier, überquellend vor Stolz. Und Partys, Saufen, etc… Gleich lernst du…“ Er schwingt den Kochlöffel und rührt im dampfenden Gebräu; seine Halbglatze wird stellenweise von einem Glanz überzogen. „… Boah, Armin, dein Gestank, du Pottsau, das rieche ich bis hierhin… hast du heute schon geduscht?...“
Johann erkennt die Situation und wechselt die Seiten, wobei er gemein, reizend, begleitet von dem Dahinfahren der Zunge entlang der Lippen, seinen Bruder anlächelt.
„Er duscht nicht, der steht auf und hockt sich vor den Computer, in Unterwäsche. Nachmittags irgendwann streift er sich Shirt und Jogginghose über.“
Armin, verstummt, schaut gedankenverloren in das Rund seiner Tasse. Die Seele reißt auf; und ein Gefühl von Unwürdigkeit, Dummheit fließt hinein, bald erstickt Freude und Kindlichkeit in Scham; der Kopf sinkt zurück, will in den Körper hinein sinken, wie bei Schildkröten; auch seine Bewegungen vollziehen sich in der Geschwindigkeit von Schildkröten, und er will den Druck krampfhaft in der Umklammerung seiner Tasse entlassen. Nicht aufschauen, denkt er, auf keinen Fall in die Augen des Vaters, des Mächtigen schauen, weil seine Augen hervorzuquellen scheinen, wenn er zornig ist, wenn die Brauen die Diagonale bilden; und dann sind die Augen lebendig, bohren sich in in mich hinein, denkt er. Und der Vater entblößt danach, mit der Macht von Worten, ja, die Kraft des Geistes, die Zerstörungskraft. Weil der Vater doch Goethe und Thomas Mann liest, weil der Vater sein Vater ist. Ihn schaudert es bei dem Gedanken an dieses unüberwindbare Dogma, das da in Cort-Jeans und Hosenträgern am Herd hantiert, eine Gänsehaut überzieht Nacken und Arme. Der Vater sagt: "Dieses Wetter!" und serviert. In der Mitte des Tisches strömt Dampf aus dem Topf.
Der Regenguss hat sich verstärkt; die Wolkendecken, eben hie und da durchlöchert, schlossen sich zusammen in ein Meer aus Grau, das schäumt, sich auftürmt, verdunkelt im Anbruch der Nacht.
Während der Mahlzeit beruhigt sich Armin, erwähnt - und will damit seine Demut beweisen - er habe Kafka gelesen; die Verwandlung, das Urteil. „Ich verstehe es nicht ganz… ich habe ein ganz eigenartiges Gefühl, wenn ich ihn lese… die Geschichten sind wie Träume… ich weiß nicht… nach jeder von ihnen überkommt einen diese dumpfe Unsicherheit; aufgewühlt, zerrissen fühle ich mich, eine unheimliche Beängstigung fühle ich.“ Dass fleischige Doppelkinn stützt der Vater auf eine Handfläche. „Ich verstehe dich vollkommen...“, bestätigt er und stochert mit der Gabel auf dem Teller herum. „..In der Schule, als wir Kafka gelesen haben, erwachte meine Begeisterung… Weißt du warum? Wegen der verdutzten Gesichter, wegen der Verständnislosigkeit, die sich breit machte, in Schülern und Lehrern, ja, auch in Lehrern. Die verschlüsselte Sprache, aus Unbewusstem zusammengesetzt, die ins Innerste zielt, zeigte sogar den blasierten Lehrkörpern, die Germanistik studiert hatten, ihre Grenzen auf. Und da war ich fasziniert, weil ich ein Talent dafür hatte, ihn zu entschlüsseln. Ich konnte es allen zeigen.“
In dem Gespräch wählt Armin seine Worte mit Bedacht, gerät durch seine langen, unsicheren Überlegungen häufig ins Stottern. Ihnen fiel Johanns wütender Blick nicht auf. Der Blick gleitet wie eine Gondel am Seil zwischen Sohn und Vater hin und her, in ihm breitet sich tiefer Hass und Neid aus. „Armin, du stinkst so abartig.“, sagt er, als sie verstummen. Draußen trommelt blechern der Regen auf einem Auto, dass in den Innenhof einfährt. „Halt die Klappe.“, entgegnet Armin.
„Dusch dich!“
„Seid endlich still.“, unterbricht der Vater, aber die Söhne fauchen, Armin zeigt die gelben Zähne, Johann spottet bösartig. Ein Kampf findet zwischen ihren Blicken statt. „Wie willst du mit dem Gestank eine Frau abkriegen?“
Armin wehrt sich: „Was willst du von mir? Du bist dumm wie Brot. Da du hier unter den Intelligenten verweilst, stumm, weil dir zu Kafka nichts einfällt, musst du dir irgendwie deinen Respekt verschaffen und das durch Spott, geklauten Spott, es ist ja nicht einmal dein Spott, du übernimmst ihn, weil du zu dumm bist, um eine eigene Meinung zu besitzen, zu dumm, einfach, dumm. Und damit kriegst du weder Schulabschluss, noch Arbeit, noch eine Frau.“
Schweigend und überrascht lehnt sich der Vater zurück. Johann rümpft die Nase und zieht den Schnodder hoch, während seine Brauen, denen des Vaters ähnlich, eine Diagonale bilden. Zähne schaben über die Lippen, als wolle er gleich nach Armins Fleisch schnappen. Er saugt tief Luft in den Brustkorb, der sich aufbläht und aufrichtet. Und er kratzt die Nase, sekundenlang, umflossen von der unheimlichen Beleuchtung eines den Himmel hinab zuckenden Blitzes. Armin, entsetzt von der zornigen Fratze, die das Gesicht des Bruders entstellt, schmiegt sich an die lederne Polsterung des Stuhls und ein unheimliches Schaudern vor dem Tierischen in dessen ruhelosen Augen, vor diesem wahnhaften Kratzen der geröteten Nasenspitze durchfährt ihn. Er erstarrt. Johann brummt: "Halt deine Fresse!"
Und Armin schaut aus dem Fenster, in der Hoffnung durch äußere Ruhe, Gleichgültigkeit Johann zu besänftigen. Tobender Wind lässt büschelweise Geäst und Blätter der Erlen, die den von Schatten durchrissenen Innenhof umstehen, hin und her schwingen, bläst kleine Wellen über Pfützen, welche den unebenen Asphalt beflecken; Wasser gerinnt zu den überlaufenden Gullideckeln.
Ein fast unhörbares Flüstern ertönt: "Du einfältiger Bastard!"
Danach schlägt Johann zu, wobei die Fäuste zuerst ins Leere stoßen und dann den Bruder um so wuchtiger knapp neben den Schläfen und am Kiefer treffen; wobei dieser, kurz wie betäubt, nach hinten kippt, mit schmerzverzerrtem Gesicht, röchelnd, weil er sich verschluckt hat. Eine Hand streckt sich nach dem Tisch aus, als er am Boden liegt, mit Tritten überhäuft. Er fühlt keinen Hass, nur ein Schmerz, der an den getroffenen Stellen an- und abzuschwellen scheint, ein innerliches Zittern, wie von Vibrationen, die der Schock auslöst. Schließlich schiebt sich die massige Gestalt des Vaters ungelenkig dazwischen und seine fleischigen Arme umklammern Johann, drücken ihn mit ganzem Gewicht gegen den Tisch.
"Beruhige dich!", sagt er.
Und draußen regnet es weiterhin, unermüdlich.