Braut oder nicht Braut
„Bis dass der Tod ...“ – weiter war der Priester nicht gekommen. Denn in diesem Moment hatte die Erde gebebt, die Wände hatten gewackelt und unter ihm hatte sich ein Schlund geöffnet, in dem es glühend brodelte, und aus dieser Masse war eine gewaltige Hand erschienen, von der flüssige Lava tropfte. Sie hatte ihn entschlossen ergriffen. Und bevor er auch nur schreien konnte, war er auch schon gurgelnd und mit einem kurzen Zischen in der weiß-orangen Masse verschwunden.
Dann war nur noch Stille. Stille und Stille. Stille und staubiger Nebel, der ihr kurz den Atem nahm. Stille und Leere, denn als der Nebel sich endlich gelegt hatte, sah sie, dass sie allein in der Kirche war. Da selbst der Priester das Weite gesucht zu haben schien, hatte sie den Brautstrauß vom Altar genommen, den Staub weggepustet und dabei etwas gehustet. Dann hatte sie sich den Schleier noch etwas zurechtgerückt und sich allein auf den Heimweg gemacht.
Strahlender Sonnenschein empfing Elke, als sie durch das Kirchenportal nach draußen trat. Eine Straßenbahn donnerte an der Kirche vorbei. Die Menschen lächelten sie an. Erst da hatte sie gemerkt, dass sie ja noch immer ihr Brautkleid anhatte, cremefarben - einem weißen hatte sie sich verweigert - den Schleier, passende Pumps, das Täschchen - und wenn es in der Nacht nach der Feier in dem romantischen Patrizierschloss im gemeinsamen Bett ... Nun, selbst die Dessous hätte sich dezent mit der Farbe des Kleides arrangiert.
Aber zu diesem Happyend war es ja nicht mehr gekommen. Sie war allein die Treppen der Kirche hinabgestiegen; von ihren Gästen war keine Spur. Und dann ging sie zu Fuß nach Hause. Die Menschen blickten ihr nach. Eine Braut, die alleine durch die Stadt eilte, erregt Interesse. Und sie war froh, als sie endlich den Schlüssel in das Schloss ihrer Wohnungstüre stecken und sie öffnen konnte. Ein Duft von Kaffee und Alkohol kam ihr entgehen: Sie hatten vor dem Kirchgang mit den Verwandten noch einen getrunken: Diejenigen, die von weiter her gekommen waren, hatte sie mit Kaffee versorgt; die Einheimischen mit einem Schlückchen Sekt, mit oder ohne Orangensaft – je nach Geschmack und Verträglichkeit. Dazu hatte es Häppchen gegeben. Sie hatten gescherzt und sich noch einmal gekämmt. Die Frauen hatten den Männern noch die Flusen von den Anzügen gezupft.
Und als alles bereits zum Aufbruch drängten, hatte das Telefon geläutet. Es war wohl die Gewohnheit, die sie zum Hörer greifen ließ. Sie hatte ihn sofort erkannt. Dass sie gerade zur Trauung aufbrechen wollte, konnte sie ihm einfach nicht sagen. Es kam ihr einfach nicht über die Lippen. Aus irgendeinem Grund kam ihr das Wort „Verrat“ in den Sinn. Sie stotterte etwas, brachte ihre Sätze nicht zu Ende. Sie hatte ihn immer gemocht, aber jetzt störte er - definitiv. Nur kurz erschien sein Gesicht vor ihrem inneren Auge; sein Gesicht und seine Hände: kräftig und zupackend. Es waren schöne Hände gewesen. Sie hatten mal eine kleine Liebelei gehabt; nichts Ernstes, nur gucken. Aber sie kann sich daran erinnern, wie seine Hände ihren Rücken gestreichelt hatten, als sie sich einmal umarmt hatten, im Schatten einer Scheune. Aber er hatte eine feste Freundin, die gerade schwanger war. Das hatte sie gewusst und sich von ihm gelöst. Ein Bussi, das war alles gewesen. Und vorhin war er wieder am Apparat gewesen, wollte sie einladen, mit ihm eine Ausstellung zu besuchen, und sie hatte sie ihn mit fadenscheinigen Gründen abgewimmelt.
Zuerst befreit sie ihre Füße von den Pumps und ließ sich auf das Sofa fallen. Sie musste jetzt nicht mehr auf das Kleid achten. Sie war jetzt keine Braut mehr, sondern eine Witwe. So unglücklich war sie gar nicht darüber. Schließlich war es keine Liebesheirat. Er war an sich kein Unrechter gewesen. Aber auch kein Traumprinz: Er war dick und laut und als Heimwerker eine totale Fehlbesetzung, er neigte zur Selbstgefälligkeit und schnellem Schwitzen. Und so wie er küsste, was es an der Schwelle zu Unerträglichkeit. Aber er war zuverlässig, verdiente kaum weniger als sie und hatte noch immer einen überraschenden Humor an den Tag gelegt. Und da sie schwanger war, hatte er auf eine Hochzeit bestanden. Das Kind sollte ehelich auf die Welt kommen. Nach der Geburt hätten sie sich – das war so aus gemacht – wieder scheiden lassen. Das fand sie amüsant und in Ordnung. Aber das war jetzt ja nicht mehr nötig. Sie war Witwe und hatte nun Anspruch auf eine nicht ganz unerhebliche Erbschaft. Nur mit der Lebensversicherung könnt es noch Probleme geben. Schließlich gab es keine Leiche.
Sie erhob sich wieder, wollte zum Kühlschrank gehen. Dabei versuchte sie den Reißverschluss des Kleides zu öffnen, was nicht leicht war. Er hatte ihr vor der Kirche helfen müssen, ihn zu schließen. Sie war froh, dass jetzt niemand sah, wie sie sich verrenken musste, um den Zipper zu erreichen. Schließlich griff sie nach dem langen Metall-Schuhlöffel und versuchte, über den Kopf greifend, den Verschluss langsam nach unten zu ziehen, so dass sie ihn dann endlich mit der anderen Hand übernehmen und gar hinunterziehen konnte. Der Plan war gut, doch der Schuhlöffel zu lang. Daher ergriff sie eine Gabel: Nach ungezählten Anläufen klappte es. Als das Kleid zu Boden fiel, fühlte sie sich richtig befreit und als sie dann am großen Spiegel vorbeikam und sich sah, in Spitzenunterwäsche und eleganten Strümpfen, lächelte sie sich anerkennend und mit einem Hauch von Verruchtheit an. Selbst ihre sonst sehr flachen Brüste hatten durch den BH etwas Volumen bekommen. Sie fand sich unwiderstehlich und sexy.
Dann öffnete sie den Kühlschrank, nahm eine Flasche Champagner heraus. – Sekt vor, Champagner nach der Hochzeit – so war es geplant. – Elke ließ den Korken knallen; Schaum tropfte auf den Küchenboden. Sie nahm einen großen Schluck aus der Flasche, griff nach dem Teller mit den Häppchen, ging zurück zum Sofa, ließ sich hineinfallen, stellte die Flasche neben sich auf das Sofa, lächelte entspannt, angelte sich ein Schnittchen mit Lachs und nahm zum Runterspülen einen so großen Schluck Champagner, dass sie sich kurz verschluckte und er ihr aus den Mundwinkeln floss, das Kinn und den Hals hinab und dann zwischen ihre Brüste, was ein wohliges Kribbeln auslöste. Als sie sich gerade überlegte, wie sie den Champagner noch lustbringend einsetzen könnte, ertönte das Telefon.
Ein Lächeln huschte ihr über die Lippen; doch als sie das Gespräch annahm, war es nur das Restaurant des Ausflugsschiffes. Eine höfliche jung klingende Männerstimme fragte nach, wo die Gäste blieben. Sie würden in einer Viertelstunde ablegen. Keine ungewöhnliche Frage, aber was war ihre Antwort? Sie wusste es nicht. Das beunruhigte sie an sich nicht sonderlich. Aber der Mann wollte ja eine Antwort. Sie sagte daher mit fester Stimme: „Wir kommen gleich!“ Und damit war das Gespräch beendet. Noch ein Griff zum Champagner. Und sah sich plötzlich mit dem Problem der richtigen Kleidung konfrontiert. War sie nun eher eine Braut oder eine Witwe? Für die Braut sprach, dass sie ja ordentlich verheiratet war und die Ausrüstung – vom Schleier bis zum Täschchen – immerhin einiges gekostet hatte. Es war zwar gebraucht, aber von guter Qualität. Für die Witwe sprach, dass sie ja tatsächlich eine war und ohne fremde Hilfe nie und nimmer in dieses Brautkleid kommen würde.
Auch um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, bestellte sie jetzt telefonisch ein Taxi. Die Entscheidung war dann ein femininer Kompromiss: statt des Brautkleides das kleine Schwarze, also Witwe, Der Rest blieb Braut. Als sie fertig war, klingelte es an der Tür. Ein Blick aus dem Fenster: das Taxi. In der einen Hand die Pumps, in der anderen die Champagnerflasche machte sie sich auf, schloss ab und eilte die Treppe hinab. Mehrmals fiel sie beinahe hin, weil ihre Strümpfe auf den Holztreppen zu wenig Halt hatten. Unten rückte sie ihren Schleier wieder zurecht: Er saß einfach zu locker auf ihrem wirren Haar, das noch dazu vom vielen Staub ganz spröde war. Aber sie war eine Braut und zu einer Braut gehörte ein Schleier.
An der Anlegestelle angekommen, verwunderte sie die Ruhe, die über dem Schiff lag. Sie betrat es über die wackelige Brücke, noch immer in Strümpfen, zog auf dem Schiff ihre Schuhe an und balancierte zu einer älteren faltigen Dame in einer Fantasieuniform, die unter dem Schild „Information“ saß. Unwillig und mit einem missbilligenden Blick auf die mitgebrachte Champagnerflasche beschrieb diese ihr den Weg zu ihrem Tisch. „Vielleicht sind doch schon alle da?“, flackerte es kurz in ihrem Kopf auf, nahm noch einem kräftigen Schluck und machte sich auf den Weg. Sie betrat einen großen Raum. Sie zählte zehn Tische. Davon waren neun gedeckt. Lange Ta-feln für bis zu 30 Personen. Einer war leer und würde wohl später als Büffet dienen. Und an jedem dritten saß eine Braut – alleine. Wartend. Aber niemanden schien das zu wundern.
Auf einer kleinen Bühne spielte eine Jazz-Combo Water-Melon-Man mit einem Hauch von Funk. Ein Ober eilte unmerklich hinkend herbei und wies ihr ihren Platz zu. Er schaute sie fragend an und sie nickte. In diesem Augenblick wurde der Motor des Schiffes lauter und als sie aus dem Fenster sah, nahm sie wahr, wie sie sich vom Ufer entfernten. Ihr Blick wanderte durch den Raum: über die Tische, zur Combo, von einer Braut zur anderen. Sie sahen alle etwas steif aus. Und sie stellte fest, dass sie alle gekleidet waren wie sie, vor sich hinstarrten und an einem Kir-Royal nippten. Und ehe sie sich versah, stand auch schon ein Gläschen davon vor ihr. Wiederum lächelte sie der Ober an. Sie stutzte: Das Gesicht kam ihr bekannt vor. Aber da war er schon wieder verschwunden.
Die Combo spielte nun Take-Five und die anderen Bräuten nippten weiter an ihrem Kir-Royal. Sie selbst hatte das Gesöff mit einem kräftigen Schluck runtergespült und mit einem Schluck aus der Champagnerflasche nachgespült. Das Büffet wurde auf-gebaut, wobei der Ober Anweisungen gab und immer wieder zu ihr herüberlächelte. Aus dem Fenster blickend sah sie romantische Uferlandschaften an sich vorüberziehen: malierische Städtchen mit Fachwerk, Weinberge, dazwischen gelbe Rapsfelder. Vielleicht sollte sie aus der Stadt ziehen und sich hier draußen ein Häuschen kaufen. Von ihrer Erbschaft. Mit einem Garten, dann hätte sie endlich eine Werkstatt Platz für ihre Skulpturen. Sie hatte vor zwei Jahren angefangen, Skulpturen herzustellen. Meist aus Holz. Sicherlich, sie war keine Künstlerin, aber es gefiel ihr, mit der Kettensäge, aus den Holzblöcken gewollte Formen zu schneiden und sie denn bewusst der Verwitterung preiszugeben.
In den Gedanken hinein merkte sie, dass sich jemand neben sie setzte. Es war der Ober, er lächelte sie an. „Und? Bist du jetzt zufrieden?“, aus dem Lächeln wurde ein breites Grinsen, als er merkte, dass sie ihn noch immer nicht erkannt hatte. Erst langsam wurde ihr bewusst, wer vor ihr saß und was er meinte. Er hatte noch immer dieses spöttische Lächeln und den herben Geruch. Er hatte sich gar nicht so sehr verändert, seit damals. An der Stimme hätte sie ihn erkennen können.
Die Musik hatte zu spielen aufgehört und die Musiker standen in ihrer letzten Bewegung erstarrt auf der Bühne. Die anderen Bräute saßen wie versteinert da: Die eine das Glas auf halben Weg zum Mund, die andere umgriff es gerade noch am Tisch und die dritte setzte es gerade zum Trinken an, ohne dass die Bewegungen weitergingen. Der Ober stand auf, trat kurz neben sie, stupste eine nach der anderen an und sie fielen um, vom Stuhl, und zerbrachen in tausend Scherben, über die sich ihre Kleider legten.
Er zuckte nur mit der Schulter, setzte sich wieder neben sie, schwieg noch etwas, redete dann doch weiter, ihr zärtlich mit dem Zeigfinger über den Handrücken streichelnd. Sie entzog ihm die Hand. „Und meine Gäste?“ – „Da habe ich es wohl etwas übertrieben“, grinste er und ließ seinen Finger über ihren Brauen und ihre Nase gleiten. „Willst du meine Frau werden, Elke?“, seine Stimme klang sehr ernst. Sie blickte ihm lange in die Augen und sagte dann: „Nein!“ Dann nahm er ihr den Schleier ab.
Am nächsten Tag konnte man eine Anzeige in der Zeitung lesen: „Brautkleid, wunderschönes champagnerfarbenes Cocktailkleid, Gr. 36/38, mit Pailletten, Glasperlen, Strasssteinchen bestickt, Reißverschluss am Rücken, langer Schleier. Passende Pumps und Dessous. Garantiert ungetragen.“ Elke log nicht gern. Und doch hoffte sie, dass sie eine Käuferin fand .