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Brief an die Söhne
Vater stirbt an einem Dienstag. Gerade habe ich die Zwillinge zur Schule verabschiedet, als Tante Margrit anruft und die Nachricht überbringt. Vater und ich haben uns Zeit seines Lebens nie besonders nahe gestanden, trotzdem spüre ich, wie etwas in mir zerbricht, als meine Tante durchs Telefon schluchzt: „Tom, Gerd ist heute Nacht von uns gegangen.“ Ich stammle irgendwelchen Unsinn, reiß‘ mich jedoch zusammen und verspreche, Karl und Hauke zu benachrichtigen. Ich würde zurückrufen, sobald ich wüsste, wann ich fort könnte. Bevor ich auflege, bedanke ich mich für den Anruf. Der Tod lässt mich wie ein Idiot aussehen. Ich atme tief durch, will schlucken, doch ein Kloß groß wie der Affenfelsen schnürt mir den Hals zu. Kurzerhand spüle ich ihn mit einem großen Glas Scotch runter. Dann weine ich doch ein wenig, was gut tut, denn Tränen lösen Klöße besser als Whisky.
Das Gespräch mit meinen Brüdern verläuft sachlich und ruhig. Das mit Ulla, der Ex-Frau meines Vaters weniger; Vater hatte Recht, als er befand, Ulla habe schwere emotionale Probleme. Ich richte ihr aus, dass Vater gestorben sei, wir sie bei der Beerdigung aber nicht dabei haben wollten. Sie wird fürchterlich wütend, schreit, den Alten solle der Teufel holen, und dass sie nie vorgehabt hätte zu kommen. „Gut“, schieß‘ ich zurück und knall‘ den Hörer auf die Kabel.
Von meinem Chef lasse ich mich für den Rest der Woche beurlauben – was ist kein Problem ist, da ich mein eigener Boss bin. Ich will mir angemessen Zeit nehmen, um Vater ausreichend zu verabschieden, denn obgleich wir nur selten einer Meinung gewesen sind, eigentlich nie derselben Meinung waren, habe ich immer so etwas wie Respekt für den Alten empfunden. Undankbarkeit will ich mir jedenfalls nicht nachsagen lassen, schließlich ist er es gewesen, der mich zu sich ins Leben geholt hat – und so manches Mal aus der Patsche.
Ich muss die Mädchen irgendwo unterbringen, doch außer Caro fällt mir niemand ein. Mit einem unguten Gefühl im Magen – das nicht vom Scotch herrührt –, wähle ich die Nummer meiner ich-kann-nicht-mit-ihr-und-nicht-ohne-sie Freundin. Zu Hause geht sie nicht ran. Dass es fast schon Mittag ist, stelle ich entsetzt fest und versuche es im Laden. Dort habe ich mehr Glück – wenn man das so nennen mag.
„Was willst du?“, blafft sie mir entgegen, als sie kapiert hat, wer dran ist „Du rufst doch nicht an, nur um dich nach meinem Wohlbefinden zu erkundigen.“ Sie ist wohl immer noch sauer, doch darauf kann ich jetzt unmöglich Rücksicht nehmen.
„Hör‘ zu, Caro! Mein Vater ist heute Nacht gestorben. Ich brauch‘ jemanden, der die nächsten fünf, sechs Tage auf die Zwillinge aufpasst.“
Das Spielchen beherrsche ich besser als sie und es verfehlt seine Wirkung nicht: „Oh Tom, Entschuldigung... ich wusste nicht... mein Gott, wie geht es dir?“, stottert sie bestürzt.
„Geht so. Nicht so gut, glaub‘ ich. Mein Vater und ich, wir... . Ich muss so schnell wie möglich nach Karlsruhe, die Beerdigung organisieren. Du weißt schon, der ganze Scheiß, der jetzt ansteht, der geregelt und in die Wege geleitet werden muss. Du erinnerst dich sicher, dass der alte Mann recht vermögend ist. Eigentlich ist ...war er sogar steinreich. Mal abwarten, ob die Familie sein Erbe schultern kann, ohne erdrückt zu werden. Bitte, Caro! Ich bin mir durchaus bewusst, dass es momentan wieder mal schwierig mit uns ist, aber es wäre mir wirklich eine Riesenhilfe, wenn du die Woche über auf die Mädchen aufpassen könntest. Samstag bin ich wieder zurück, Sonntag allerspätestens.“
Ihrer Antwort geht ein aufgekratztes Schnauben voraus. Es erinnert mich an ein Rennpferd kurz vor dem Start. 3,2,1 – die Box springt auf und los geht die wilde Hatz: „Scheiße Tom, sag‘ mir mal, wie ich jetzt, in so einer Situation Nein sagen soll? Aber es ist genau das, was ich meine: wenn du mich brauchst, muss ich springen, dann bin ich gern gesehen. Aber sonst...“
„Tu‘ ja nicht so, als ob ich das geplant hätte.“, unterbreche ich sie barsch und beginne mich in Rage zu reden. „Fang‘ gar nicht erst an, verstanden? Na klar! Der Tod meines Vaters passt mir wirklich hervorragend in den Kram. Eine großartige Gelegenheit, dich herumzukommandieren und auszunutzen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich es genieße, Macht über dich auszuüben.“ Das hätte ich nicht sagen sollen, schließlich will ich etwas von ihr – und Caro ist sich dessen vollends bewusst. „Tom, du verstehst es wirklich, andere um etwas zu bitten. Ich leg‘ jetzt auf. Such‘ dir doch ‘nen anderen Dummen.“
„Warte Caro, bitte, leg‘ nicht auf!“, lenke ich beschwichtigend ein und wechsle in einen leidvollen, fast weinerlichen Tonfall, der Verzweiflung suggerieren soll: „Tut mir leid, ich bin total durcheinander. Könntest du BITTE, auf die Mädchen aufpassen, während ich weg bin? Bitte!! Wanda schwirrt irgendwo in der Weltgeschichte rum und deswegen... naja, im Moment bist du die einzige, die ich fragen kann. Versteh‘ das jetzt bitte nicht falsch. Es ist nur so, dass ich Pip und Bianca unmöglich mitnehmen kann. Die beiden sind zu klein, als dass sie das ganze Tohuwabohu verstehen würden, geschweige denn, den Tod ihres Großvaters richtig einordnen könnten. Und was, wenn wirklich das große Feilschen ums Erbe entbrennt? Was würden meine Töchter von ihrer Familie, inklusive mir, ihrem Vater denken? Caro, es geht einfach nicht anders. Sie wären nur im Weg. Würdest du das für mich tun? Nicht nur für mich, auch für die Mädchen. Du weißt, wie gern sie dich haben und wie sehr sie sich freuen, Zeit mit dir verbringen zu dürfen.“
Caro ziert sich noch eine ganze Weile – sie will mich zappeln lassen, lässt mich um den Gefallen, der in Wirklichkeit eine Selbstverständlichkeit ist, betteln – und willigt – welche Überraschung –schließlich doch ein. Wir verabreden, dass sie die Mädchen am Abend abholen würde. Auch dieses Mal bedanke ich mich, bevor ich auflege – allerdings aus anderen Gründen.
Zwei Stunden später kommen Pip und Bianca heim. Sie streiten. Pip hätte bei Himmel-und-Hölle betrogen, behauptet Bianca. Pip sagt, Bianca ändere die Regeln immer so, wie es ihr gerade passt. Wahrscheinlich haben sie beide recht. Ich beende den Streit, indem ich ihnen von den Ereignissen des Tages, bzw. der vergangenen Nacht erzähle. Gebannt hören die Zwillinge zu, geradeso als würde ich eine spannende Geschichte zum Besten geben. Im Gegensatz zu Erwachsenen lässt die Begegnung mit dem Tod Kinder nicht traurig, sondern neugierig werden – eine Sichtweise, die man erst im hohen Alter wiederentdeckt. Wo Opa jetzt sei, wollen sie wissen. Ob er Schmerzen gehabt hätte und wie es sich anfühle, keine Eltern mehr zu haben. Auf keine ihrer Fragen, kann ich eine definitive Antwort geben. Zum zweiten Mal an diesem Tag, lässt mich der Tod dumm dastehen.
Ich mache die Zwillinge mit der Idee vertraut, dass sie die nächste Woche über bei Caro wohnen würden. Weil Caro mit ihnen in der Vergangenheit immer sehr nachsichtig – zu nachsichtig, wie ich finde – gewesen ist, freunden sie sich schnell mit dem Gedanken an – wahrscheinlich glauben sie, einen guten Deal eingegangen zu sein: einen Großvater, von dem sie nie viel gehabt haben, gegen eine knappe Woche Abenteuer und Aufregung. Jedenfalls rennen sie schnurstracks rauf ins Obergeschoss, um ihre bonbonfarbenen Plastikköfferchen zu packen.
Caros Klingeln erkenne ich immer und überall, auch wenn ich sie – anders als jetzt – nicht erwarte. Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz. Manchmal kommt sie mir irgendwie verzweifelt vor. Wir kennen uns seit ungefähr zwölf Jahren – länger als ich mit der Mutter meiner Mädchen bekannt bin. Aber nicht annähernd so lange wie Wanda und Caro sich kennen. Sie sind Cousinen und beste Freundinnen – einmal gewesen. Cousinen sind sie natürlich immer noch, nur reden sie nicht mehr miteinander, woran ich – zugegeben – nicht ganz unschuldig bin. Kompliziert geworden ist unsere Beziehung vor etwas mehr als sechs Jahren und neun Monaten auf der Hochzeit meines Vaters mit Ulla. Es wäre nie rausgekommen, wenn Wanda – wie behauptet – verhütet hätte. Oder ich nicht so verdammt betrunken gewesen wäre. Offenbart hat sich Wanda in der 13. Schwangerschaftswoche, doch nicht gegenüber mir; zuerst hat sie es Caro gesagt. Wer der Vater ist, habe ich dann Caro beibringen müssen. Seitdem haben Caro und ich nie wieder gemeinsam unter einem Dach gewohnt. Mit der Zeit haben wir uns zwar wieder zusammengerauft, haben einen Weg gefunden, einander verbunden zu bleiben, doch blindes Vertrauen hat sich seither nie wieder eingestellt. Trotzdem brauchen wir einander. Unsere Liebe ist irgendwie platonisch geworden, nur noch selten gepaart mit einem Schuss Intimität. Dass sie ihre Wut und Enttäuschung über die von mir begangene Dummheit niemals an Pip und Bianca ausgelassen hat, rechne ich Caro hoch an. Ohnehin ist sie den beiden immer eine bessere Mutter gewesen, als Wanda es jemals war, ist und sein wird. Manchmal beschleicht mich das Gefühl, Wanda seien die eigenen Töchter egal – aber solange sie ihren finanziellen Verpflichtungen nachkommt, ist mir das egal.
„Du siehst müde aus.“, begrüßt mich Caro, als ich sie, matt im Türrahmen lehnend, hereinbitte. „Ich hab‘ getrunken.“, entgegne ich, woraufhin sie mich mitleidsvoll, wenn auch künstlich distanziert, in die Arme schließt. Ihre Beileidsbekundungen sind ehrlich gemeint, obwohl sie weiß, dass sie mir nichts bedeuten. Ich bin niemand, der glaubt, geteiltes Leid sei halbes Leid. Mamas Tod hat mich gelehrt, dass Leid immer individuell ist, zumindest der Umgang damit.
„Die Mädchen brauchen noch kurz, sie sitzen noch in der Badewanne. Hast du schon gegessen? Ich hab‘ Curry gemacht.“
„Tom, du weißt, dass ich gegen Kurkuma allergisch bin.“
„Scheiße, stimmt. Willst du was anderes? Wie wär’s mit Omelette oder so? Ich hab‘ auch das Krustenbrot da, das du so gerne isst.“
„Is‘ nett, aber lass mal. Ich bin nicht besonders hungrig. Haben Pip und Bianca schon gegessen?“
„Die haben das Curry gegessen. Aber du kennst die beiden ja, wetten, dass sie ein zweites Abendbrot fordern, sobald sie bei dir sind. Die Gören fressen einem regelrecht die Haare vom Kopf. Hoffe, du hast ‘n bisschen was auf die hohe Kante gelegt.“ Mein erbärmlicher Versuch einer humoristischen Einlage entkrampft die Situation nicht. Sie und ich, wir beide wissen, dass uns ein klärendes Gespräch, eine ehrliche Aussprache bevorsteht – wieder einmal; aber auch, dass jetzt der falsche Zeitpunkt ist. Als wir einander in die Augen blicken, bin ich mir sicher, dass wir die Chance dazu bekommen werden.
„Zerbrich‘ dir darüber mal nicht den Kopf. Anstatt in die Schule, wollte ich sie sowieso auf die Straße Betteln schicken. Dumm nur, dass du sie gerade in die Wanne gesteckt hast. Ungewaschen und verschmutzt bringen sie mehr ein. Denk‘ doch mal nach, bevor du etwas tust.“, entrüstet sie sich und blinzelt mir dabei schelmisch zu. In fast allem ist mir überlegen, denke ich und empfinde das starke Verlangen sie zu küssen. Leider macht Caro keine weiteren Anstalten, Normalität zu signalisieren. Sie ist weder besonders nett, noch außergewöhnlich abweisend – sie ist einfach nur schrecklich pragmatisch. In Beamtenmanier arbeitet sie alle offenen Fragen ab. Sie scheint eine imaginäre Checkliste im Kopf zu haben:
• Stundenplan der Mädchen √
• Schulsachen √
• Wechselkleidung √
• Sportzeug
Sportzeug? „Tom, hast du für die Mädchen Sportzeug eingepackt? Laut Stundenplan haben sie donnerstags die ersten zwei Stunden ‚Sport‘.“ Betretenes Schweigen. „Und was ist mit dem Tenniskurs am Freitag? Wo sind ihre Schläger?“ Mir fällt auf, dass meine rechte Socke total durchlöchert ist. „Verdammt, Tom! Wenn das hier klappen soll, musst du dir ‘n bisschen mehr Mühe geben und mithelfen. Was zur Hölle hast du den ganzen Tag über getrieben? Sag‘ nichts! Ich weiß‘ schon. Hoffe, du nimmst morgen früh ‘n Taxi zum Flughafen.“
„Ich fahr‘ Bahn.“
„Dann eben zum Bahnhof, du Trottel.“ Caro ist genervt, aber nicht wirklich wütend und mein bemüht betrübter Blick lässt sie selbst das vergessen. Sie streicht mir übers Haar und fährt mit den Fingerspitzen meine Wange hinab. „Es tut mir wirklich leid um deinen Vater. Noch mehr tut es mir aber für dich leid. Bitte, Tom reiß‘ dich jetzt zusammen und hilf‘ mir. Ok? Hör‘ auf den pubertierenden Teenager raushängen zu lassen, der nicht weiß, wohin mit seinen Gefühlen. Meinst du, du kriegst das hin?“ Mit einem zweckoptimistischen Nicken beantworte ich still ihre Frage, die wie eine Forderung geklungen hat. Zum dritten Mal an diesem Tag macht mich der Tod lächerlich.
Schließlich kommen wir überein, dass es einfacher sei, wenn Caro zu uns zöge, anstatt – wie ursprünglich geplant – Pip und Bianca zu ihr. Die Mädchen meutern zwar, als sie über die Kursänderung in Kenntnis gesetzt werden, doch Caro gelingt es, ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie stellt ihnen in Aussicht, gemeinsam mit ihr im großen Bett schlafen zu dürfen. Dort steht der Fernseher. Ich drücke Caro den Autoschlüssel in die Hand und sie fährt los, um ihrerseits das Nötigste von zu Hause zu holen. Am nächsten Morgen fährt mich Caro zum Bahnhof – ich habe echt Glück mit ihr. Das sage ich ihr endlich auch mal, bevor ich aussteige und unsere sich Wege trennen.
Alfons, der langjährige Fahrer meines Vaters, holt mich vom Bahnhof ab. Auf dem Weg zurück zum Familiensitz berichtet er von den letzten Wochen und Monaten mit meinem Vater. Der Übernahmeversuch der Franzosen habe ihm schwer zugesetzt. Auch gesundheitlich. Dieses Mal hatte er den Angriff noch abwehren können, doch aus der Zeitung weiß ich, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis der führende Spezialist für Montage- und Befestigungsmaterial von einem Konkurrenten, Bieterkonsortium, Private-Equity-Gesellschaft, Hedgefonds, oder was weiß ich, geschluckt, zerlegt und ausgenommen werden würde. Ob Vater geahnt hat, wie wenig Aufschub er sich erkämpft hat? Keine Woche später sei dann die Herzattacke gekommen, erzählt Alfons. Er ist nur wenig jünger als sein Dienstherr und mir fällt auf, dass ich keine Ahnung habe, seit wann er eigentlich für meinen Vater arbeitet. Als ich das Licht der Welt erblickt habe, als Mama gestorben ist, als ich von zu Hause geflüchtet und irgendwann doch nochmal wiedergekommen bin, eigentlich ist Alfons immer an seiner Seite gewesen. Ich glaube fast, Alfons ist der einzige Mensch – von Mama vielleicht abgesehen –, dem sich Vater jemals anvertraut hat. Ich gebe ihm zu verstehen, dass er sich um die Zukunft nicht zu sorgen bräuchte. „Ich weiß, Tommy.“, antwortet er und stellt durch den Rückspiegel Blickkontakt her. „Gerd hat für diesen Fall vorgesorgt. Der alte Haudegen hat ja nie etwas getan oder gemacht, ohne Vorkehrungen zu treffen. Sonst hätte er es kaum soweit gebracht.“
Der Kies knirscht unter dem Gewicht der bayerischen zweieinhalb Tonnen Limousine, als wir das elektronische Eingangstor passieren und die Auffahrt hinab, geradewegs aufs Haupthaus des Anwesens zusteuern. Gleißendes Sonnenlicht umspült das Haus und den gartenähnlichen Park und lässt das dunkle Backsteingemäuer heller und freundlicher aussehen, als es mir in Erinnerung geblieben ist. Es scheint nur noch wenig mit dem Haus meiner Jugend gemein zu haben.
Karl und Hauke sind schon eingetroffen. Ihr Auto steht direkt vor der Haustür – Vater muss wirklich tot sein, niemals hätte er den klapprigen Volvo meiner Brüder an diesem exponierten Ort geduldet. Einzig dem Hausherrn und geladenen Gästen ist es vorbehalten, dort zu parken.
Alfons führt mich durch die Empfangshalle, links den Korridor hinab, hinein in die Küche. Dort sitzen sie alle, gemeinsam versammelt um einen großen Holztisch: Tante Margrit, Karl und Hauke und Helene, die Köchin. In ihrer Mitte sitzt noch jemand, der mir jedoch unbekannt ist: ein Mann Mitte fünfzig, mit fliehender Stirn, randloser Brille, in einen Dreiteiler gekleidet. Doch meine Aufmerksamkeit gilt zuerst den Anverwandten. Unsere Begrüßung fällt kurz und etwas gehemmt aus, doch alle scheinen den ersten Schock überwunden zu haben. Der Dreiteiler steht auf, kommt um den Tisch herum und streckt mir die Hand entgegen: „Mein aufrichtiges Beileid, Herr Wüst. Ich kann gar nicht ermessen, wie groß ihr Verlust sein muss. Mein Name ist Dr. Martin Grube, ich bin der Notar ihres Vaters. Gleichzeitig hat mich ihr Vater als Testamentsvollstrecker bestimmt. Wir werden gewiss noch die Gelegenheit bekommen, uns zu besprechen.“, und an die Köchin gewandt: „Helene, wären sie so freundlich, mir zu zeigen, wo sich der Sanitärbereich für Gäste befindet?“
Vaters Tod hat augenscheinlich nur in Margrits Gesicht Spuren hinterlassen: rotgeränderte Augen inmitten von dunklen Ringen und tiefen Falten. Karl und Hauke hingegen sehen aus, als hätte man sie geradewegs vom Strand hierher in die Küche gezerrt: braungebrannt und durchtrainiert – eigentlich so wie immer. Nur die Schultern scheinen sie eine Nuance höher zu tragen. „Der ist ja fix.“, merke ich mit einer Kopfbewegung Richtung Tür an, aus der Helene und der Notar verschwunden sind.
„Laut Dr. Grube muss das Testament noch vor der Bestattung eröffnet werden. Das hat der Alte selber so verfügt. Wahrscheinlich will er von der Hölle aus zu sehen, wer anschließend noch an seinem Grab steht und Trauer heuchelt.“, zürnt Hauke erklärend und ich glaube, er muss sich beherrschen nicht auf den Küchenboden unter sich zu spucken. Nur Helen zu Liebe tut er es nicht.
„Halt‘ dein Vorlautes Mundwerk, junger Mann!“, weist Margrit ihren Neffen mit hochrotem Kopf zurecht. „Ich weiß, dein Vater und du, Hauke, ihr hattet eure Differenzen, aber man spricht nicht schlecht über Tote, schon gar nicht über den eigenen Vater und am allerwenigsten dann, wenn der Körper noch nicht einmal zu Grabe getragen wurde. Haben wir uns verstanden?“ So energisch kenne ich meine Tante sonst gar nicht. Früher hat sie sich stets im Hintergrund gehalten, hat immer nur beflissentlich genickt, wenn Vater ihr etwas aufgetragen hat und ihn bestätigt, wenn er ihre Meinung hören wollte.
Doch auch Hauke ist kaum wiederzuerkennen. All die Jahre, die er innerlich und äußerlich gelitten hat, die er kritisiert und gedemütigt worden ist, brechen mit einem Mal aus ihm heraus und lassen ihn all die Dinge sagen, die er auch wirklich so meint, weil er sie fühlt. Dass seine Wut die Falsche trifft, bemerkt er in seinem Groll gar nicht. Tante Margrit versucht zwar noch ein paar Mal, ihm den Mund zu verbieten, doch irgendwann resigniert selbst sie – sei es, weil ihr die Argumente ausgehen, sei es, weil ihr bewusst wird, dass Hauke im Grunde recht hat. Der alte war in der Tat ein herrischer Tyrann. Irgendwann steht sie auf und geht hinaus. Sie bräuchte frische Luft.
Wie es jetzt weiterginge, will ich wissen. „Erst mal abwarten, was im Testament steht.“, schlägt Karl vor und lächelt dabei wie ein Gläubiger am Zahltag. „Ich geh‘ Margrit und Dr. Grube holen.“
Fünf Minuten später kehrt Karl mit dem Notar im Schlepptau zurück. „Margrit will nicht dabei sein. Sie sagt, sie würde später mit Dr. Gruber alleine sprechen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Dr. Grube, geht das in Ordnung, oder?“
Die fliehende Stirn nickt: „Ja, es wird ohnehin ein Protokoll erstellt, von dem alle Erbberechtigten später eine Abschrift zugestellt bekommen. Außerdem ist ihre Tante als Schwester des Erblassers nur Erbberechtigte 2. Ordnung. Sie hingegen stehen als direkte Abkömmlinge in der Erbfolge rechtlich vor ihrer Tante. Ihr Vater hat ein eigenhändiges Testament verfasst. Aufgrund des nicht unerheblichen Vermögens habe ich ihm zwar dringend davon abgeraten, doch er hat darauf bestanden. Hoffen wir, dass er präzise formuliert hat. Möchten Sie, dass ich Ihnen den letzten Willen ihres Vaters vorlese, oder wollen Sie ihn erst selber lesen?“ Wir verständigen uns darauf, den passiven Part einzunehmen. Dr. Grube öffnet den versiegelten Umschlag und beginnt:
Testament
Ich, Gerd Wüst, geboren am 31.8.1930, bestimme meinen letzten Willen wie folgt:
1. Meiner Schwester Margrit Dreithal, geb. Wüst, vermache ich mein Wohnhaus in Karlsruhe, das Strandhaus in Cannes, sowie die Skihütte in Davos.
2. Mein langjähriger Freund und Fahrer Alfons Krug erhält die Summe von 5 Millionen Euro und den Fuhrpark.
3. Helene Meier erhält bis an ihr Lebensende eine monatliche Zuwendung von 5.000 Euro.
4. Meine Söhne Karl, Hauke und Thomas Wüst setzte ich auf den Pflichtteil.
5. Den Rest meines Besitzes wird veräußert und fällt meinen Töchter Penelope und Bianca Wüst zu. Bis zur Vollendung ihres 27. Lebensjahres wird dieses Vermögen treuhänderisch verwaltet. Als Treuhänder setzte ich Dr. Martin Grube ein.
Karlsruhe, 19. März 2009
Gez. Gerhardt Wüst
„Vater ist ein Fehler unterlaufen“, sage und frage ich stockend und finde nur zögerlich zur menschlichen Sprache zurück. „Es muss heißen, ‚und fällt meinen Enkeltöchtern Penelope und Bianca Wüst zu‘.“
Dr. Grube räuspert sich, wackelt dabei abwechselnd mit den Mundwickeln und druckst etwas ratlos herum: „Zu diesem Sachverhalt kann ich ihnen leider keinerlei Auskunft geben, Herr Wüst. Davon ist ich mir nichts bekannt.“ Enthüllend greift der Notar in die Innentasche seines Sakkos und holt ein weißes Kuvert hervor. „Allerdings hat Ihr Vater dem Testament noch einen Brief beigefügt. Vielleicht bringt der Licht ins Dunkel.“
„Hätten Sie uns den nicht vorher zeigen können?“, wirft Karl dem Notar vor. „Dann wäre der Inhalt des Testaments wenigstens nicht ganz so überraschend gekommen. Egal, wir werden ja gleich erfahren, wie der alte Halunke unsere Enterbung rechtfertigt. Wie hoch ist der Pflichtteil überhaupt?“ „So genau kann ich ihnen das nicht sagen. Maßgeblich zur Ermittlung des Pflichtteils ist – neben der Höhe des Vermögens natürlich – die Zahl der Kinder des Verstorbenen. Leider scheint in diesem Punkt Unklarheit zu bestehen. Normalerweise...“
„Was heißt hier Unklarheit?“, falle ich Dr. Grube ins Wort. „Gar nichts besteht hier. Weiß der Geier, warum, aber dem Alten ist ausnahmsweise ein Fehler unterlaufen. Punkt.“ Meine Stimme überschlägt sich. Hinter der randlosen Brille breitet sich deutlich sichtbares Unbehagen aus.
„Beruhig‘ dich, Tom.“, versucht Karl zu beschwichtigen. „Lies‘ doch mal das Datum, das unter dem Testament steht. Das ist erst vor zwei Wochen verfasst worden. Der Alte war da mitten in den Verhandlungen mit den Franzosen. Wer weiß, vielleicht hat er in dem Augenblick, als er Pip und Bianca als Haupterben eingesetzt hat, an uns gedacht und sich schlichtweg verschrieben. Is‘ doch möglich. Auf jeden Fall kann Alfons bezeugen, dass er die letzten Wochen wahnsinnig unter Stress gestanden hat. Das kann man anfechten. Dr. Grube hat Recht, lass uns erst einmal den Brief lesen.“ Er nimmt das Kuvert, das der Notar vor uns auf den Tisch gelegt hat und reißt ihn der Länge nach auf. „Wollen wir ihn zusammen lesen?“, will Karl wissen und schaut Hauke und mich fragend an. Wir stehen auf und stellen uns hinter ihn.
An meine Söhne
Obwohl ich weiß, dass ihr mir keinen Glauben schenken werdet, versichere ich euch, es tut mir in der Seele weh, diese Zeilen zu Papier bringen zu müssen. Noch stärker schmerzt jedoch der Grund, der sie mich schreiben lässt. Wie alles Menschliche, so entspringt auch dieser Brief einem Gefühl: das der Enttäuschung. Enttäuscht aber kann nur werden, wer Erwartungen stellt. Leider habt ihr mich gelehrt, dass man die größten Hoffnungen stets in die setzt, die man am meisten liebt. Doch bei Gott, mein Vermächtnis rechtfertigt meine Ansprüche und mein Blut macht sie euch zur Pflicht. Doch ihr musstet ja euren eigenen Weg gehen. Und wohin hat er euch geführt? In Schwulenkneipen und Säuferspelunken! Bei dir Thomas habe ich trotz alledem noch lange die Hoffnung gehegt, dass wenigstens du mein Erbe fortführen würdest, doch ich habe einsehen müssen, dass du genau der verantwortungslose Tagedieb bist, für den ich seit langem gehalten habe. Andererseits muss ich dir dankbar sein, denn erst deine Verantwortungslosigkeit hat mir die Möglichkeit eingeräumt, sinnvoll mit meinem Erbe zu verfahren. Ich hatte schon befürchtet, alles spenden zu müssen. Doch dann beobachtete ich, wie du dich auf meiner Hochzeit über die Cousine deiner besseren Hälfte hermachst und Heureka!, die Idee war geboren. Vielleicht warst du für mich doch noch nicht ganz verloren. Ich musste dich nur zur Verantwortung zwingen. Wanda habe ich dabei zu meiner Komplizin gemacht. Anfangs hat sie sich zwar noch geweigert, aber du weißt, wie überzeugend ein großer Geldbetrag sein kann. Noch vor der Hochzeitsreise sind Wanda und ich dann in die Klinik gefahren, um die künstliche Befruchtung vornehmen zu lassen. Ihr könnt euch meine Erleichterung gar nicht vorstellen, dass es gleich beim ersten Mal geklappt hat, und dass zwei so hübsche Mädchen dabei herausgekommen sind. Wenn meine Söhne schon missraten sind, obliegt es jetzt den Töchtern das Erbe anzutreten.
Verfahrt mit eurem Erbe wie es euch beliebt, vielleicht macht ihr mich ja irgendwann doch einmal stolz.
Euer Vater