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Brief an Eltern
Ich bin jetzt 1 ½ Jahre alt, werde wach und freue mich auf den neuen Tag. Bestimmt passiert heute wieder viel Spannendes und Aufregendes, so wie es bisher jeden Tag war; Überall Wunder um mich herum. Kaum hat meine Mutter mich aus dem Bett gehoben, freue ich mich darüber, wie sie mich ansieht und möchte laufen, was ich jetzt schon ganz gut kann. Aber statt mich die Welt entdecken zu lassen, ist sie ganz schnell der Überzeugung, mich wickeln zu müssen. OK, klar ist die feuchte Windel mehr als unangenehm und es muss wohl so sein. Aber es gibt doch soooo viel zu entdecken. Ich liege auf dem Wickeltisch und sehe ein kleines, schwarzes Monster mit Flügeln. Das ist spannend, aufregend. Natürlich versuche ich, dieses krabbelnde Wesen zu erwischen. Beinahe!! Da hält Mama meine Hand fest: „Bah, das ist nichts für Dich.“ Jetzt ist das Monster entkommen. Als die Windel unten ist, kommt schon das nächste Aufregende. Weißes Zeug kommt von oben und setzt sich ans Fenster. Ich schaue hin und drehe mich um. Meine Mama hält mich fest und meint, ich solle doch stillhalten, sonst würde ich herunterfallen. „Aber Mama, das ist doch so spannend.“ Würde ich gerne sagen, wenn ich es doch nur könnte. Dabei besteht doch die ganze Welt aus Wundern, die von mir entdeckt werden wollen.
Inzwischen bin ich drei Jahre alt. Viele der alten Wunder gibt es nicht mehr, sondern haben sich in normales Leben verwandelt. Das schwarze Monster heißt Fliege, hat mir der Papa erklärt und das weiße Zeug aus dem Himmel heißt Schnee. Aber es gibt ja noch so viele andere Wunder in der Welt.
Heute ist Samstag und mein Papa ist zu Hause. Er will Brötchen holen. Prima, bestimmt darf ich mitgehen. Draußen scheint die Sonne. Ich frage Papa ob ich mitkommen darf. Ich merke, dass mein Papa eigentlich alleine gehen möchte. Aber die Mama hilft mir und ich darf doch mitkommen. Das ist toll. Kaum bin ich draußen, entdecke ich einen Vogel, der auf der Wiese an irgendetwas herumpickt. „Was macht der denn da?“ will ich wissen. Doch Papa hat keine Zeit. „Komm jetzt, die Mama hat Hunger.“ Schade, ich hätte gerne gewusst, was der Vogel dort macht. Kaum um die Ecke, wieder etwas ganz Tolles. Aus einem Sandhäufchen zwischen den Gehwegplatten krabbeln kleine Tiere. Ich hocke mich davor um dieses spannende Abenteuer zu beobachten. Doch Papa nimmt mich an die Hand, zieht mich hoch und tritt auf den Sandhaufen. „Aber Papa, das ist doch so aufregend.“ denke ich. Komm jetzt, das sind bloß Ameisen.“ meint der Papa. Wahrscheinlich liegt es daran, dass der Papa so groß ist, dass er nicht gesehen hat, wie toll die kleinen Tiere dort waren.
Zum Mittagessen gibt es Spagetti: „Klasse!“ Damit kann man ganz feine Sachen machen. Schlürfen, mit den Fingern anfassen. Die sehen aus wie ganz lange Würmer. Vielleicht kriechen sie ja auch so um die Wette. Also lege ich zwei nebeneinander auf den Tisch. Mama wird böse und meint, ich solle anständig essen. „Pah, Mama hat ja gar keine Ahnung, wie klasse so ein Spagetti-Wettrennen sein kann.“
Jetzt bin ich schon 6 Jahre alt. Viele der Wunder aus der Zeit, als ich noch klein war, gibt’s nicht mehr. Aber bald komme ich in die Schule Das wird bestimmt wieder sehr aufregend. Mama hat mir gesagt, dass ich jetzt groß werde. Was ich noch nicht weiß, ist, dass der Punkt gekommen ist, wo die Zeit der Wunder langsam vorbei ist. Wenn ich es wüsste und ausdrücken könnte würde ich Mama und Papa fragen, warum sie mir nicht mehr Zeit für meine Abenteuer gelassen haben. Aber das kann ich jetzt noch nicht wissen. Wenn ich dann mal so groß bin, so wie Papa jetzt, weiß ich, das meine Eltern mich nur aufs Leben vorbereitet haben und ich werde mich vielleicht mal fragen, warum mir nie mehr Zeit für meine kleinen Wunder gegeben wurde. Ich hoffe, dass ich mir dann mehr Zeit für die Wunder meiner Kinder nehmen werde. Denn diese Wunder sollte man erleben und genießen.
Heute bin ich bereits 45. Mein Sohn ist selber erwachsen und ich stelle mit Entsetzen fest, das ich lange gebraucht habe um festzustellen, das ich meinem Sohn auch viel zu wenig Zeit gegeben habe, diese Welt der Wunder zu genießen. Die einzige Zeit, die ein Kind hat, an Wunder zu glauben. Ich hoffe, vielleicht mal als Großvater die Geduld aufzubringen, meinen Enkeln die Zeit zu geben, die sie für ihre Entdeckungsreisen brauchen, auch wenn der Weg zum Bäcker zwei Stunden dauern sollte.
(Zur Erinnerung an meinen Vater, der immer eine Ewigkeit unterwegs war, wenn er mit meinem Sohn zum Supermarkt ging und er dann ganz aufgeregt und mit glänzenden Augen von seinen kleinen Abenteuern erzählte und sein Opa nur grinste und ich diese scheinbar sinnlos vergeudete Zeit nicht begreifen konnte.)