- Beitritt
- 19.06.2001
- Beiträge
- 2.198
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Bring mir den Kopf von Alfredo Garcia
Irgendwo, verborgen hinter dunklem Plastik, machte es leise Swosch. Duft von verschmorrten Drähten und Kabeln durchflutete die überhitzte Fahrerkabine. Fluchend drückte Hector mehrmals verschiedene Knöpfe, doch es half nichts – die Klimaanlage gab ihren Geist auf. Augenblicklich wurde es noch heißer und stickiger, als es ohnehin schon war. Immerhin, der Wagen fuhr noch, auch wenn sich Hector nicht sicher war, ob der Sprit reichen würde, um sein Ziel zu erreichen. Seufzend kurbelte Hector das Fenster ganz herunter. Es brachte keine Verbesserung, vielleicht war es auch nur ein Reflex gewesen. Er machte sich über solche Sachen nicht viele Gedanken. Schweiß lief über sein Gesicht, brannte in den Augen, sammelte sich am Hals und war ziemlich unangenehm.
Hector schätzte, dass es noch gut zweihundert Meilen waren, bis er das sicherlich kunstvoll gestaltete Gittertor passieren würde, welches Diegos palastartiges Anwesen von der staubigen Wüste trennte. Er würde dann eine von haushohen Bäumen gesäumte Straße einen Hügel hinauffahren, aus dem Wagen steigen und Diegos Haus betreten. Hector stellte sich die Empfangshalle kühl vor, vielleicht sogar richtig kalt, auf jeden Fall angenehm. Ein Glas Wasser (vielleicht sogar ein richtig gutes Bier, oder noch besser, richtig teuren Whiskey) trinkend würde er dann auf Diego warten, um ihm den Kopf von Alfredo Garcia zu überreichen. Mit einem Koffer, dessen Inhalt sich auf fünfhunderttausend Dollar bezifferte, würde sich Hector anschließend wieder aus dem Staub machen, er würde versuchen, die sechshundert Meilen Wüste unbeschadet zu überstehen.
Es hieß, in den Städten an der Ostküste konnte man mit genügend Geld ein sorgenfreies Leben führen. Und fünfhunderttausend Dollar waren mehr als ausreichend, um sich Sorgen vom Hals zu halten. Hector kratzte sich am Kinn und lächelte. Er konnte sich gut vorstellen, wie es wäre, mit einem wohltemperierten Bier faul auf der Haut zu liegen und das Meer zu bestaunen, mit all seiner Pracht und den Delphinen, von denen man sagte, dass sie Sprünge bis zu fünf Meter aus dem Wasser heraus schafften. 'Wahnsinn...', dachte er. Er konnte sich kaum vorstellen, dass Fische so etwas vollbrachten. Oder waren es gar keine Fische? Waren es Säuger? Säugetiere, die im Meer lebten? Falls er den ganzen Mist überstehen sollte, blieb genug Zeit, auf viele Fragen viele Antworten zu finden. Doch noch war es nicht soweit, denn Hector hatte ein geradezu irrwitziges, dennoch äußerst unangenehmes Problem: Garcias Kopf vom Körper zu trennen war einfach gewesen, hätte jeder gekonnt. Man brauchte dazu nur etwas Geduld, Kraft und Ekelresistenz. Und es war auch nicht Hector, der die scharfe Machete ansetzte, sondern Danny. Letztendlich war es auch egal, wer Garcia den Kopf abschnitt. Das geradezu irrwitzige, dennoch äußerst unangenehme Problem bestand darin, dass Garcias Körper offensichtlich nicht bereit war, sich von seinem Kopf zu trennen. Hector sah in den Rückspiegel. In weiter Ferne sah er einen winzigen, schwarzen Punkt. "Verfluchter Mist!" Er beschleunigte und sah wieder in den Rückspiegel. Außer aufgewirbelten Staub konnte er nichts erkennen. "Verdammte Scheiße!" Neben ihm, auf dem Beifahrersitz, lag, verpackt in einer Plastiktüte, der Kopf von Alfredo Garcia.
***
Sie waren zu viert gewesen: Hector, Fernando, Danny und Pablo. Sie alle hatten das Angebot von Diego bekommen, und sie alle waren in einer Situation, in der sie solch ein Angebot unmöglich ausschlagen konnten. Ihr Weg hatte sich in der Lobby des drittklassigen Hotels gekreuzt, in dem Garcia abgestiegen war. Keiner wußte, warum Garcia sterben sollte, es war ihnen auch egal. Der Grund ging nur Diego etwas an. Ebenso, warum er ausgerechnet den Kopf haben wollte. Pablo hatte ihnen von einem Film erzählt, der 'Bring mir den Kopf von Alfredo Garcia' hieß. Sie hatten kurz gelacht, den dünnen Whiskey getrunken und die Sache beruhen lassen. Dann hatten sie gewartet, billige Zigaretten geraucht und noch mehr dünnen Whiskey getrunken. Bei der drückenden Hitze hätten drei bis vier Gläser gereicht, um den Kreislauf zum Einsturz zu bringen, doch die vier Männer bekamen nicht einmal Kopfschmerzen.
Man hatte voneinander gehört. Danny hatte im Süden der Staaten für einige Bosse einige Menschen beseitigt. Fernando wurde in Mexico in jeder größeren Stadt steckbrieflich gesucht, worauf er sogar einigermaßen stolz war. Pablo hatte nur einen Auftragsmord begangen. Es war wohl die Art und Weise, wie er die Frau zur Strecke brachte. Er erzählte ihnen, dass ihn ein betrogener Ehemann ansprach. "Dieser Ehemann", so berichtete Pablo, "versprach mir eine Summe von dreitausend Dollar. Er hatte wohl eine sadistische Ader. Habt ihr diesen einen Film gesehen? Wo dieser Typ die Nutte mit so einem spitzen Gerät auf dem Schwanz fickt?" Mehr brauchte Pablo nicht zu erzählen. Er zog an der Zigarette und lächelte. Vermutlich, so dachte Hector, hatte es ihm sogar Spaß gemacht. Er selbst hatte noch nie jemanden umgebracht. Er war ein Dieb, stahl Geld, um es zu versaufen, stahl Drogen, um sie an die Kinder zu verkaufen. Manchmal dämmerte es ihm, dass er dadurch vielleicht auch so etwas wie ein Mörder war. Stets verwischte er solche aufkeimenden Gedanken. Es war zu moralisch. Es war nicht gut. Es störte. Es lenkte ab. "Kenne den Film nicht...", murmelte Hector und deutete der Bedienung an, ihm erneut einen Drink zu bringen. Die anderen redeten über den Film, lachten und sahen dabei immer wieder zum Eingang des Hotels.
Schließlich spazierte Alfredo Garcia herein, schwitzend und geradezu ekelerregend fett. Er gab sich wie ein König, stopfte jedem Angestellten zusammengeknüllte Dollarnoten in die Taschen und sprach so laut, dass es keiner überhören konnte. Als er die Treppe hinaufgegangen war, warteten sie noch ein paar Minuten. Dann bezahlten sie ihren dünnen Whiskey, gaben ein nicht aufregendes Trinkgeld und gingen ebenfalls die Treppe hinauf.
"Warum wir?", fragte Danny, der drei Stufen auf einmal nahm, nur um dann stehen zu bleiben, um auf die anderen zu warten.
Pablo tätschelte ihm die Schulter. "Duga will wohl sicher gehen."
"Das meinte ich nicht. Ich meine, warum gerade wir?"
"Warum denn nicht?", stieß Fernando mühsam hervor. Ihm lag das Treppensteigen nicht, was angesichts seiner Körpermasse nicht verwunderte. "Stell nicht so dämliche Fragen!"
Hector war hinter den anderen. Er wußte, was Danny meinte. Diego hätte alle bekommen können. Ein Anruf, und alle wären gesprungen, hätten mit Kusshand den Job erledigt. Doch aus irgendeinem Grund hatten sich nur sie im Hotel eingefunden. Kein John Miller, kein Sergej Wosnan, und erst recht kein Rainer Innreiter. Vielleicht waren sie aber auch die einzigen, die es noch gab? "Vielleicht sind wie ja die letzten unserer Art?", rutschte es ihm heraus. Er blieb stehen und schluckte. 'Kacke!'
"Wie meinst du das?", schnaufte Fernando.
"Es war nur ein Gedanke..."
"Unser Kindermörder könnte durchaus Recht haben", überlegte Danny und sah Hector lächelnd an.
Hector ballte die Fäuste. "He, Moment mal! Ich bin kein..." Weiter kam er nicht.
"Bist du nicht? Was verkaufst du ihnen, hm? Brausepulver?" Danny fing an zu lachen. "Vielleicht hast du eigenhändig noch keinen gekillt, Kleiner. Aber ein Killer bist du, glaub mir!" Er hob den Daumen, streckte den Zeigefinger heraus und knickte diesen kurz. "Jeder weiß über jeden Bescheid."
Die imaginäre Kugel traf Hector mitten ins Herz. Der Schmerz währte nur kurz. Seine ab und an aufkommenden Rückschlüsse über sein Handeln wurden ihm bestätigt. Er holte tief Luft. Etwas zu aktzeptieren, konnte sehr hilfreich sein. "Hast ja Recht...", sagte er und ging an den anderen vorbei.
"Ach, wen interessieren schon Kinder..." Pablo verzog das Gesicht. "Kleine Arschlöcher. Nennt mir einen vernünftigen Grund, dieses Gesocks nicht auszurotten." Er wartete – und bekam keine Antwort.
Unbeantwortet blieb auch die im Raum stehende Frage, warum ausgerechnet sie hier waren.
Holz splitterte. Fernando sprengte die Tür aus dem Rahmen. Einfach so. Nur mit seinem Gewicht. Sie hörten einen Schrei. Es klang wie das verängstigte Quicken eines Schweins. Alles ging sehr schnell. Pablo schaltete den Fernseher aus. Hector ließ die aus Pappe bestehenden Jalousinen herab. Fernando schubste Garcia vom Bett und trat auf ihn ein.
"Was tut ihr da?", schrie Garcia. "Oh nein..." Ihm war klar geworden, was passieren würde.
Danny zauberte, Hector bekam es gar nicht richtig mit, eine Machete hervor. Er hatte sie wohl versteckt bei sich getragen. "Kennst du den Film 'Bring mir den Kopf von Alfredo Garcia', Fettsack? Du weißt, warum wir hier sind." Er sah zu Fernando. "Bring ihn zum Schweigen!"
"Klar..." Fernando donnerte seinen Ellbogen mitten in Garcias Gesicht. Wieder. Und wieder. Schließlich hielt Fernando inne und sah zu Danny. "Sollte reichen."
Garcias Gesicht war nur noch eine Masse aus Fleisch, einzig die lebhaft hin- und herblickenden blauen Augen erinnerten an seine Persönlichkeit.
Hector sah zu Pablo. Dieser kniff die Augen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust.
Danny spuckte aus. "Also dann..." Er ging in die Knie und hielt die Machete an Garcias Hals. "Wer Wert auf seine Klamotten legt, tritt besser einen Schritt zurück. Möglich, dass die verfluchte Halsschlagader einen kleinen Springbrunnen bildet..."
Hector ging drei Schritte zurück. Pablo blieb an Ort und Stelle stehen. Fernando befand sich direkt neben Danny.
Garcia wimmerte und rollte mit den Augen. Schwach hob er die Arm. Seine Beine machten so etwas wie eine Schwimmbewegung.
"Dein Kopf ist viele Dollar wert", flüstere Danny und fing an, Garcias Kopf von Garcias Körper zu trennen.
***
Hector schaute wieder in den Rückspiegel. Der Staub war längst weg. Kein schwarzer Punkt war zu sehen, aber das hatte nichts zu bedeuten. Garcias Körper konnte noch so weit weg sein, außer Sichtweite... Er war da. Immer in Reichweite seines verlorenen Kopfes.
Hector begann sich zu fragen, ob er noch lang genug leben würde. Seit dem Ausfall der Klimaanlage war er mehr als beunruhigt. Wie weit war es noch bis Diegos Oase? Einhundert Meilen? Den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen war unmöglich geworden, also ließ Hector es einfach zu, dass das Brennen in seinen Augen mehr und mehr zunahm. 'Wann hast du das letzte Mal geschlafen, hm? Wie lange fährst du diesen Wagen schon, hm?' Jederzeit konnte er anhalten, aussteigen, die Plastiktüte nehmen und Garcias Kopf wegwerfen. Hectors Mundwinkel begannen zu zucken. 'Es sind fünfhunderttausend Dollar, verdammt! Wenn du diesen Scheißkopf erst mal bei Diego abgeliefert hast...' Darin bestand seine Zuversicht. Er konnte viel Geld haben. Und er konnte Garcia loswerden. Sollte sich doch Diego mit einem kopflosen Körper herumschlagen. Er würde dann in sicherer Entfernung Bier trinken und dicke Titten auf Kanal Neun betrachten. Einhundert Meilen. 'Gleich da...' Hatte er geschlafen? War er wach? Wenn er Glück hatte, würde alles bald vorbei sein. Das Problem war nur, dass Menschen wie ihm das Glück meistens verwehrt blieb. "Na wenn schon..." Nicht mal für ihn selbst klang sein Ausdruck des Aufbegehrens überzeugend. Endlos erstreckte sich die Straße vor ihm zu einer langen, staubigen Geraden. Links und rechts gab es nur Wüste.
***
Garcias Kopf war ab. Die Sauerei hatte sich in Grenzen gehalten. Das meiste war in den Flusen des grauen Teppichs versickert.
"Pablo!", rief Danny.
Es dauerte einen Moment, dann holte Pablo eine Plastiktüte aus der Innentasche seiner Jacke hervor und überwand sich, setzte einen Fuß vor den anderen. Wortlos gab er Fernando die Tüte. Dieser öffnete sie umständlich. Als er es geschafft hatte, packte Danny Garcias Kopf und stopfte diesen in die Plastiktüte. Für einen Moment lang herrschte völlige Stille.
Hector hatte die ganze Zeit zugesehen, er hatte Mühe, sich nicht übergeben zu müssen. Er wollte...
"He, Killer!"
Hector zuckte zusammen. "Was?"
Danny stand auf, in der Hand die Plastiktüte mit Garcias Kopf haltend. "Schaff ihn in den Wagen, okay?" Er lächelte.
Hector empfand es als ein freundliches Lächeln. "Klar..." Mit spitzen Fingern nahm er die wertvolle Fracht in Empfang. "Ich warte im Wagen auf euch." Dann drehte er sich um und ging schnell aus dem Appartment. Beim Hinausgehen hörte er zischende Wortfetzen.
"Du vertraust ihm?"
"Ich vertraue keinem..."
"Er ist... Er könnte einfach so verschwinden."
"Nein, es ist in Ordnung! Er hat erkannt, dass wir die letzten unserer Art sind."
Das brisante, viele Dollar schwere Paket in seiner Hand fühlte sich eigenartig an.
"Aber... Ach, was solls... Die Welt ist Scheiße geworden!"
"Nein, ist sie nicht. Es hat sich einiges getan..."
"Wir können... Was zum..."
"Oh Gott!"
"Scheiße, verflucht! Scheiße!"
"Weg, du... Lass mich..."
"Oh, nein!"
Hector hatte die Treppe erreicht, als er die Schreie hörte. Es waren nicht nur Schreie. Irgendein Geräusch, nicht einzuordnen. Er blieb stehen und drehte sich um. Wie in Zeitlupe sah er zuerst Pablo, dann Danny, und schließlich Fernando hinaus in den dreckigen Gang torkeln. Er bemerkte die vielen roten Flecken an ihrer Kleidung, Ihm wurde bewußt, dass es sich um Blut handelte. Einer nach dem anderen fielen Danny, Pablo und Fernado um, krachten unsanft auf dem schimmeligen Holzboden. Und dann sah Hector den kopflosen Körper von Garcia. Der Körper grunzte. Hector hielt den Kopf von Garcias Körper in seinen Händen, dennoch grunzte der Körper.
"Verpiss dich!", stammelte Danny in Richtung Hector.
Doch Hector blieb stehen.
Der kopflose Körper ging in die Hocke und schlug auf Danny ein. Es war pervers faszinierend, wie eine, so empfand es Hector, kopflose Ausgeburt der Hölle Rache nahm. Rache für was auch immer. Rache für einen verlorenen Kopf. Danny bäumte sich auf und schrie. Als die Faust des Körpers sich in seinen Rücken rammte, erbrach Danny Blut, dessen Farbe bräunlich war. Sein Schreien verstummte. Eine kaum vorstellbare winzige Ewigkeit später zerquetschte der Körper Fernandos Kopf und riss Pablo in zwei unförmige Hälften. Der ganze Gang war mit Blut versehen. Nicht nur mit Blut. Scheiße, Hirn und Pisse klebten in den Teppichfasern und an der Tapete. Fauliger Gestank machte sich breit. Dampfende Gedärme zuckten. Und überall war Blut. Der kopflose Körper von Alfredo Garcia richtete sich auf und lief auf Hector zu.
"Kacke..." Hector drehte sich um und rannte die Treppe herunter zur Hotellobby. Die wenigen, abgehalfterten Gäste und das versiffte Personal sahen ihn mit großen Augen an. Er stürzte an ihnen vorbei, hin zum Ausgang. Hastig presste Hector sich durch die Drehtür. Wo war der Wagen? Entsetzte Schreie drangen aus dem Hotel heraus auf die Straße. Passanten blieben stehen. Ein kleines Mädchen starrte auf die Tüte, die Hector in der Hand hielt. "Da tropft was raus...", sagte es zu seiner Mutter. Hector war für einen kurzen Moment orientierungslos. "Wo ist dieser Scheißwagen!" Dann fiel es ihm wieder ein. Die Sackgasse! Er riskierte einen Blick durch die Drehtür hindurch in die Lobby hinein. Garcias Körper stapfte zielstrebig auf ihn zu. Es war bizarr. "Oh nein..." Hector stieß einen spitzen Schrei aus und wiech zurück. Erst als das kleine Mädchen panisch zu schreien anfing, fasste er sich wieder und rannte zur Einfahrt, ohne sich umzudrehen. Ihm war klar, dass seine vorhandene Panik nur noch größer werden würde, wenn er zurücksah. Er hatte den Wagen erreicht. Die Schlüssel... "Gottverdammt, wo sind die..." Aus der Hosentasche fingerte er die Autoschlüssel heraus, atmete tief durch und schloss auf. Er warf die Plastiktüte auf den Beifahrersitz, stieg schnell ein und zog die Tür zu sich heran. Im Wagen fühlte sich Hector sicher. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er, wie sich die Tüte bewegte. Sie rollte nicht hin und her, sie bewegte sich nur ein bißchen. Und sie raschelte. "Verdammt nochmal!" Hector startete den Wagen. Er mußte wenden. Schreie drangen in das Wageninnere. Auf der Hauptstraße rannten Menschen panisch davon. Garcias Körper kam um die Ecke. Hector lächelte gequält, dann gab er Gas. 'Ich fahr dich einfach über den Haufen, du blödes Arschloch!', dachte er. Kurz vor dem Aufprall schloss er die Augen. Es gab einen lauten Knall, dazu ein wildes Grunzgeräusch, der Wagen kam ins Schleudern. Schnell korrigierte er die Fahrtrichtung und sprang förmlich mit durchdrehenden Rädern auf die Hauptstraße. Im Rückspiegel konnte er den Körper in der Sackgasse auf dem schmutzigen Boden liegen sehen. Kurz sah er zum Beifahrersitz. Die Tüte gab keinen Laut von sich, lag bewegungslos da. "Das wars also...", murmelte Hector zufrieden und machte sich daran, die Stadt zu verlassen. Alles war mehr als Scheiße gelaufen, aber immerhin lag neben ihm der Kopf von Alfredo Garcia. Was hatte Diego am Telefon gesagt?
"Bring mir den Kopf von Alfredo Garcia!"
"Wie bitte?"
"Du bist es mir schuldig, Hector."
"Senior Duga, ich..."
"Bring mir den Kopf von Alfredo Garcia, Hector!"
"Ja, Senior Duga."
Fünfhunderttausend Dollar Belohnung hatte Diego zugesichert. Als Hector die Wüste erreichte, fing er mit der Planung an, wie und auf welche Art und Weise er die harten Dollar durchbringen konnte.
***
In weiter Ferne zeichneten sich Bäume ab. Diegos Anwesen war nun nicht mehr weit. Es war interessant. Er fuhr eine Strecke von gut und gerne sechshundert Meilen, stur geradeaus. Wo auf der Welt gab es so etwas? War dies die längste Straße der Welt, die kerzengeradeaus ging? Hector wußte es nicht. Er gähnte. Die ohnehin vorhandene Müdigkeit drohte ihn zu überrumpeln. Ein Unfall kurz vor dem Ziel war das letzte, was er gebrauchen konnte.
***
Mindestens zwei Götter hatten sich gegen ihn verschworen. Da gab es den Wettergott, der urplötzlich die Windrichtung änderte, während Hector am Straßenrand stand und pinkelte. Und es gab den Gott des Unmöglichen. Ungläubig starrte er auf den schwarzen Punkt, der in seine Richtung kam und schnell größer wurde. Der Punkt entpuppte sich als Garcias fetter, kopfloser Körper.
Was folgte, ließ sich mit einer Achterbahn vergleichen: Die gesamte Strecke war das Ziel, Diego Duga zu erreichen und ihm Garcias Kopf zu geben. Wurden die Züge langsamer, weil sie einen Streckenabschnitt nach oben fuhren, so näherte sich Garcias Körper. Am höchsten Punkt befand sich Hector in greifbarer Reichweite, doch dann fuhren die Züge rasant nach unten, vergrößerte sich der Abstand zwischen dem kopflosem Ungeheuer und Hector. Eine anstrengende Tortur für Mensch und Wagen. Wie es diesem verfluchten Körper erging, konnte sich Hector nicht vorstellen. Die meiste Zeit blieb Hector im Wagen und trat aufs Gas. Manchmal stand der Körper dicht am Straßenrand, ein anderes Mal bildete er einen kleinen, schwarzen Punkt im Rückspiegel. Garcias Körper war stets präsent, selbst wenn er nicht zu sehen war. Besonders heikel wurde es, wenn Hector den Wagen verlassen mußte, um zu pinkeln. Vor lauter Angst brachte er keinen einzigen Tropfen zustande, und wenn es lief und höllisch brannte, dann erschien der kopflose Garcia. Oder wenn er im Kofferraum eine Flasche Wasser herausholte – es dauerte nicht lange, und der Körper kam auf ihn zu, aus dem Nichts, aus einer Welt jenseits des Verstandes. Es war zum Kotzen...
Die Plastiktüte bewegte sich kein einziges Mal. Nur ab und an glaubte Hector, ein leises Grunzen zu vernehmen, so wie er im Hotel gehört hatte, als der Körper die anderen fertig gemacht hatte.
***
Der bullige Typ mit dem Maschinengewehr in der Hand glotzte die Plastiktüte an. "Was soll das?", fragte er und zeigte auf die Blutflecken auf dem Beifahrersitz. Die Maden und Fliegen, die überfallartig urplötzlich auf der Bildfläche erschienen waren, schienen ihn nicht zu stören.
Hector hob schwach die Hand. "Ein Paket für Senior Duga."
Der bullige Typ runzelte die Stirn. Aus seinem Funkgerät, das er am Gürtel festgeschnallt hatte, kam ein lautes Knacken. "Einen Moment mal..."
Hector ignorierte die Maden und Fliegen und sah in den Rückspiegel. Reine Routine. Keine Anzeichen für ein plötzliches Auftauchen des Körpers. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn innerhalb von Sekundenbruchteilen der Körper hinter dem Wagen auftauchen würde, den bulligen Typen einfach so töten, und dann nach Hector greifen würde.
"Okay, Du kannst durch."
Vermutlich, so malte es Hector sich aus, würde dem bulligen Typen das Herz aus der Brust gerissen werden. Blutfontänen würden sich über...
"He, Penner!" Der bullige Typ klopfte auf das Autodach. "Na los, fahr schon!"
Hector nickte und lächelte. "Danke." Er fuhr die prunkvolle Auffahrt hinauf zu Diegos Palast.
Im weitesten Sinne war es so, wie es sich Hector vorgestellt hatte. An jeder Ecke sprang ihm Reichtum entgegen. Ein Wunder, dass sich jemand in Zeiten wie diesen solch einen Luxus noch leistete. Andererseits hatte sich Diego sein Schloss nicht neben Blechhütten-Siedlungen aufgebaut, sondern etwas abseits, mitten in der Wüste. Hector schnappte sich Garcias Kopf und stieg aus dem Wagen.
In der Empfangshalle wartete bereits Diego Duga. "Hector, mein Freund!", rief er bis über beide Ohren grinsend. Er saß in einem Rollstuhl.
Das hatte Hector nicht gewußt.
Duga erkannte Hectors irritierten Blick. "Keine Fragen, mein Freund!" Er deutete auf die Plastiktüte und schnippte mit den Fingern. "Hast du mir den Kopf von Alfredo Garcia gebracht?"
Hector stank. Er stank nach Schweiß. Vor allem stank er nach blanker Angst. Er befand sich in der Höhle des Löwen. Der Löwe war gefesselt an ein Objekt menschlichen Schaffens. Er sah es mit eigenen Augen. Allein zu wissen, dass Duga ein Krüppel war, konnte einem das Leben kosten. Und es gab auch kein kühles Glas Wasser, geschweige denn ein erfrischendes Bier. Schweigend warf Hector die Plastiktüte vor Dugas Rollstuhl. Als sie den Marmorboden berührten, platzte sie auf. Garcias Kopf rollte etwas zur Seite. Seine Augen waren immer noch weit aufgerissen. "Da...", murmelte Hector monoton.
Duga beugte sich leicht nach vorn. "Es ist tatsächlich Alfredo Garcia. Dieser verdammte Drecksack! Diese Ausgeburt der Hölle!" Tiraden des Hasses flogen an Garcias zerschundenen Kopf. Nach einer Weile hatte sich Duga wieder etwas beruhigt. "Gab es Probleme?", wollte er wissen.
Was sollte er ihm als Antwort geben? Hector schluckte. ("Senior Duga, ich muß Sie warnen. Da draußen läuft Garcias Körper durch die Gegend. Er will wohl seinen Kopf zurück!") "Nein, keine Probleme."
"Gut." Duga lächelte. Ein zahnloses Lächeln. Ein zahnloser Löwer, mächtig genug, mit einer einfachen Geste das Land in eine weitere Anarchie zu stürzen. Es wäre die dritte in Folge. Er winkte einen Bediensteten zu sich, der einen schwarzen Koffer bei sich trug. "Ich dachte, ich hätte vier Leute für den Auftrag angeheuert. Waren es nicht vier? Die letzten ihrer Art?" Er kniff die Augen zusammen und räusperte sich.
Hector zuckte mit den Schultern. 'Was soll die Scheiße? Er hat den blöden Kopf! Soll er mir endlich das Scheißgeld geben!' "Die anderen haben es nicht geschafft. Es gab da..."
"Wie auch immer...", unterbrach Duga Hectors versuchte Erklärung. "Du hast mir den Kopf gebracht. Du bist als einziger hier. Wie es aussieht, brauchst du eine Menge Geld nicht zu teilen."
Hector wurde der scharze Koffer in die Hand gedrückt. Der Griff fühlte sich kalt an. Der Gedanke an das viele Geld ließ ihn jedoch schnell viel wärmer werden. "Vielen Dank, Senior Duga." Einfach so zu gehen, traute er sich nicht. Hector mußte ein Zeichen Dugas abwarten. Er schielte zur Treppe, die nach oben in einen Bereich führte, den er niemals sehen würde. Wo war Garcias Körper? Er mußte da sein! Seine Blicke wanderten Stufe um Stufe nach oben. Garcias Körper erschien und kam langsam die Treppe hinunter. Hector hatte Mühe, sich nichts anmerken zu lassen.
"Du kannst jetzt gehen, Hector", sagte Duga gnädig. "Viel Spaß beim Geldausgeben." Der Bedienstete griff nach dem Kopf.
Augenblicklich vernahm Hector das ihm bekannte Grunzen. "Danke, Senior Duga." Er drehte sich um und rannte los. Er hörte Duga noch irgendwas rufen, achtete aber nicht mehr darauf.
***
Knappe zwei Stunden später fühlte er sich einigermaßen sicher. Fliegen und Maden hatten den Wagen so schnell verlassen, wie sie aufgetaucht waren. Das Glücksgefühl ließ Hector die sengende Hitze vergessen. Vergessen dieser Scheißkörper, der in Diegos Anwesen was auch immer anrichtete... Auf der Rückbank lag ein Koffer mit fünfhunderttausend Dollar. "Leben, ich komme!"
Irgenwo unter der Motorhaube machte es laut Swosch. Entgeistert stellte Hector fest, das der Wagen langsamer wurde. Nach einigen Minuten des Ausrollens blieb er schließlich stehen. Hector versuchte erst gar nicht, den Motor neu anzulassen. Dampfender Qualm direkt vor seinen Augen brachte die ernüchternde Erkenntnis, dass ein Neustart zwecklos war. Er schätzte, dass es noch gut dreihundert Meilen waren, bis er so etwas wie menschliche Zivilisation erreichen würde. Er stieg aus dem Wagen und schlug fluchend die Tür hinter sich zu. Er sah nach oben. Ein blauer Himmel, wunderschön, von keiner Wolke getrübt. Und über allem die unerbitterliche Sonne. Hölle...
ENDE
copyright by Poncher (SV)
27.01.2005
***
"Bring mir den Kopf von Alfredo Garcia" (Bring me the Head of Alfredo Garcia)
USA 1974, Regie: Sam Peckinpah