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Brutstätte des Wahnsinns
Brutstätte des Wahnsinns
Unheimliche Novelle von Leichnam
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“Wenn der Tag des hohen Lichtes kommt, willst du in die Kuhlen fliehen, Düster-Freund?” (Ebn Zaiat)
Mit meiner Teufelsmaske auf dem Gesicht saß ich im tiefen Lieblingssessel - ein schwarzes Lederexemplar. Die Gedanken kreisten unentwegt um ein Problem. Ich war mir nicht schlüssig darüber, ob Herzkranke stanken - und zwar wegen des schlecht arbeitenden Herzens, das seinen ekeligen Geruch durch den Körper nach außen drückte, hinan an die Nasenschleimhäute der armen Terrorisierten. Ich sehnte sie herbei - die radikale Ausradierung jener Stinker. Ich war, jawohl, überzeugt davon, dass diese Leute pestigen Geruch verbreiteten. Meine diesbezüglichen Überlegungen schwangen dann um; ich dachte nach über dunkle Pfähle, die man in Zimmerecken einrammt, um Wohlgefühl sowie Zufriedenheit zu schaffen. Diese Denkelei hielt ebigst nicht allzu lange vor, und ich nestelte an der Materie der Maske herum - ohne Ideen im Hirne. Das Material beseitigte einen Juckreiz im rechten Zeigefinger.
Bald stand ich auf und nahm ein Buch zur Hand, eingebunden in gefärbtes Schweinsleder. Selbstverständlich ein okkultes Werk von Pakraduny. Hier begann ich, mich beim wenig potenten Licht der Kerzen auf die Problemfelder der Totenerscheinungen zu stürzen. Die eine oder andere Daguerreotypie zum Thema wurde dabei natürlich auch betrachtet.
Ich las, studierte, und im Zimmer war es so unglaublich lautlos. Das Getack der Standuhr hatte vor einigen Minuten geendet, sie war stehen geblieben.
Doch Zeit - sie hatte keinen Nutzen für mich. Ich lebte in die Tage hinein, die da kamen und wieder gingen, ohne Unterlass. Ich, Konrad von Heidner, Letzter eines alten Geschlechtes, wartete auf die Tage meines endgültigen Zerfalls. Das Tor des Todes - es war das große Ziel.
Diesen einen angebrochenen Tag würde ich mit Studien verbringen, den nächsten mit etwas Kreativität - basteln oder zeichnen vielleicht. Irgendwann wollte ich auch meine kleine Komposition für Geige zu Ende bringen, ein recht tragisches Stück voller Groll, voller Schmerzen. Es gab genug zu tun, und es war alle Zeit dieser Welt dafür vorhanden.
Trotzdem - es existierten Nächte, in denen Tatenlosigkeit vorherrschte, Stunden, in denen nur gestarrt wurde, gegrübelt über seltsame Details beispielsweise. Doch auch die schier vollständige Leere im Gehirn stellte sich oft ein, und dann zeigte sich die Lage eigentlich so, wie man sich den Tod erwünschte, ja hersehnte - als frostige, gefühllose Starre.
Ich saß nun da und schloss die Augen, über das Aussehen und die Beschaffenheit von Ektoplasma sinnierend. Waren die Stränge und feingespinstigen Gewebe klebrig, von kälterer oder wärmerer Temperatur, gab es diese Klebrigkeit gar nicht, von der ich so bewegte Vorstellungswelt besaß? Dieser exakt einzirkulierte Themenkreis war es, der meine Zellen im Kopfe malträtierte, eventuell noch für den ganzen Rest dieser Nacht, die eigentlich, ach, so schaurig-schwer, wie ich´s unendlich mochte. Doch ich ging dann lieber noch ein wenig im Haus herum, gebückt wie ein Sünder, nun mit Wirrnis in den Sinnen, ohne weitere Lerntätigkeit, welche ich mir eigentlich vorgenommen hatte. Das kam auch vor bei meiner Person: Ein konkreter Plan konnte durchaus einmal abgeändert werden. Und mit der Maske des Leibhaftigen vor Augen tat ich es…
Ich schritt gemächlich durch die Düsternis. Die Umluft gab sich wie immer muffig, abgestanden, verbraucht. Hier und dort brannte ein Kerzlein im Haus. Schwachlicht wirkte sich diffus aus auf das Grau der Hausatmosphäre - wie ein pelziges Überwesen aus Abermilliarden tristen Graufäden hing da alles um meine traurige Person herum. Ich setzte die Schritte in jene Trübnis, welche ich noch nie begriffen hatte, aber irgendwie verstand. Mein Atem unter der Larve ging stoßhaft, und von der Sache her wandelte man hier in der Puristik des Entsetzens.
Ungezählt die Toten, die Haus Heidner gesehen hat.
In Gallonen floss hier Menschenblut.
Triebhaftes Verbrechen reihte sich an triebhaftes Verbrechen. War ich der einzige friedfertige Mensch, den es in diesen Mauern je gegeben hatte? Ich wusste mir diese Frage nicht zu beantworten.
Von Zimmer zu Zimmer ging es, obere Etage, untere Etage. Wie der alte Hausgeist ging ich um. Trübe Scheiben blickten mir, zum Teil nackend, entgegen. Dahinter lag eine einzige Tristesse von schauerlicher Landschaft. Kargheit, abgestorbene Pflanzen sowie Bäume. Es kam dann allmählich Wind auf, und dieses Raunen, dieses ferne Heulen - ich mochte es!
Ich wusste um die Leichen, die draußen, wild durcheinander, in schwarzer Erde verscharrt lagen - Opfer des Hauses Heidner. Zahllos die Morde, beispielsweise Ritualdelikte, die hier geschehen waren. Ich aber sprach nicht darüber, nie.
Wieder zwei Gemächer, die durchstreift wurden. Eine Verbindungstüre lag dazwischen. Hier, in diesen beiden schattenhaften Räumen, spukte Katie. Eine junge Frau, die ich schon oft gesehen hatte, die ich aber nicht einzuordnen vermochte. Jenes Gespenst war von der Herkunft aus gesehen unbekannt. Es nahm sich für mich jedoch auch gar nicht wichtig aus, sie zu kennen. Dieser Geist war hier im Hause, dies wusste ich, und das genügte mir. Hinterfragungen und Recherchen stellte ich nicht an.
Draußen grollte es jäh, Wetterleuchten zeigte sich. Auch wurden die Töne des Windes lauter. Wunderbar! Ein Unwetter zog heran! Man würde noch mehr schwelgen können in dieser Nacht. Und ich legte mich einfach auf den Teppich, gegen die Decke starrend, welche ab und an zuckend heller wurde, da das Gewitterlicht durch die Fenster kam. Ach - mochte doch nun Katie kommen, sich mit ihrem Ektoplasmakörper auf mich herabsenkend…
Der Geist ließ sich nicht blicken. Und mit dumpfen Gedanken stand ich mühselig auf, kam zittrig auf die Beine. Noch ein wenig im Haus umhergehen? Ja, ich tat es. Es erfolgte wieder ziellos, und ich hegte während der Schritte kaum Gedanken. Müde striffen die Blicke verschiedene Möbel, verstaubt und teilweise einzeln umherstehend. Manchmal hatte ich mich nicht für geeignete Plätze im Wandbereich entscheiden können, dann standen die dunklen Stücke eben einmal mitten im Zimmer, sperrig und diagonal. Doch es störte mich nicht.
Ich kam in den Kellergängen an, wo ich die Teufelsmaske zu Boden gleiten ließ. Am anderen Tag würde ich sie wieder holen, wenn ich Lust dazu verspürte. Nun betrat ich allerdings obere Räume. Das Bett wurde nicht aufgesucht, es erfolgte auch keinerlei Abendwaschung. Auf den erstbesten Sessel ließ ich mich fallen und geriet sofort in einen bleiernen Schlaf. Erst am nächsten Nachmittag wachte ich auf.
Draußen fauchten die Winde, und als ich ans Fenster ging, sah ich, wie sich die dürren Baumleichen fast bis zum Boden neigten. Die Wolkendecke indessen raste dahin und war so tief liegend, dass das Dach meines Hauses darin verschwand. Hier in dieser schaurigen Bostoner Gegend hatte ich die Decke sogar noch tiefer erlebt. Auf dem Erdboden stehend hatte ich die Hand hineinrecken können, die Kälte und Nässe ausmachend. Diese Gegend hier gab sich anders - hier galten nicht die Maßstäbe des vielleicht Gewohnten. Ein landschaftlicher Eigenbereich und gleichzeitig Geheimnis.
Etwas Nahrung nahm ich zu mir, schnitt ein verstaubtes, hartes Brot an. Ich hasste Vitamine, diese Lebensbringer. Trocken Brot, etwas Dörrfleisch ab und an - dies stellte dar, was ausreichen musste für die Erhaltung einer körperlichen Sparflamme. Die Gesundheit litt darunter, doch es war recht so. Eine abgestandene Flasche Roten trank ich in einem Zug leer. Meine Sinne waren beständig umnebelt von kleinen Alkoholdämonen. So war es immer gewesen, seit Kindertagen an. So sollte es auch bleiben, bis sie endlich erreicht war - die schwarze Tür. Dahinter lag lediglich Abgrund ins Nichts.
Einen festen Willen hatte ich: Die Erhaltung meines kleinen Paradieses.
Dies wollte ich mir niemals nehmen lassen! Doch es war unklar, was das Schicksal vorsah.
Auch an diesem Spätnachmittag begann ein Herbstgewitter, welches freilich für Behagen sorgte. Ich stellte mich vor das Haus, unter das Vordach am Portal. Die Spinnweben dort zuckten im Sturm. Die Geige befand sich bei mir, und ich fing an, eine weinerliche, eigenartige Melodie zu spielen.
Eine volle Stunde verrann dabei. Ich sah dies, als ich zurück im Salon war und dort auf die Uhr schaute, die auf dem bröckligen Kaminsims ihren Platz gefunden hatte.
Auf dem ersten Stuhle nahm ich Platz, schloss die Augen, dachte intensivste über das eben Erlebte nach. Tiefe Schauder kamen auf - die Notenabfolge hatte für hohe Unheimlichkeit gesorgt. Doch so wollte ich es haben.
Bis zum späten Abend saß ich still und äußerst nachdenklich da. Dann schnitt ich mir erneut hartes Brot ab und aß. Das Getränk im Anschluss: Eine Literflasche französischer Roter. Gut gekühlt diesmal - ich war extra in die hinterste Ecke des kleinen Lagers im Keller gekrochen, um an die anregende Flüssigkeit heranzukommen.
Für die Leerung der Flasche - ich trank gleich aus dem Halse - benötigte ich abermals etwa eine Stunde. Draußen hinter dem Bleiglas tobten noch immer die Elemente, es knallte und schlug, wahrscheinlich fast direkt über dem Dache.
Eine Zigarre zündete ich, stellte den Totenkopf-Ascher neben mich hin auf einen kleinen, schwarzen Beistelltisch mit dämonisch anmutenden Intarsienarbeiten. Ein teures Möbelstück, direkt aus dem einstigen Herrenzimmer des verblichenen Vaters.
Nach einer Weile, das Geblitz und Getös hatte geendet, nahm sich lediglich das Klagelied des Windes noch vernehmlich aus. Die Kanten und Ritzen des Hauses waren Fangstätten für die bewegte Luft; die Geräusche gaben sich äußerst schaurig. Die Tage hier kamen und gingen oft mit dem Wind.
An ein hohes Fenster stellte ich mich heran, schob den finsteren Vorhang ein Stück zur Seite und starrte in die Nacht hinaus. Irgendwo da draußen musste es ein Mysterium geben, welches für die Traurigkeit der tristessegeschwängerten Umgegend Verantwortung trug. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es hier eben ´einfach so´ unendlich bizarr-schwermütig. Konnte es denn nicht sein, dass etwas dahinter steckte? Reckte das Haus selbo vielleicht gar unterirdische Finger durch die Erde hindurch, die hier so stankesschwarz und fäulnisdurchzogen? Waren es die Verwesten? Eine direkte Antwort saß nicht in mir, doch ich war mir klar darüber, dass ich innerhalb einer gewaltigen Absonderlichkeit vegetierte.
Ja, ich stand auf einem Flecke am Fenster, hatte nun einen Flügel gar geöffnet, atmete tiefertief die modrige Luft ein. Dieses Gebäude, indem ich existierte - ich sann darüber nach. Grau war es, entfärbt, zum Teil auch arg baufällig. Doch ich kümmerte mich nicht darum. Mochte der Tod nicht nur für mich, sondern auch für das Haus kommen. Und wie ein drohender Schlund wirkte, von außen gesehen, die überwuchtige Eingangstüre. Schwarz, leer sowie blicklos die Fenster. Es gab den schiefen Eisenzaun, der das öde Grundstück einfriedete. Von weitem war alles nur ein dunkler Klotz inmitten einer nicht enden wollenden Trostlosigkeit. Doch kaum eine menschliche Seele betrachtete den Bau auch nur aus der Ferne, denn bis in mein Gebiet verirrte sich kaum jemand. Die Gegend war einfach zu abgeschieden, und sie war auch gefürchtet. Man munkelte im recht fernen Dorf, dass man hier schon Teufel gesehen hätte, was ich persönlich nicht bestätigen konnte - leider.
Ich sog an der Import und wandte mich schließlich vom Fenster ab. Bitternis hatte sich auf mein Herz gesenkt, und Gram zerfurchte mein Antlitz. Wieder einmal ging ich ohne jeglichen Plan zwischen den zahllosen Wänden spazieren. Ich versuchte, jeden noch so kleinen Anflug von Gedanken aus dem Kopfe zu fegen. Gelang mir das über eine gewisse Zeit hinweg, dieses Aufrechterhalten eines größtenteils inaktiven Hirnes, geriet ich in einen rauschähnlichen Zustand.
So geschah es denn auch wieder. Das weitgehende Ausschalten von Überlegungen funktionierte dank Übung gut, und es setzte ein der ungewöhnlich hohe Glückszustand. Erreichen konnte ich diesen übrigens auch durch das sehr lange Betrachten eines Fetzens Papier oder der rechten vorderen Ecke meines Schreibsekretärs.
Man muss sich das seltsame Ergebnis folgendermaßen vorstellen: Es ist schlicht ein Glück vorhanden, wenn die Gedanken nun zum eigenen Besitz strömen - zum materiellen wie ideellen gleichermaßen. Es ist die perfekte Harmonie, im Grauen wandeln und wühlen zu dürfen, eine gewaltige Gabe durch höhere Kraft. Man ist eins mit Blut, scharfen Gegenständen, Teufelsmasken, dunklen feuchten Mauern, Gängen, Kellern, Bodenverschlägen, ja Schmutzpartikeln im und am Haus. Eine riesige Symbiose existiert, die für lange, lange Minuten anhält in absolut unveränderbarer Form. Die Bleiglasfenster lächeln mir zu, und die Vorhänge umschmeicheln wiederum diese herrlichen, verschmutzten Scheiben. Alles unterstützt sich gegenseitig, und ich als Hausherr stehe zwar im Mittelpunkt, doch bin ich KEINESWEGS Hauptgegenstand innerhalb des geheimnisvollen Gefüges. Alles ist gleich wichtig oder gleich unwichtig. Alles untergräbt den Gedanken an die weite Welt da draußen und deren vermeintlichen ´Inhalt´, den man nun ohnehin unerbittlich leugnet. Nein - von Wichtigkeit gesegnet sind Sachbelange oder Außenfelder in diesem Zustande erst recht nicht mehr, wo sie doch schon innerhalb der Nichtexistenz des Schwebezustandes fast völlig unbedeutend sind.
Es konnte vorkommen, dass mir in jenem Bewusstseinsbereich besonders hervorragende Kompositionen oder auch kleine literarische Juwelen gelangen. Ja, ich schrieb gelegentlich auch, dies allerdings grundsätzlich bei Nacht. Es geschah häufig sogar ein vollendetes Hineinsteigern in den Text - manchmal hatte ich erst im Morgengrauen mit der Tätigkeit aufgehört. Selbstverständlich drehten sich die Worte generell um Tod und Teufel, andere Themen gelangen mir nicht.
Erwähnen muss man sicherlich auch eine weitere, tiefgehende Beschäftigung. Schon seit einigen Jahren befasste ich mich sehr intensiv mit der Sargtischlerei. Es war ein gigantischer Vorrat an gutem Bauholze da, der noch von diversen Vorfahren stammte, die sich allesamt ebenfalls mit dem Thema auseinandergesetzt hatten. So weit es mir bekannt ist, verkaufte man einst auch die Totenkisten. Dies mache ich persönlich nicht, da ich keinen Kontakt zu Menschen pflegte und pflege. Vielmehr war es eine kleine Art Marotte von mir, die Särge, damit sich nicht zu viele Exemplare ansammeln konnten, innerhalb einer kleinen persönlichen Zeremonie ins Erdreich abzusenken. Ich vergrub praktisch jeweils den Sarg mit einer Lumpenpuppe darinnen. Oft schon war ich beim Ausheben der Gruben auf Skelette gestoßen, einige davon sogar mit Schmuckstücken behaftet. Es waren, man wird es sich denken können, frühere Opfer des Hauses Heidner.
Nun wird man allgemein vielleicht vermuten, ich wäre ein absoluter Einzelgänger. Dies stimmt jedoch nicht, da ich doch einen recht beachtenswerten Kameraden, ja Freund, besaß, der sich ab und an, selten zwar, aber doch immerhin, in meinem Hause blicken ließ. Ein Freund des Düsteren mit Namen Ambrosius Stenzenbrock. Ein sehr belesener älterer Herr, verschroben und weltfremd, doch wirklich ein Kenner diverser Spezialika.
Wieder einmal kam er, des späten Abends, zu Besuch. Der alte Klopfer, den er draußen am Portale betätigte, hallte dröhnend und bedeutungsschwer. Ächzend erhob ich mich vom Diwan, wo ich lang ausgestreckt gelegen hatte, studierend in einem Werke über Levitationsphänomene. Ich schlurfte müde durch den Raum, verließ diesen gebeugt, denn der Rücken schmerzte mir. In der Halle erwarteten mich weitere Klopftöne, die hier schauderlich lautstark waren. Ja, der gute Ambrosius - stets von Ungeduld geprägt, immer irgendwie auf der Flucht. Doch wenn er erst einmal auf seinem Hintern saß, dann saß er auch. Das konnte sich dann gar bis zu zwei oder auch drei Tagen hinziehen. So war er eben, und wieder einmal stellte ich mir den alten Haudegen bildlich kurz vor.
Er wirkte wie ein alter Rabe. Prinzipiell dunkel gekleidet, etwas gebeugt gehend, außerdem mit einem Gesichte ausgestattet, welches durchaus das Gruseln lehren konnte - zumindest für Leute, die Licht, Buntheit sowie Freundlichkeit gewohnt waren. Ich, der ich die Schwärze der Psyche tagtäglich verinnerlichte, konnte über ein derartiges Antlitz freilich lediglich leicht amüsiert sein.
Sein Gesicht bzw. die Fratze gab sich bleich, fast schon weiß, ähnlich einer Leiche. Die Züge wiesen Scharfheit, Kantigkeit auf - da gab es nichts, was sacht geschwungen oder ästhetisch gerundet gewesen wäre. Dieser noch dazu unnatürlich lang gezogene Kopf wurde eingehüllt von einem Filz langer, grauer, strähniger Haare, die nur selten einen Kamm zu spüren bekamen. Wenn Stenzenbrock sprach, klang es knarzig auf. Somit strahlte die Stimme sehr hart ab, was wieder so einige Zeitgenossen abschrecken konnte. Seine Glieder: Lang, dürr, knochig, hart. Die Augen: Stechend, stierend, nichts- sagend grau von Färbung. Er strömte, das möchte ich als Ergänzung hinzufügen, einen äußerst unangenehmen Geruch aus, der sogar mir mit den Minuten unerträglich wurde. Also unterhielten wir uns stets bei weit geöffnetem Fenster; egal, wie kalt es draußen war. Er störte sich nicht an niedriger Temperatur, ich wieder konnte es sehr gut ertragen dank meines recht stark ausgeprägten Willens.
Die Eingangstüre war erreicht, dem Manne wurde aufgetan. Stenzenbrock stand in der Aufmachung dort, die soeben beschrieben wurde; auch kam mir der erbärmliche Geruch, ja Gestank entgegen geweht - allerdings nahm sich ein Umstand andersgeartet aus: Unter seinem Umhang schaute die Jacke hervor, die er trug - und hier gab es den Unterschied zu vergangenen Tagen. Man sah zwei senkrecht verlaufende, rosa Stoffstreifen, welche auf der Kleidung aufgenäht waren…
“Pack dich!!!”, schrie ich den Mann an. “Pack dich! Und lass dich hier nicht mehr blicken!!!”
Rosa Stoffstreifen… ROSA! Das war mir zuviel!!
Die Person ging rückwärts von mir weg. Er blickte ausdruckslos, und in seiner rechten gichtkranken Klaue steckte Papier. Es sah mir aus wie ein altes Dokument. Während er, rückwärts gehend, im Nebel verschwand, drangen mir, leiser werdend, seine krächzigen Worte entgegen. Noch prangte die Kralle aus dem Dunst, doch bald war auch sie verschwunden.
“Das Papier hier - ich wollte dir nur etwas von dem Papier erzählen. Eine betagte Prophezeiung, die ich jüngst fand. Sie sagt aus, dass der Untergang des Hauses Heidner, dieser großen Ära, bevorsteht. Der genaue Termin ist heute in drei Tagen…”
Die zieselnden Geräusche des Windes blieben zurück.
Drei Tage lauern auf etwas Diffuses - so etwas hatte ich noch nicht erleben müssen. Die Grübeleien, die dabei entstanden, waren unfassbar…
Ich besetzte alle Sessel und Stühle sowie Sofas des Hauses. Ich schlief nicht mehr, sondern sinnierte in den Sitz- und Liegemöbeln nur noch vor mich hin. Etwas anders tat ich nicht mehr. Ich trank keinen Schluck, nahm kein Essen zu mir. Es war nur noch ein tiefes Nachdenken da über die Worte Stenzenbrock´s, den ich weggeschickt hatte. Und die unendlich wunderbare Düsternis des Hauses hüllte mich bei diesen herrlichen Qualen ein. Ich bestand lediglich noch aus Nachdenklichkeit.
Eigenartige, ja seltsame Sätze spukten durch meinen Kopf, etwa dieser hier: Die Feinspezifik der Grobmotorik humanoider Komprimate - etwas prominent im Habitus, aber revisionswürdig.
Die Worte waren wie ein Schlag im Hirne aufgebracht, die Quelle ahnte ich nicht einmal, der Sinn blieb leicht schleierhaft. Ich übersetzte es in etwa mit Lehre von den körperlichen Bewegungen arroganter Menschen. Wie gesagt: Ein schleierhafter, vager Sinn.
Doch der Abend kam, und mit ihm die Dunkelheit, vor der ich mich plötzlich fürchtete. Alles im Haus schien bedrohlich zu sein; die Weichheit der Finsternis hatte sich irgendwie in Härte gewandelt. Manchmal stand ich vom Sitze auf, wankte kraftlos ein Gemach weiter und ließ mich dort erleichtert aufs erstbeste geeignete Möbel nieder. Einmal saß ich gar für eine Stunde auf einer niedrigen Kommode, bis die lästige Unbequemlichkeit für mein Weiterziehen zu einem Sessel sorgte. Dort saß ich dann wieder bis in allertiefste Nacht hinein, auf imaginäre Geräusche lauschend, die aus den Tiefen und der Schwärze des Hauses herrührten. Jene Laute gab es! Mir stellten sich die Nackenhaare auf, als sie hörbar wurden. Mir kam der Verdacht, dass sie zu schaffen hatten mit dem verschmähten Stenzenbrock…
Ich erstarrte in jener angespannten Haltung des genauen Zuhörens, und ich wusste, dass es meiner Person schadete. Die Sinne geschärft, zitterte ich vor mich hin - nicht Angst vor dem Tode habend, sondern vor dem Abgrund…
Im Hause Heidner hatte sich schon jetzt etwas gegen mich gestellt!
Und wieder und wieder peinigte ich mein Gehör aufs Äußerste. Ein Knacken, ein Geschlage - weit entfernt. Und irgendwann sprang endlich eine Türe von alleino auf, mitten im Hause. Ich wusste, dass es nicht mit Katie zusammenhing, denn sie ging nie in Interaktion mit greifbaren Gegenständen ein. Nein, diesmal war das Umgehen ein Unbekanntes.
Kamen die Töne näher - dieses Rascheln jetzt zum Beispiel? Näher, bis sie meine jämmerliche Gestalt erreicht hatten? Regten sich in mir erste Anflüge des Wahnsinns? Der wuchtige Schrank dort drüben - vibrierte nicht eine Ecke an ihm? Krampfhaft schloss ich die Augen, und als ich sie wieder auftat, konnte ich nichts Ungewöhnliches entdecken, auch nicht beim besagten Schrank. Doch die Geräusche - waren sie noch da? Nein, es nahm sich still aus im Hause. So saß ich also dort, jedoch noch immer überwältigt vom Erlebten. Hatte dies alles einen tieferen Sinn?
Ich ging in einen weiteren Raum. Ein sehr düsteres, ja unheimliches Zimmer, welches ich eigentlich nur ungern aufsuchte. Das eine hohe Fenster, das vorhanden war, gab den Blick frei auf einen besonders grausig wirkenden Teil der Außenlandschaft. Hier sah man, umgeben von der Nacht, die Silhouette eines extrem verformten toten Baumes. Eine Kreatur im Krampf des Todeskampfes - diese Aura strahlte ab. Im Hintergrund verlor sich die karge, öde Ebene im Nachtschwarz. Finden würde man da draußen außer lauter grauen Eindrücken nichts.
Ein alleingelassener Stuhl stand im Gemach, gleich an einem kleinen Tische. Dort setzte ich mich seufzend hin. Ich wartete auf - eigentlich nichts…
Ich blieb da sitzen bis zum Morgen. Mein Hirn war wie leergefegt. Meine Muskulatur wie gelähmt. Mein Empfinden: Ein großes Nichts… Doch dann begann ein leises Ticken in meinem Kopfe, und Gedanken an Ambrosius Stenzenbrock keimten allmählich aus der Tiefe auf, wirre Überlegungen, mit denen man zunächst kaum etwas anstellen konnte. Das wirre Haar des Okkultisten tauchte vor meinem geistigen Auge empor; die Kleidung - die er für gewöhnlich trug - bekam ein konkreteres Erscheinungsbild. Und während solche Dinge meine grauen Zellen durcheilten, gewann eine beklemmende Unruhe die Oberhand über meinen Körper. Gepeinigt wurde ich - alleine durch diese Vorstellungen zum Thema Stenzenbrock. Was hatte jene Figur mit meiner Existenz überhaupt noch zu tun?
Wieder und wieder sah ich vor mir den ungeordneten Haarfilz des einstigen Kameraden, erneut auch die Bekleidung. Und es kam stärker meine urtiefe Verwunderung hervor - was nur sollten die Bilder? Schließlich tat ich sie - allein, um mich selber zu beruhigen, denn das Zittern hatte unschöne Formen angenommen - als völlig belanglos, ja unwichtig ab. Doch das war ein Fehler! Nur wusste ich es noch nicht. Schmerz quälte mich; seit unzähligen Stunden schon hockte ich auf dem harten, polsterlosen Stuhle. Doch ich stand nicht auf, vertrat mir nicht die Beine, wie ich es vielleicht hätte machen sollen. Gedankenketten hielten mich gefesselt, eventuell würde ich auch noch in Selbstmitleid zerfließen, wenn es nicht bald endete.
Letzten Schlusses MUSSTE ich aufstehen, um ein wenig umherzugehen und die mörderischen Schmerzen loszuwerden. Der Tag draußen war trüb und völlig bewölkt, wie eigentlich immer. Traurig standen die wenigen Baumleichen umher, dazu pfiff ein leiser, zieselnder Wind. Das Ende der Welt war es, wirklich das Ende der Welt mit all seinen vorstellbaren Facetten. Hier lebte ich, seit ich denken konnte, anders wollte ich es auch nicht. Das Leiden, die Tristesse und Monotonie, seit undenklicher Zeit ein Dasein behauptend, stellten Realitäten dar, die ich nicht mehr missen wollte und konnte.
Alsbald jedoch saß ich neuerlich, auf einem zerschlissenen Sessel diesmal - wieder grüblerisch, tief sinnierend. Stenzenbrock beherrschte meine Seelenlandschaften, wiederholt offenbarte sich mir seine scharf gezeichnete Fratze. Oft versuchte ich, derlei Gedankengut schnellstens zu verscheuchen, obgleich: Es gelang mitnichten. Innerliche Trutzburgen baute ich mir auf, oder besser, ich versuchte es, mit doch sehr bescheidenen Erfolgen. Das Verjagen dieser, ja nennen wir es ruhigen Gewissens fast ständig anwesenden Kreatur, gelang lediglich, wenn ich regelrecht gewaltsam an Belange dachte, die größte Konzentration erforderten. Mathematikprobleme gehörten hier beispielsweise hinzu. Oder ich versuchte mich an innerlicher Rezitation von Gedichten, welche in Jugendjahren gelernt worden waren.
Erfreulich, dass ich die Bilder von Stenzenbrock ab und an aus dem Kopfe bekam - aber leider stets nur kurzzeitig. Dann setzte ein tief wühlendes Drängen ein, und ich musste wieder an den einstigen Kameraden denken. Und plötzlich wallte leise in mir auf, dass er mir einstmals in sehr vertrauter Stunde ein Geheimnis anvertraut hatte, welches hoch mit seiner Person sowie seiner Sippe verankert gewesen. Nur: Was war das gleich für ein Geheimnis? Ich entsann mich nicht mehr.
Abend nahte, Nacht kam. Und noch immer da: Die Suche nach dem Stenzenbrock-Mysterium. Ich war mittlerweile sehr erschöpft, da ich keinen Tropfen Flüssigkeit zu mir genommen hatte. Die Konzentration aufs Wesentliche fiel schwerer & schwerer. Und irgendwo im Haus zeigten sie sich plötzlich wieder vorhanden - leise, unbestimmbare Laute und Geräusche, nie direkt in meiner Nähe. Aus den verzweigten Gedärmen des alten Baus klangen sie vorsichtig, ja fast unhörbar, auf. Ich ließ mich jetzt nicht ablenken. Nein, dies nicht! Weiter wurde gegrübelt über das große Geheimnis. War nicht der Mond im Spiele gewesen, der Vollmond, als ich von Ambrosius das Seltsame erfuhr? Eine stille Nacht, ein weites Feld, auf dem wir dahinspazierten? Ja…
Ja, so war es gewesen. Die Erinnerung kam auf, und jäh, erschreckend jäh, wusste ich, was er mir vor vielen Jahren gesagt hatte. Nachtwind drückte sich heftig gegen Bleiglas - er würde mir die Worte im Kopf jedoch nicht mehr wegwehen! Regen klatschte an die Fenster, doch er würde mir die Gedanken nicht mehr fortschwemmen.
Das Geheimnis - ich wusste wieder um das Geheimnis, das so furchtbar tief eigentlich nicht war. Die gesamten Leute der Stenzenbrock-Familie hatten jeweils immer den Tod voraus geahnt, dann relativ genau gewusst, wann sie sterben würden. Wusste dies einer, ließ er sich zwei senkrechte Streifen aus Stoff auf die Kleidung nähen - rosa Streifen… Sogar selbst genäht hatten einige, Stunden vorm Tode…
Ambrosius war als Verkünder des Untergangs meines Hauses in rosa Streifen aufgelaufen! Schwer wie ein Stein hockte ich auf dem Sitz. Die Kehle war mir wie zugeschnürt, gab sich trocken, schmerzte. In diesen Augenblicken war Stenzenbrock mit Sicherheit bereits tot.
Die Geräusche im Haus - schlagartig drangen sie tiefertief ins Bewusstsein ein. Etwas knallte laut. Ich hatte plötzlich wahnsinnige Furcht davor, nach dem Grund des Knallens zu forschen. Ich schreckte extrem davor zurück, jetzt weitläufigere Gefilde des Gebäudes aufzusuchen. Und die Frage kam auf, ob das Haus noch gänzlich mir selbo gehörte…
Der Untergang des Heidner-Hauses - laut Ambrosius sollte dieser stattfinden an einem Sonntag. Was waren das nur für Unterlagen gewesen, welche der Okkultist bei sich getragen hatte? Für mich schienen diese auf einmal direkt aus der Hölle zu stammen… Ich lehnte mich dagegen auf, jetzt weiter über diesen Problemkreis nachzudenken. Dumpf brütete ich im Sessel vor mich hin, starrend, ohne Schlaf, ohne Nahrung. Der neue Morgen kam. Der Samstag hatte sich seit einigen Stunden die Ehre gegeben. Der Vortag des Ruins… Schwächlich drang in meine Erinnerung, dass gegen 3.00 Uhr in der Frühe die Laute geendet hatten. Es war für mich bedeutungslos geworden. Denn jenes Papier, jene Sache mit dem Untergang - dies waren Unruhestifter erster Klasse. Oder hielt ich das alles doch für Unfug?
Kein Unfug, kein Lug & Trug! Ich liege gegenwärtig auf einem Schuttplatz, auf meinen Tod durch Verdursten wartend. Ich habe mich in eine schmutzige Pferdedecke eingehüllt, die hier weggeworfen umher lag. Zuvor hatte ich, hier zwischen dunklen Hügeln stinkenden Mülls, diese Zeilen hier geschrieben. Danach, mich wundert die relativ hohe Qualität des Textes bei meinem jämmerlichen körperlichen Zustande, gab ich, gebe ich, die beschriebenen Blätter beim städtischen Druckhaus ab. Dort hängt ein dicker Briefkasten. Ich hege Hoffnung auf Veröffentlichung der Zeilen eines toten Mannes. Ich schreibe jetzt natürlich noch, doch baldo schon gehe oder besser krauche ich zum Druckhaus. Und danach wieder kehre ich hierher zurück, auf meinen Schuttplatz, auf meinen kleinen Elefantenfriedhof… Und das, was zusammenhängt mit dem Untergang des Heidner-Gebäudes, folgt nun - die wohl unglaublichsten niedergelegten Worte, die es weltweit gibt…
Dieser Samstag war ein äußerst dicht sowie kompakt bewölkter Tag, eine richtiggehend finstere Zeit, wie ich es liebte. Im Verlaufe der Stunden gesellte sich gar dicker Nebel hinzu. Die Wolkendecke lag unterhalb des Dachfirstes des Hauses - sie wirkte wie aus Stein gemeißelt. Ich schaute nur kurz aus einem der hohen Fenster, dabei nicht einmal mehr wissend, in welchem Raum ich mich befand. Doch dies stellte ohnehin lediglich eine Unwichtigkeit dar. Den Rest der Zeit bis zum Anbruch der letzten Nacht verbrachte ich reglos auf irgendeinem Stuhle. In meiner Hand baumelte die Teufelslarve - zu einem Zeitpunkte, den ich nicht mehr kannte, musste ich sie geholt haben.
Ich dachte unterdrückt an diese Nacht. Würde ich vielleicht gar gewaltsam sterben? Es wäre eine Erleichterung gewesen. Weshalb ich so fühlte, vermag ich nicht zu erklären. Oft dringt man nicht ins Unbewusste vor, so sehr sich auch gemüht wird, entsprechende Punkte aufzustöbern.
Ich saß da, saß da, saß da. Ich dachte gar nicht daran, einen Schritt zu gehen oder gar nach draußen vor die Türe zu schreiten. Ich wollte nichts. Die Mundhöhle: Trocken, rau. Die Augen: Fiebrig starrend, schmerzhaft brennend. Die Haut: Trocken, verdörrt, schuppig. Das Haar: Ungekämmt, wild durcheinander, eingestaubt. Ich erwartete nichts mehr. Lethargie, Gleichgültigkeit. Die schwarze Hand - ich hatte eine persönliche Philosophie darüber verfasst , doch es würde jetzt zu weit gehen, diese eingehender zu betrachten - zog mich derb nach unten, drückte Gelüste & Bedürfnisse ab. Doch ich mochte, ja begehrte sie, diese schwarze Hand. Innerhalb einer Düsterkeit, die man tief genießen musste und konnte, war sie immer mein Begleiter & wohlwollender Freund gewesen. Auch jetzt fühlte ich keine Abneigung gegen dieses ureigene gehirnliche Produkt.
Das Zimmer um mich herum lag kahl da, trist. Unter mir ein alter, zerschlissener Teppich, an den Rändern vollkommen abgeschabt. Erneuerungsbedürftig für den Massenmenschen, nicht aber für mich, der ich alte, verbrauchte, zerfaserte und zerfressene Dinge gut hieß. Die Räumlichkeit hier, wie schon gesagt, kannte ich gar nicht genau; ob der vielen Orte im Gebäude kam es vor, dass Erinnerungslücken gar über Zimmer auftraten. Ich hatte diese Kubikmeter hier sicherlich nur selten oder gar nicht genutzt, im Unterschied zum Gespensterzimmer, wo sich Katie häufig blicken ließ und ich mich so manchen Tag und so manche Nacht aufgehalten hatte, reglos meist und in Erwartung der Erscheinung.
Ich bewegte träge meinen Mund. Kopfschmerz marterte mich. Draußen wurde es allmählich dunkler, dunkler, dunkler… Und plötzlich bekam ich den Eindruck, als würde sich die abgestandene Luft um mich herum ganz langsam verdichten!
Von unten herauf kam ein Knacken, ein Knarzen. Die nächtlichen Geräusche waren wieder da… Ich lauschte. Das fragende Aussprechen eines Namens kam mir leise über die spröde gewordenen Lippen.
“Ambrosius?”
Und etwas kam, sich quälend viel Zeit lassend, die Treppe herauf!
War da ein seufzendes Atmen zu vernehmen - ein leises, nicht zu deutendes Gestöhn? Ich schlug die Arme um meinen frierenden Körper. Mit eitrigen Augen starrte ich zur alten Zimmertür, die einen schmalen Spalt offen stand . Da draußen im Flur…war jemand! Nochmals setzte ich die Frage.
“Ambrosius? Bist du es?”
Kälte waberte in den Raum herein, eine Antwort erfolgte in hörbarer Form nicht. Doch das Knarren nahm sich nun sehr nah aus, so, als wäre das obere Ende der Treppe gleich erreicht.
“Ambrosius?”
Knarzend und unendlich langsam ging die Türe auf… Deutlich sah ich es im gräulich-schwarzen Schwachlicht der fürchterlichen Nacht. Die Tür stand jetzt weit offen, doch ich erschaute - niemanden. Die Geräusche hatten auch geendet. Es gab mich, meine Sitzgelegenheit, das Zimmer, und - noch jemanden? Ich war mir nicht sicher. Nein, da konnte doch niemand stehen, oder? Es war doch lediglich eine offene Tür vor mir, oder?
“KONRAD…”, raunte eine Stimme…
Mich hielt nichts mehr. Schreiend sprang ich auf, stürzte durch einen kalten Fleck hindurch aus dem Raume, hastete die ausgetretenen Stufen hinab. Unten angekommen, schwang ich mich in irgendein Zimmer hinein, ließ mich auf einen Diwan fallen. Ich kauerte bebend da. Ich hatte Todesangst… Ein Gefühl, das ich noch nie erfahren hatte.
Diese Stimme - kannte ich sie? Sie hatte seltsam geklungen, weder männlich noch weiblich. Ich lauschte, während sich mein fliegender Atem beruhigte. Ich hörte von draußen das Pfeifen des Windes. Ansonsten herrschte itzo Stille. Das Entsetzen, das Grauen - beides hielt mich noch eisenfest umklammert. Doch jäh fühlte ich ein Wohlgefühl in mir emporsteigen. Im Schrecken schließlich befand sich meine leidende Person, in der Brutstätte aufkeimenden Wahnsinnes. Sollte man denn nicht besser sehr glücklich darüber sein - über die Anwesenheit des Terrors? Ich lebte es überstark. Ich kam in diesen nachdenklichen Minuten zur eingebildeten Besserung meines physischen Zustandes. Und nochmals durchdachte ich einen bestimmten Satz, der da lautete: ICH LEBE IM GRAUEN!
Ja, dem war so, und wer konnte dies so leicht von sich behaupten? Die Schrecknisse - sie waren vorhanden. Keiner konnte sie mir wegnehmen. Ein Gigant von Strudel umschäumte mich, er enthielt stolz Erstaunen, Fassungslosigkeit, dunkle Überraschung sowie Überglück.
Ich lächelte ob der neuerlichen leisen Töne. Jemand schien die Stufen hinab zu schleichen. Es knackte ein wenig. Das Gespenst folgte mir nach. Ich saß da und kicherte. “Husch! Geistlein… Hihihihihihihi…”
Meine Seele wankte, und die Mentalwelt war aus den Fugen geraten. Draußen hätte man mich nun weggesperrt. Aber ich war nicht draußen. Ich befand mich in der Eigenwelt, die mir riesig erschien. Und mich ließ alles kalt, was zusammenhing mit Fremdgebiet.
Ein angestrengtes Lauschen folgte, und wie oft war nur Wind vernehmbar. Kraftlos sackte ich regelrecht in mich zusammen, und nun, da diese Zeilen von Hand in Kritzelschrift geschrieben werden, spüre ich zur Energielosigkeit noch den nahenden Tod. Ich muss zum Ende kommen, denn die Blätter will ich ja noch zum Druckhaus bringen, das in der Stadt befindlich - danach noch der Rückweg zum Schuttplatz, wieder hierher zur Sterbestelle, weit außerhalb des ruinierten Hauses Heidner. Die Vorhersage Stenzenbrock´s, seine Dokumente - es geschah dies alles wirklich noch…
Die Restnacht blieb ruhig. Erschöpfung in mir, doch kein Schlaf, kein Schluck Wasser. Nur Qual und stille, abgestumpfte Erwartungshaltung. Was sollte da kommen? Was sollte da nur noch kommen? War ich verrückt, dass ich daran glaubte wie an das Erscheinen eines Messiahs?
So verrannen auch die letzten Stunden der Schicksalsnacht, in denen ich schließlich hin und her im Gemache ging - hin und her wie der Tiger im Käfig.
Katie, der weibliche Geist, ließ sich nicht blicken. Ich betrat gar, mit unendlich müden Blicken, die Doppelräumlichkeit mit der Verbindungstüre, um sie vielleicht zu sehen. Traurig schwenkte ich mit einer Kerze umher. Aber sie blieb fern. Ganz so, als würde sie ahnen, dass es im Hause ohnehin bald keine Möglichkeit mehr gab, um zu erscheinen.
Ich stand am Fenster meines Arbeitsraumes im Erdgeschoss, der Morgen graute. Es schüttelte mich innerlich durch, als die Gedanken an den letzten Tag einflogen. Vor meinem geistigen Aug´ sah ich, als Vorstellung freilich, wie im Gebäude Arbeiter eintrafen. Es handelte sich um erfahrene Leute, die damit begannen, die Zimmer neu zu tapezieren - mit vielfarbiger, bunter Tapete! Ich schrie innerlich wie am Spieße steckend auf, öffnete ruckartig und mit höchster Gewalt die blutunterlaufenen Augen, die nur Düster gewohnt waren und nun aber kaum noch schauen mochten. Der Morgen war gekommen - mit blauem, unbewölktem Himmel!!! Gütiger! Warum dies mir? Alles, wirklich alles, hätte ich ertragen, aber dies? Nein! Nein!! Nein!!! Der Untergang - wie verhießen…
Ich wollte schon zurückprallen, als ich von da draußen etwas durch die Fensterscheiben hindurch vernahm. Keinen Wind, nein - ihn gab es nicht mehr. Dafür helle Kinderstimmen. Kinderstimmen! Ich fasste es nicht. Tatsächlich, vor dem Haus befand sich die kleine Gruppe von vielleicht 4 oder 5 Bälgern, Jungen und Mädchen. Sie spielten mit Zweigen und Erdkrumen, lachten dabei, riefen fröhlich.
Das war zuviel!!!
Ich sah den Sonnenball, als ich, schwer atmend, zurückwich. Ich hielt mir schluchzend die Hand vor Augen. Noch nie, wirklich noch nie, hatte es hier derartig freien Sonnenschein gegeben.
Ich war verloren. Das Haus war verloren! Die Prophezeiung des Ambrosius - sie hatte sich erfüllt.
Schlagartig wusste ich, was zu tun war. Ich packte einen Stoß Papier, Tintenfass und Kiel. Dann verließ ich, wild schreiend, mein Haus, ohne mich noch einmal umzusehen. Ich kannte den Zielort, diesen Schuttplatz, dieses große Erdloch, kühl, schattig, dunkel. Bei Spaziergängen war ich oft dort gewesen. Hier kam ich an, in Hetze. Ich warf mich in die Kuhle hinein, fand jene Pferdedecke gegen Auskühlung beim Schreiben. Als Unterlage: Ein altes Brett. Und ich legte diese Zeilen hier an.
An meinem Handgelenk baumelt noch die Teufelsmaske. Ich schaue sie an und lächle verklärt. Diese Epoche geht nun zu Ende. Ja, das sind sie - die letzten Worte, die ich in meinem Leben je schreiben werde. Gleich der verlorene Taumelgang in die Stadt, die verhasste. Irre Augen von Insektenleuten werden mich verdrecktes Etwas anstarren, idiotische Fragen in den dämlichen Köpfen habend, die sie nicht auszusprechen wagen. Doch Antworten würde ich ohnehin in sofortiger, direkter Form keine geben, nur den Packen Papier werfe ich in den Briefkasten der Druckerei. Alle Gedanken, die sich dann über diese Schrift gemacht werden, liegen nicht mehr in meiner Hand. Ich werde dann gestorben sein. Die allerletzten Sinnierungen gehen dann vielleicht noch einmal hin zu Stenzenbrock. Über ihn bin ich mir nicht sicher. Wenn er der leibhaftige Teufel ist, dann hat er mich betrogen. Doch was verwundert mich das?
Der Teufel betrügt immer.
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ENDE
(Leichnam, April 2005 zu Buchholz)