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Brutus
Hinter mir wurde gekichert und ich war bemüht, das falsche Lächeln zu halten. Er hat vergessen, die Monatsmarke zu wechseln, hahaha. Thorsten prustete irgendwas, das mich vermutlich aufbauen sollte, weißt du noch, höhö, wir wir uns in der Fünften immer fast in die Hose geschissen haben, wenn das passiert ist? Heute lacht man ja nur noch darüber, hey, fünfzehn Jahre und alles schon mal gesehen, oder nicht? Egal, wer heut’ fährt, die kennen uns doch mittlerweile und wissen, du bist doch nicht etwa nervös, oder?
Ah, Quark, weswegen denn wohl, und mit diesen Worten hatte ich das gezwungene Lächeln angefangen, das nun drohte, einen Gesichtskrampf auszulösen und meinen Kiefer aus den Angeln zu heben. Die Angst einer zusätzlichen Blamage, sollten meine Züge ohne debiles Dauergrinsen die Abwesenheit von Gelassenheit verraten, war so groß, dass ich meine Mundwinkel wie mit Reißzwecken geheftet da hielt, wo sie waren. Nervös? Blödsinn, Ihr Pfeifen. Sie wären am nächsten Tag auf dem Schulhof über mich hergefallen wie Wölfe über ein verletztes Reh, hätte ich in diesem Moment Schwäche gezeigt.
Tatsächlich aber war ich schwach. Und tatsächlich schiss ich mir fast in die Hose, nach wie vor und genau wie in der fünften Klasse, bei dem Gedanken, dass ausgerechnet heute Brutus am Steuer des Schulbusses sitzen könnte.
Brutus war gewaltig. Niemand konnte sich so recht vorstellen, wie diese Fleischmassen in den Raum zwischen Sitzlehne und Lenkrad gequetscht und nach Feierabend oder in der Mittagspause wieder herausgehievt wurden. Ich hatte mal jemanden aus der 9a sagen hören, Brutus sei quasi an den Bus angeschlossen, ein Cyborg wie der Terminator oder Robocop, halb Mensch, halb öffentliches Verkehrsmittel, ganz Beamter. Niemand hatte ihn jemals jenseits seines mächtigen Lenkrads gesehen, das er stets arrogant und machtbewusst streichelte wie ein König sein Zepter.
Ich gehörte zu den Spätgeborenen, so spät geboren, dass ich die Spitznamensgebung dieser Geißel der Innenstadtschülerschaft versäumt hatte. Zu vermuten stand zweierlei: Zum einen hingen Brutus Wangen herab von seinem Gesicht, so als sei sein Schädelknochen zu klein für die ganze Haut drum herum. Diese anatomische Unpässlichkeit entstellte ihn mit dem umgedrehten Lächeln einer Bulldogge oder eines Boxerhundes, nach den gängigen Klischees also eines Festus, eines Attila oder eben eines Brutus.
Zum anderen klang Brutus natürlich nach cäsarischer Allmacht, und in eben der suhlte er sich wie zweitausend Jahre vor ihm Caligula und Co. Brutus brachte sie alle dazu, verschämt ihre Schuhspitzen zu studieren und mit piepsiger Wellensittichstimme ihr Anliegen und ihre Entschuldigungen vorzutragen. Oberstufler, Jungen und Mädchen, die kurz vor dem Abitur standen und für mich damals also fertig ausgebildete, erwachsene Menschen waren, meinen Eltern gleich, Menschen, die Lächerlichkeiten wie einen grantigen Busfahrer schon lange nicht mehr fürchteten: Ich sah sie zerbrechen unter dem strafenden Blick und den inquisitorischen Nachfragen des Brutus.
Wer am Ersten noch die Karte des Vormonats im Portemonnaie hatte, war verloren. Sie konnten ihre Haare färben, Metallica T-Shirts tragen und mit weltmännischem Blick ihre Zigarette rauchen, während sie auf den Bus warteten – vor Brutus standen sie wieder wie vor ihrem Vater im Alter von drei, nachdem sie mit Wachsmalstiften auf der weißen Tapete im Wohnzimmer gekritzelt hatten.
Aus nächster Nähe hatte ich das mal bei einem Jungen aus der Zwölf erlebt, einem wasserstoffblonden Skater, einem Frauenhelden und Sextaneridol, die zu große Hose lässig auf halb acht hängend, ein Piercing in der Unterlippe, eine schwarze Baseballcap mit einem Totenkopf drauf falsch herum auf dem Kopf. Einem gestandenen Mann also. Mein Platz in der Reihe war direkt hinter ihm und ich hörte ihn nuscheln, irgendetwas mit Juni. Am ersten Juli. Den Rest konnte ich mir denken. Brutus wohl auch, aber er wäre nicht Brutus gewesen, hätte er es dem Nachlässigen so leicht gemacht.
„Ich versteh kein Wort“, informierte er seinen Gegenüber, motzend und laut genug, um Gespräche im und außerhalb des Busses verstummen zu lassen. So lenkte er die Aufmerksamkeit auf sich und sein Opfer, eine Situation, die der Betroffene mit seinem leisen Sprechen natürlich versucht hatte zu umgehen. Auch die Römer kreuzigten an Straßen entlang, vor Stadttoren und auf Hügeln, da, wo jeder das Martyrium der Delinquenten beobachten konnte. Schließlich ging es nicht so sehr um die Bestrafung des Einzelnen als vielmehr um die Botschaft an subversive Elemente in spe.
Das arme Schwein wiederholte sich, diesmal verständlich: „Ich hab’ noch die Junikarte drin.“
Brutus leckte sich die Lippen.
„Wenn ich blind wäre, dürfte ich keinen Bus fahren, Junge.“
Ich konnte die Scham hören, als der in Ungnade Gefallene deutlich vernehmbar schluckte.
„Und jetzt?“, wollte Brutus wissen. Wenn er leiden ließ, verzog er keine Miene, er lächelte nicht wie die Hollywood Bösewichter. Jedenfalls nicht äußerlich.
„Ich hab’ morgen die Neue drin. Ich ... äh ... mache sie heute Abend rein. Nachher. Nein, nein, gleich, gleich, ich mache sie gleich rein, wenn ich nach Hause komme, dann sofort.“
„Dann hast du morgen die Julimarke drin?“
„Ja, JA! Also, auf jeden Fall!“
„Und was machen wir heute?“
Der Kopf sank wieder, der Kaninchen-vor-der-Schlange-Blick studierte erneut den Boden des Busses.
Ein Flüstern: „Kann ... ähm ... Kann ich heute trotzdem mitfahren?“
„Wie bitte?“ Brutus vergrößerte mit der Hand seine Ohrmuschel.
„Kann ich heute trotzdem mitfahren?“, wiederholte der Gepeinigte, diesmal laut und deutlich wie ein Bundeswehrekrut beim morgendlichen Appell. Hinter mir rief jemand „Jawoll, mein Führer!“ Als ich mich umdrehte, sah ich ein dunkelrot angelaufenes Jungengesicht, gezeichnet vom nervösen Augenspiel dessen, der den Mund nicht hatte halten können und der sich bangend fünf Sekunden in der Zeit zurückwünschte. Zum Glück des Rufers war Brutus in dieser Sekunde der Fahrplan eingefallen. Er schob den Skater einfach durch, meckernd, dass er irgendetwas schließlich nicht den ganzen Tag könne und dass irgendjemand mal vierundzwanzig Stunden hinter Schloss und Riegel gehöre. Dann ließ er sich weiter Fahrkarten präsentieren wie ein fetter Pharao die Weizenernte.
Bei der Sparkasse bog der Bus in die Straße ein und näherte sich. Mit angehaltenem Atem wartete ich auf den Moment, in dem ich den Fahrer erkennen können würde. Erst viele Jahre später hörte ich von Murphy’s Law, dem kosmischen Gesetz, demzufolge alles gleich richtig und auf einmal schief geht, wenn etwas schief gehen kann. Natürlich war es Brutus, der an diesem Tag den Bus in der Haltebucht stranden ließ wie einen roten, nach Benzin stinkenden und mit Werbung für DEN Actionblockbuster des Jahrzehnts - bereits der dritte oder vierte des Jahres - zugekleisterten Wal.
„Oooooohhh ...“, ging es durch die Reihen hinter mir, spöttisch, kindisch, schadenfroh. Ich drehte mich um, zahlte mit dem Mittelfinger und bekam noch lauteres Ge-ohe und gemeines Lachen als Wechselgeld.
Viel zu schnell gingen die vor mir in den Bus. Sie alle hatten an den Wechsel der Monatskarte gedacht und passierten Brutus im Schnellschritt, Augenkontakt vermeidend, respektvoll aber im Wissen darum, dass er ihnen in ihrer Position nichts anhaben konnte. Wie Touristen in einem Jeep, der durch die Steppe braust, während draußen die Löwen neugierig stieren. Und ich musste nebenher laufen.
Als ich an der Reihe war, sah ich nicht zu Boden, sondern an Brutus vorbei durch das Fenster. Schuldbewusst hielt ich meine abgelaufene Monatskarte vor mich, der Titulus über meinem Kreuz, auf dem mein Verbrechen für alle sichtbar niedergeschrieben war. Es wurde still und meine Gedanken begannen fiebrig um die Frage zu kreisen, ob ich zuerst etwas sagen sollte, oder ob es mich nur noch tiefer reinreiten würde, ihrer Majestät das erste Wort abzusprechen.
Als das Schweigen unerträglich wurde, fuhr die entsetzliche Wahrheit aus mir heraus wie Pazuzu der Heuschreckendämon aus Linda Blair: „Äh, ich hab’ die Karte noch nicht gewechselt, ich bin gestern Abend spät nach Hause gekommen und musste, heute Morgen, war alles ganz schnell, und da hab’ ich dann vergessen, äh, der Fahrer heute Morgen meinte, für einen Tag wäre das o.k. ...“
„Mmmmmh ...“
Als wäre ich Lachsschaum.
„Ehm, kann ich dann heute-“
„Mmmmmnnnnhhooochh ...“
Brutus hielt sich die Schulter und jetzt, da ich in sein Gesicht sah, bemerkte ich, dass es weißgelb war und der Blick des Großinquisitors dem des Gestreckten hatte weichen müssen. Ängstlich sah er mich an und sagte: „Ooooh ... Ooooh ... Au, scheiße!“
Zu sagen, dass Brutus’ Laute und sein Benehmen mich überforderten, wäre so, als würde man den zweiten Weltkrieg als hitzige Debatte mit aggressiven Untertönen bezeichnen.
„Ein Infarkt!“, schrie jemand von der letzten Bank des Busses, wo immer die Oberstufler saßen. „Er hat einen Infarkt! Die Kurzen sollen draußen irgendwem Bescheid sagen!“
Brutus starb an diesem Tag und es tat mir leid für ihn, falsche Monatskarte hin oder her. Ich muss oft lächeln bei dem Gedanken, dass wir uns im Himmel, sofern es denn einen gibt, wieder begegnen. Er trägt wie alle Engel einen glänzend weißen Schlafanzug und sitzt hinter dem Steuer eines glänzend weißen Busses, mit zu kleinen Flügeln und einer Harfe, auf der er mit seinen Wurstfingern nur entsetzliche Misslaute zu erzeugen vermag. Ich stehe davor, suche nach meiner Fahrkarte in die Ewigkeit und stelle fest, dass der verdammte Schlafanzug nicht mal Taschen hat.