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Buena Vista
Der Atlantik schien bemüht zu sein, Compays Gitarre mit der tosenden Brandung zu übertönen, scheiterte aber an dessen unverkennbarer Art, die Saiten zum Singen zu bringen. Ibrahim hatte sich einen ganzen Straßenzug lang Mühe gegeben, seinen Schritten eine gewisse Zielstrebigkeit abzunötigen. Das gelang inzwischen leidlich, reichte für den Heimweg, nicht aber für den Umweg über Compays Straße, die er um keinen Preis auslassen wollte.
Er grinste über seine Versuche, den unsicheren Gang wie einen beabsichtigten Tanz wirken zu lassen, ließ sich aber von Compays Rhythmus treiben und locken, wie jeden Samstag, jeden Freitag, jeden Abend. Noch ein kühner Sprung bis zur Häuserecke, dann würde er mit ausladender Geste nach links hin abbiegen und in die Straße blicken, deren Schönheit nur durch eine Erscheinung übertroffen wurde: Margherita!
Da war sie, wiegte sich in Compays gezupfter Aufforderung, das Leben zu nehmen, wie es war, als Auf und Ab, Vor und Zurück, „mal mehr und mal weniger Glück“, wie er es nannte, „aber eben Glück.“ Ihre Arme schienen zu versuchen, einen Schwan das Fliegen zu lehren, ein Vorhaben, das sie jeden Abend scheitern, lächeln und am Ende lauthals lachen ließ. Ibrahim tänzelte auf sie zu, grüßte winkend den Gitarrenspieler, nippte an dessen Flasche kubanischen Rums und drehte sich mit allem noch aufzubringenden Bedacht um die eigene Achse.
Mit jeder Runde seines vom Wind angefachten Drehens näherte er sich der feurigen Tänzerin, rang seinem Rücken eine tiefe Verbeugung ab und gab ein paar Zeilen der Bewunderung für sein Land, seine Stadt und seine große Liebe zum Besten. Der Dank, den er erntete, waren ihre Arme, die sich um seine legten, wie jeden Abend, seit sie einander das erste Mal berührt hatten.
Amadito begann, eindringlicher auf Eimern, Gittern und Deckeln zu trommeln, als unternähme er den ungestümen Versuch, die anwesenden Herzen zu weit mehr Schlägen und weit weniger Zurückhaltung zu bewegen. Bei Ibrahim wäre das nicht nötig gewesen, bei Margherita zeigte es die gewünschte Wirkung. Binnen Minuten schwebten ihre schlanken Beine über dem Boden, ließen sich von Ibrahims Armen im Kreis und um die ganze Welt tragen und schienen den Boden nicht zu vermissen, der sich unter ihnen drehte.
Ein paar Jungs saßen auf einem alten Ford Mercury, der auf Steinen statt Reifen stand. Sie versuchten, mit ihren klatschenden Händen Amaditos Tempo zu folgen, kamen aber ständig aus dem Takt und lachten einander aus, wann immer das geschah. Jeder von ihnen kannte Margherita, jeder kannte Ibrahim, aber keiner kannte deren Geschichte. Vielleicht hätte ihnen die zum passenden Rhythmus verholfen.
Ibrahim beugte sich vor, ein wenig, mit einer kreischenden Margherita in den Armen, die wie immer darauf vertraute, dass er sie hielt. Ihre Gesichter näherten sich einander, berührten sich beinahe, weil das so sein musste, weil das immer so war. Ihre Augen glühten und seine auch, Runde um Runde. Er setzte sie ab, deutete einen Handkuss an, verneigte sich ein weiteres Mal und lüftete seinen Hut für Compay, für Amadito und – mit einer kleinen Verbeugung – für das Publikum auf dem Mercury. Er tänzelte zur nächsten Ecke, drehte sich elegant, reckte seinen Hut dem Atlantik entgegen und verschwand um die Ecke, noch ehe Margherita sich auf ihrem Rollator abstützen konnte. Er hielt sich den Rücken und wusste doch genau, dass er morgen denselben Weg nehmen würde. Es gab keine andere Straße nach Hause, nicht seit er Margherita kannte.