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Busfahrt
Der Weg zur Bushaltestelle ist kurz. Jetzt im Winter frisch. Und neblig. Sie mag das. Die Stadt schläft noch. Die kalte Luft macht sie wach, ihre Wangen rosig. Bringt ein bisschen Leben in ihr sonst nicht so lebendiges Dasein. Und der Nebel. Sie sieht alles wie durch einen Schleier. Unwirklich. Wie ein
Zuschauer. Der durch eine verschmierte Wahrsagekugel blickt. In eine fremde Welt.
An der Bushaltestelle ist es immer ein bisschen kritisch. Manchmal steht jemand da, der sonst nicht da steht. Also jemand außer ihr, dem Mann der im Buch aussteigt und Manuel. Sie weiß seinen Namen weil er früher mal in ihrer Klasse war. Ganz früher. Grundschule. Reden tut sie nicht mit ihm.
Manchmal ist sie ein bisschen zu früh an der Bushaltestelle. Dann ist da dieses Schweigen das sie unerträglich findet. Später im Bus stört das Schweigen nicht mehr. Aber hier schon. An der Bushaltestelle. Wenn der Mann seine erste Zigarette raucht. Vielleicht auch schon die zweite.
Sie will immer so spät wie möglich kommen. Manchmal kommt sie auch ein bisschen zu knapp. Wenn sie ein bisschen zu langsam gelaufen ist. Das kann man nie genau einschätzen.
Zu spät gekommen ist sie aber noch nie.
Obwohl sie manchmal daran denkt es zu tun. Nur so. Aus Rebellion. Aber dann stellt sie sich vor, dass es vielleicht gar niemandem auffallen würde. Wenn sie nicht da wäre. Das weiß sie nicht. Aber wenn sie nicht kommen würde würde sie es auch nicht wissen. Also geht sie immer. Erwartet man ja auch von
ihr.
Im Bus sitzt sie immer ganz vorne. Auf dem ersten Vierersitz. Aber entgegen der Fahrtrichtung. So, dass sie den ganzen Bus im Blick hat. Die ganzen Leute beobachten kann. Auch wenn sie das nie zugeben würde. Und auch wenn es jeden Morgen das Selbe zu beobachten gibt.
Manchmal wird ihr ein bisschen übel. Vom Rückwärtsfahren. Und sie mag dieses Spielchen. Das was-wäre-wenn-Spielchen. Was wäre wenn ihr jetzt noch schlechter werden würde? So sehr, dass sie sich übergeben müsste? Was würden ihre Klassenkameraden sagen, wenn sie einfach nicht auftauchen würde? Sie fehlt ja sonst nie... Und was würde ihr Mutter sagen? Vielleicht würde sie denken , dass sie krank ist. Das passiert bei Mädchen in ihrem Alter ja leicht...Das was-wäre-wenn-Spielchen macht die Busfahrt spannend.
Fast jeder im Bus hat seinen Stammplatz. Manchmal fahren auch Leute mit die sonst nicht mitfahren. Aber um diese Zeit ist das eher selten. Da geht man noch nicht einkaufen. Nur ins Geschäft oder zur Schule.
Sie kennt alle Leute im Bus. Alle regelmäßigen. Obwohl sie noch nie ein Wort mit ihnen gewechselt hat. Außer mit Manuel. Aber das ist lange her. Das zählt nicht.
Sie denkt sich auch Geschichten über die Leute im Bus aus. Geschichten die sie so oft in ihren Gedanken durchgegangen ist, dass sie zur Realität wurden.
Die Frau mit dem Sekretärinnendress auf 2 Uhr. Sie arbeitet in einer Anwaltskanzlei. Verkehrt in piekfeinen Kreisen. Geht zu Meetings, hat wichtige Geschäftsessen in den nobelsten Restaurants. Sieht dabei immer tadellos aus. Nie ist der Chanelllippenstift verwischt. Bestimmt ist es Chanell. In Korallrot.
Dabei ist sie eigentlich gar nicht mehr so jung. Korallrot ist eigentlich etwas zu kräftig für sie. Zu grell.
Sie malt sich aus, dass die Frau eine leidenschaftliche Affäre mit ihrem Chef hat. Der ist ein Arschloch. Auf jeden Fall. Und verheiratet. Aber die Frau kommt einfach nicht von ihm los. Von seiner dominanten Art. Obwohl sie so sehr darunter leidet.
Aber abends fährt sie nicht mit dem gleichen Bus zurück wie die Frau. Deswegen kann sie auch nicht sagen, ob die Frau dann glücklicher oder zufriedener aussieht. Oder vielleicht auch einmal schrecklich enttäuscht. Das wäre sicher spannend zu sehen. Aber so spät wie die Frau fährt sie natürlich nicht heim. Sie ist ja keine schicke Sekretärin. Sie ist nur....was eigentlich?
Sie riecht den wiederlichen Geruch von Wurst. Leberwurst. Sie sind jetzt also kurz vor der fünften Haltestelle. Jeden Morgen packt der ältere Mann mit der Halbglatze kurz vor der fünften Haltestelle sein Brot aus. Jeden Morgen Leberwurst. Aber das gehört auch zum Busfahren. Sie überlegt sich was für
eine Leberwurst der Mann isst. Die teure, die immer in der Werbung kommt. Oder die billige von Aldi. Die muss ja nicht unbedingt schlechter sein. Manchmal ist das Teure gar nicht das Beste. Das hat sie mal im Fernsehen gesehen. Da wurden verschiedene Cremes getestet. Sie glaubt, dass der Mann eher die Billige nimmt. Nicht dass er arm aussieht. Aber auch nicht so als ob er zwangsweise eine edle Leberwurst essen müsste. Trotzdem denkt sie jedesmal wenn sie im Fernsehen die Werbung für die Leberwurst sieht, die angeblich hausgemacht ist, an den Mann. Obwohl der doch eine andere isst. Sie hat sich schon mal überlegt die Teure und die Billige zu vergleichen. Aber sie mag keine Leberwurst. Und außerdem, man kauft doch keine zwei Leberwürste.
Dann ist da noch dieser andere Typ. Gut sieht er aus. Und noch ziemlich jung ist er. So Anfang zwanzig. Wäre vielleicht doch noch ein bisschen zu alt für sie. Aber sie findet, dass er richtig ist. Er hat so sympathische Augen. Ganz dunkles braun. Eigentlich sitzt sie ja zu weit weg um das genau sehen zu
könnnen und das Licht im Bus ist meistens ziemlich trüb, aber einmal hat sie ihn sich genauer angeguckt als sie ausgestiegen ist. Leider steigt sie vor ihm aus. Deshalb weiß sie auch nicht wo er aussteigt. Dabei hätte sie das sehr interessant gefunden. In Gedanken hat sie in Joschu genannt. So hieß der Typ in dem traumhaft schönen Buch das sie einmal gelesen hat. Das leider auch traumhaft traurig ausgegangen ist.
Sie kann sich gut vorstellen, dass dieser Joschu hier auch Lieder schreibt. Gedichte. Bestimmt hat er eine fantastische Stimme. Manchmal summt er ein bisschen vor sich hin. Wenn er seinen Mp3-Player im Ohr hat. Vielleicht wird er ja irgendwann mal berühmt. Vielleicht kriegt er einen Plattenvertrag.
Sie stellt sich vor, wie er sie vor Freude in den Arm nimmt und durch die Luft wirbelt. Wie er sie seinem Studioboss vorstellt.
Manchmal hat sie das Gefühl dass dieser Joschu sie anguckt. Also nicht so zufällig. Mit Absicht. Eigentlich findet sie das ganz schön. Wenn dieses leichte Lächeln seine Lippen umspielt. Aber vielleicht hat sie sich das auch nur eingebildet. Zurücklächeln traut sie sich jedenfalls nicht. Sie ist nicht so eine die den Jungs hinterherrennt.
Einmal hat sie es sich aber vorgenommen. Aber an diesem Tag saß er schräg. So dass sie ihm nicht zulächeln konnte. Joschu ist der Einzige der nicht jeden Tag auf dem selben Platz sitzt. Am Anfang hat sie das ein bisschen erschrocken. Dann hat sie sich überlegt ob sie es auch mal tun soll. Sich woanders hinsetzen. Nicht weit weg oder so, einfach auf Platz neben ihr. Aber dann ist ihr eingefallen, dass ab der Bachstraße da immer die alte Frau mit der Wollmütze sitzt. Und der kann sie ja nicht einfach den Platz wegnehmen.
Sie freut sich jeden Tag Joschu zu sehen. Er ist sozusagen das Highlight des Tages. Alles andere ist vorhersehbar. Aber bei ihm weiß man nie. Sie würde sich gern mal mit ihm unterhalten. Vielleicht auch was mit ihm machen. Vielleicht würde er einen Song für sie komponieren. Ihre Mutter würde staunen.
Dann ist er eines Tages nicht da. Sie macht sich schon Sorgen. Vielleicht ist ihm was passiert. Gestern gab es an der Kreuzung einen schweren Verkehrsunfall. Vielleicht ist ihm wirklich etwas passiert. Vielleicht sollte sie ins Krankenhaus gehen und nach ihm fragen. Vielleicht ist es dann schon zu spät. Vielleicht würde er sie noch ein letztes Mal anlächeln. Ihr sagen, dass er immer darauf gewartet hat von ihr angesprochen zu werden. Und dann für immer die Augen schließen.
An diesem Tag ist alles anders. Etwas stimmt nicht. Selbst der ältere Mann holt sein Leberwurstbrot viel zu spät raus. Da sind sie schon fast an der sechsten Haltestelle.
Am nächsten Tag ist Joschu dann wieder da. Zuerst ist sie erleichtert. Aber es ist nicht mehr wie vorher. Etwas stimmt nicht. Zwei Haltestellen nach ihm steigt ein fremdes Mädchen ein. Er winkt sie zu sich, lacht. Nimmt sie in den Arm. Küsst sie kurz. Sie ist sehr hübsch. Sie lacht laut. Die traut sich was.
Sie würde nie laut lachen. Das ist wirklich unangenehm. In einem vollbesetzten Bus. Unangenehm. Das ist es wirklich. Morgen wird sie einen früheren Bus nehmen. Dann muss sie zwar noch eine Weile in der Kälte warten, aber das ist besser als sich von diesem schrecklich lauten Lachen verärgern zu lassen.
Und das so früh am Morgen.