Carl unterwegs...
„Mir steht das Wasser bis zum Hals! Brauche dringend einen neuen Job!“
Mit dieser Aufschrift auf einem Schild aus Pappe, das ihm um den Hals hing, traute sich Carl trotz oder wegen seiner Berufserfahrung, zwei Kindern und Frau auf die Straße.
„Helft mir! Hört mich! Blickt mich an!“
An diesem Vormittag fror er zum ersten Mal und schon glaubte er, in der kühleren Luft die Vorboten des Herbstes zu spüren. Wehten dort nicht sogar schon einige Blätter?
„Eines Tages holt mich einer von der Straße!“, murmelte Carl vor sich hin und sein Blick hellte sich kurz auf. „Seit drei Wochen laufe ich hier schon rum, Straße rauf, Straße runter, ein Hundeleben, sag ich Euch, eine Armut, die ich nie für möglich gehalten hätte!“
„Wollen Sie einen Keks?“, fragte ihn jetzt jemand, der ungemein hündisch von unten emporblickte.
„Besser als gar nichts zu essen“, murmelte Carl, obwohl doch zwei geschmierte Brote und ein Apfel in der Tasche lagen, die er unter seinem Schild verbarg. Dann biss er in den Keks und schaute zum ersten Mal so richtig freundlich in den Tag.
„Danke Kumpel!“ Der andere nickte und ging weiter.
Carl sah in einen Frisörladen, der auf seinem Weg lag. Jemand las das Schild und lachte, Carl lachte zurück. „Brauchen Sie nen Haarschnitt?“, fragte jemand aus dem Laden. Carl winkte ab.
„Ach, das bringt mir auch keinen Job.“
„Wenn Sie wüssten!“, rief das Mädchen und verschwand im Laden. Carl ging langsam weiter, er kannte das ja alles schon. Die Leute konnten für kurze Momente lieb und höflich reagieren, aber Verantwortung wollte niemand für ihn übernehmen, das war dann doch eine viel zu große oder „unverschämte“ Forderung. Er war nun wieder fast so traurig wie zuvor, spürte sein fortgeschrittenes Alter… die schlechte Rasur. Jungen Leuten nahm das niemand übel, da war es ein drei Tage Bart.
Die Kälte und die Müdigkeit in seinen Knochen waren groß und mächtig wie noch nie in seinem Leben. Den Winter würde er so nur schwer überstehen. Da wurde Carl ganz traurig und sein Gesicht wirkte kraftlos und schmal. „Noch vor dem Winter finde ich ne Arbeit“, sagte er dann im Weiterlaufen.
Nirgendwo schien etwas von der Wirtschaftsflaute spürbar. Die Läden waren voll, die Menschen beschäftigt, der Verkehr toste und hupte die Straße entlang. Einen Moment wusste Carl nicht, ob nur er aus dieser scheinbar heilen Welt herausgefallen war oder es tatsächlich einen Gegenkosmos gab. Carl wusste nicht, ob man von zwei Welten sprechen konnte.
„Huh!“, rief er, als vor ihm plötzlich ein Passant auftauchte. „Hey, aufpassen!“, brüllte ihn der Andere an. Dann knallte Carl mit einem Dritten zusammen und lief kopflos weiter. Puff, peng, boing, er rempelte mit seinem Schild noch einige Leute an, fand aber keine Ruhe in dem plötzlichen Gedrängel.
„Hier! Schaut auf mich! Ein Mensch, ein Schandfleck, ein Arbeitsloser. Ja, seht mich ruhig an!“
Aber niemand achtete auf ihn, im Gegenteil, alle schienen bloß noch rascher an ihm vorüber zu wollen. Carl hatte Lust, sich allen in den Weg zu stellen, aber sie hätten ihn doch nur vor sich hergeschoben und am Ende zermalmt. Er war verzweifelt, aber doch nicht verzweifelt genug, um hier völlig auszurasten oder den Clown zu spielen. In ihm war immer noch ein großer Rest an Menschlichkeit und Würde.
„Tut! Tut!“ Carl hatte sich angewöhnt, manchmal die Geräusche der Straße zu imitieren. Selbst wusste er auch nicht, warum, aber es rutschte ihm dann so raus, bis jemand ganz schräg guckte und ihn wieder befreite von dieser dummen Angewohnheit.
„Je länger Du auf der Straße lebst, umso komischer wirst Du mit der Zeit“, warnte Carl sich selbst und presste die Lippen fest aufeinander. Wie er sich schützen sollte, wusste er auch nicht. Manchmal kniff er sich, um seinen Körper zu spüren oder fragte nach der Uhrzeit.
„Was tragen Sie da für ein komisches Schild um den Hals?“, fragte jemand. Auch das Schild hatte er bereits vergessen. Ihm lag nichts mehr daran, man hätte es ihm abnehmen können. Protestieren wollte er dann ganz gewiss nicht.
„Zu Hause wartet meine Frau, bis ich um 7 wiederkomme.“ Dann packte er gewissenhaft das Schild, klemmte es unter den Arm und stieg in einen der Züge in die Vorstadt. Für Carl war das wie ein Beruf. Er war berufsmäßig auf der Suche nach einem Job, der ihm eines Tages angeboten würde. So sehr hatte sich seine Vorstellung darin versteift, dass er an seine einsamen Visionen zu glauben begann.
Noch war Carl nicht ganz müde. Noch bewegten sich seine Beine im Takt. Mit dem ersten Klingeln des Weckers stand er im Bett. „Ring-Ring-Ring“ Die immer gleich Hose und ein altes Sacko zog er an. „Die Leute erkennen mich bereits an meiner Kleidung. Aber das macht nichts. Jeder soll ruhig sehen, wie wenig Geld ein Arbeitsloser hat.“
So zog Carl morgens einsam ins Gefecht und abends unverrichteter Dinge wieder nach Hause. Er wusste, er galt als Verlierer. „Aber ich lebe noch. Hier, da fließt Blut in den Adern!“
Jeden Tag wurde er aber doch ein bisschen schwächer. Er wurde müde. Irgendwann war Carl dann sehr, sehr krank, fast wie tot fühlte sich das an. Schuldgefühle zehrten an ihm. Manchmal hielt ihm seine Frau ein frisches Hemd hin. Trotz seiner misslichen Lage wuchsen die Kinder munter heran. Sich selbst aber fühlte er völlig am Rande.
„Lange geht das nicht mehr“, sprach Carl, sah sein ausgezehrtes Gesicht und spürte eine unendliche Schwere. Schlimmer war es noch nie, nicht in diesem Leben.
„Ich gehe“, rief er seiner Frau im Morgengrauen zu und er wusste oder ahnte den Abschied auf immer, so kaputt empfand er sich. „Ich gehe!“, rief er noch mal, ohne seine Frau zu umarmen oder nach ihr zu blicken. Er schloss die Tür noch einmal sorgsam hinter sich. Es war kalt und seine Hände wurden schnell klamm in dem frostigen Morgen.
„Vielleicht springe ich ja schon gleich vorne vor den Zug.“ In der Ferne hörte er die ersten Züge. Sein ganzer Körper zitterte. „Ich werden keine Erklärung für das alles geben, nichts und niemandem etwas erklären“, dachte er, ohne selbst seine Lage ganz zu begreifen. Carl stützte sich auf das Geländer einer Brücke, schwer und langsam, gefühlvoll, doch er war zu schwach, zu stürzen.
„Was auch passiert, ich werde es auf mich zukommen lassen. Am Ende muss Gott über die Wahrheit entscheiden.“ Carl wusste nicht, wie ihm geschah, er war nie besonders religiös gewesen.„Gott muss entscheiden. Gott.“ Auch im Weitergehen sagte er mehrmals „Gott“ oder „Gott allein“. Still setzte er sich in den Zug, sagte manchmal noch “Gott” oder “Gott wird Euch alle eines Tages richten” und sein Gesicht wirkte dabei noch etwas schmaler und hagerer als sonst. „Ich seid Gottes Kinder, wie ich, seht, das hat er aus mir gemacht. Es ist keine Schande. Ich bin wie ihr, ich bin einer von Euch!“
Carl wusste noch immer nicht, wie ihm geschah. Im Grunde war er immer ein sehr zurückhaltender Mensch gewesen, ohne Allüren oder besondere Ansprüche. Nie hätte er jemanden auf eigene Initiative angesprochen, um ihm die Welt zu erklären. Nun schien alles zu spät. „Gottes Schwert wird diese Welt richten!“, rief er laut durch den Zug, „jeden Einzelnen von Euch wird er hart rannehmen und keine Ausrede dulden, die er nicht schon längst gehört hat, in seiner Auswahl wird er schrecklich und gnadenlos sein“. Carls Gesicht verzerrte sich zu einer bösen Grimasse. „Jeder von Euch erhält seine gerechte Strafe“, rief er, „ihr werdet winseln und auf dem Boden kriechen, aber es wird Euch alles nichts nützen. Gottes Schwert ist die Wahrheit und eines Tages wird diese Wahrheit Euch richten. So wahr ich hier stehe!“
Carl sackte in sich zusammen. „Er ist verrückt“, traute sich ein Fahrgast zu sagen, „er ist völlig verrückt. Seht nur den Schaum, den er spuckt. Da ist Blut mit drin, er stirbt vielleicht. Ruft einen Notarzt!“
„Das ist ein Anfall“, sagte jemand und blickte besorgt zu Carl herab, „ich rufe einen Arzt“. Einige Fahrgäste versuchten, Carl auf dem Boden zu stabilisieren, blutiger Schleim floss aus seinem Mund. Vielleicht war es eine Herzattacke oder ein epileptischer Anfall. Niemand konnte seinen Zustand erklären.
„Was steht auf dem Schild?“
„Er sucht eine Stelle. Er ist scheinbar ohne Arbeit.“
„Ein Arbeitsloser. Das ist nichts Ungewöhnliches.“
Manche aber nehmen es vielleicht schwerer. Unter den Umherstehenden gab sich niemand zu erkennen. Zwei oder drei ohne Arbeit waren gewiss darunter.
„Lasst ihn. Da kommt ein Arzt“, sagte jemand und im selben Moment stiegen die Fahrgäste aus.