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Chanel
Tom fluchte. Sein Wagen steckte im Stau fest.
„Verdammt. Da hat man mal ein paar Stunden Ruhe, und dann diese Scheiße!“
Wütend drückte er auf die Hupe. Dadurch lief der Verkehr zwar auch nicht flüssiger, aber immerhin konnte sich Tom so ein wenig abreagieren. Als sein blauer Ford endlich in die Einfahrt rollte, war schon eine Stunde seiner kostbaren freien Zeit vergangen. Dabei hatte er sich viel vorgenommen. Seine Eltern waren im Urlaub und er hatte versprochen, das Wohnzimmer neu zu streichen, bis sie zurück kamen. Da Janine nur vier Stunden in der Kindertagesstätte war, hatte er nicht viel Zeit zur Verfügung.
Obwohl er tapezieren hasste (er war froh, dass er seit Jahren in der gleichen Wohnung wohnte), war es doch viel entspannender, als ständig seine kleine Tochter um sich zu haben. Sie war ein süßes Mädchen, gewiss, aber irgendwie kam sie doch ganz nach ihrer Mutter und hatte ein recht aufbrausendes Temperament.
Er schloss die Tür auf und betrat den Flur des zweistöckigen Hauses. Tom blieb auf dem Absatz stehen und stutzte.
„Chanel No. 5“, dachte er. „Seltsam, Mama benutzt doch gar kein Parfüm. Sie sagt immer, dieses Chemiezeugs würde sie sich nicht auf die Haut kippen.“ Aber er kannte jemanden, der es benutzt hatte. Jetzt, wo er drüber nachdachte, hatte er sogar erst gestern eine angebrochene Flasche gesehen. Im Badezimmerschrank, als er ein Pflaster für Janine suchte. Sie hatte ständig irgendwelche Schrammen. Manchmal scherzte er, er müsse sich bald ein Pflaster-Abo zulegen.
Er schüttelte den Kopf. „Unmöglich! Ich werde schon paranoid.“ Er summte vor sich hin und hängte seinen Mantel auf den Garderobenständer, der irgendwie kahl wirkte. Kein Wunder, schließlich war es um diese Jahreszeit am Eriesee noch recht frisch, da hatten seine Eltern natürlich alle Jacken und Mäntel mitgenommen. Tom ging in die Küche, um sich einen Tee zu kochen.
Er nahm den verstaubten Wasserkocher (seine Eltern konnten mit diesem Geschenk offenbar nichts anfangen und benutzten lieber weiter ihren alten Aluminiumkessel) aus dem Küchenschrank, füllte ihn bis zur Hälfte und steckte ihn in die Steckdose. Dann nahm er die Teekanne und holte eine Packung Earl Grey aus dem Schrank. Er kramte nach den Teefiltern und füllte einen mit zwei Esslöffeln Tee. Dann hielt er inne.
Wieder dieser Parfümgeruch. Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken. Dieses Chanel rief alte Erinnerungen in ihm wach. Erinnerungen, die er aus gutem Grund tief vergraben hatte, aber offenbar nicht tief genug. Er seufzte und starrte ungeduldig auf den Wasserkocher, der jedoch keine Anstalten machte, sich zu beeilen.
Um sich auf andere Gedanken zu bringen, schaltete Tom das Radio ein. Zuerst kam nur statisches Rauschen, aber als er ein wenig am Senderregler drehte, kamen die Nachrichten von KXCI rein.
„Und nun weitere Meldungen“, sagte eine professionell gelangweilte Sprecherin. „Heute Morgen konnten drei Insassen der geschlossenen Abteilung der Nervenklinik von Pima County entkommen. Zwei der Entflohenen konnten jedoch schon kurz nach ihrer Flucht wieder gefasst werden, von der dritten Person fehlt bislang jede Spur. Der Direktor der Klinik sagte, er bedaure den Vorfall zutiefst, doch bestehe kein Grund zur Sorge. Er geht davon aus, dass die flüchtige Patientin zwar ein wenig verwirrt sei, doch keine Gefahr von ihr ausgehe. Dennoch riet er den Anwohnern von Tucson, die Augen offen ...“
Tom stellte das Radio ab und setzte sich auf den Barhocker, an dem seine Mutter immer saß, wenn sie Zwiebeln schnitt oder Salat zubereitete. Er glaubte, den Geruch des Parfüms stärker zu spüren als je zuvor. Unbewusst fuhr er sich mit der Hand über die Narbe an seinem Hinterkopf, die gut von seinem dichten Haar verdeckt wurde.
„Spinn nicht rum, Tom!“ sagte er zu der leeren Küche. „Du machst hier aus einer Mücke einen Elefanten.“ Tom starrte aus dem Fenster auf den Hof, auf dem er früher mit seinen Schwestern immer Verstecken gespielt hatte. Es war lange her. Viel länger als die Sache mit Jane, und trotzdem konnte er sich an seine Kindheit viel besser erinnern als an die fünf Jahre mit seiner Frau. Gute Dinge vergisst man nicht, schlechte versucht man, zu verdrängen. Es knackte.
Tom fuhr auf und hätte beinahe den Hocker umgeworfen. Sein Herz raste. Doch es war nur der Wasserkocher, in den langsam Leben kam.
„Kein Wunder, dass Mama das Ding nie benutzt. Das dauert ja ewig.“ Der Kessel wäre sicher schneller gewesen. Er beschloss, ins Wohnzimmer zu gehen und schon mal damit anzufangen, die Möbel von der Wand wegzurücken und in die Plastikplanen einzuwickeln, die er im Kofferraum hatte.
Er öffnete die Haustür und fummelte am Schloss der Heckklappe herum, das natürlich mal wieder klemmte. Leise verfluchte er die alte Rostlaube, die irgendwann mal ein Auto gewesen war. Aber für einen neuen Wagen hatte er kein Geld. Nicht mehr. Schließlich gelang es ihm, das widerspenstige Schloss zu öffnen und die Folien herauszuholen. Lauter als nötig knallte er die Kofferraumtür wieder zu und ging zurück ins Haus. Er legte die Folie im Flur ab und betrat das Wohnzimmer.
Er begann mit der Arbeit. Zuerst nahm er sich den Couchtisch vor, den er mitten in den Raum rückte. Zum Glück waren seine Eltern sehr ordentlich, sodass er nichts groß aufräumen musste, bevor er die Möbel umstellte. Bei ihm zu Hause sah das anders aus. Aber er kam ja zu nichts, und Unordnung im Wohnzimmer war noch seine kleinste Sorge.
Als er gerade das Sofa verschob, was ihm ziemlich schwer fiel mit seiner steifen linken Hand, fing der Wasserkocher an zu brodeln. Tom ließ das Sofa stehen, wo es war, und ging in die Küche, um den Wasserkocher abzustellen und das Wasser in den Teefilter zu kippen. Wieder hatte er das Gefühl, irgendwas stimme hier nicht. War da nicht ein Luftzug? Er drehte sich um, doch vor ihm lagen nur die leere Küche und das ebenso leere Treppenhaus.
Während er den Tee ziehen ließ, schob Tom weiter die Möbel durch das Wohnzimmer. Zuerst das Sofa, dann den Fernsehtisch, schließlich den großen Bücherschrank, nachdem er den Inhalt sorgfältig auf dem Couchtisch deponiert hatte, und zum Schluss den Sessel, in dem sein Vater seit er denken konnte immer die Zeitung las.
In genau diesen Sessel setzte er sich mit seinem Earl Grey und fragte sich, ob er langsam auch den Verstand verlor.
„Dann können die mich zu Jane sperren. Das gäbe eine Show.“ Er gab ein nervöses Lachen von sich, obwohl ihm ganz und gar nicht zum Lachen zumute war. Mit einem tiefen Seufzer stand er auf und stellte die Tasse in die Spüle. Er ließ kurz heißes Wasser über sie laufen, damit die Teereste nicht antrockneten, und ließ die Tasse in der Spüle stehen. Dann machte er sich daran, die ganzen Möbel im Wohnzimmer abzudecken und schließlich mit einem Schwamm die alte Tapete anzufeuchten, um sie besser ablösen zu können. Um halb vier hatte er sie völlig entfernt und betrachtete stolz sein Werk. Nun musste die Wand über Nacht trocknen und dann würde Tom morgen anfangen können, sie neu zu tapezieren.
Als er seinen Mantel nahm und zur Haustür gehen wollte, wehte ihm wieder der Parfümgeruch ins Gesicht, stärker als zuvor. Als er sich umdrehte, war jedoch abermals nur die leere Wohnung zu sehen. Das einzige Geräusch war das Ticken der alten Standuhr, die sich jetzt mitten im Wohnzimmer an das Sofa und den Bücherschrank lehnte. Tom seufzte, öffnete die Tür, ging hinaus und schloss sie sorgfältig hinter sich zu.
Abends, nachdem seine Tochter längst im Bett lag, schaltete Tom den Fernseher in seinem viel zu großen und viel zu leeren Schlafzimmer ein. In den Nachrichten wurde erwähnt, dass die Entflohene gefasst worden war.
„Sie war zwölf Stunden auf der Flucht und hat sich in einem Haus in einer Wohnsiedlung versteckt, doch letztendlich half ihr das nichts“, erklärte eine Nachrichtensprecherin aus dem Off, während man ein Bild vom Haupteingang der Klinik sah.
„Ich stehe hier vor dem Haus, in dem sich die Flüchtige versteckt hatte“, erklärte dieselbe Sprecherin, die nun vor einem Haus zu sehen war, das Tom nur allzu gut kannte. „Nachbarn hatten abends Licht im Haus gesehen, was ihnen verdächtig vorkam, da die Bewohner im Urlaub sind. Als die Polizei eintraf, fand sie die völlig verstörte Patientin der Nervenklinik, die reglos auf dem Treppenabsatz saß und die Wand anstarrte.“
Tom rutschte das Herz in die Hose. Er schaltete den Fernseher ab und blieb einige Minuten stumm sitzen, zu keinem klaren Gedanken fähig.
Schließlich ging er ins Badezimmer, öffnete den Spiegelschrank und nahm die halbvolle Chanel-Flasche heraus. Er drehte sie auf und kippte den Inhalt ins Waschbecken. Die leere Flasche warf er in den Mülleimer.