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Chaos-Kette

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02.06.2006
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Chaos-Kette

„Du, Papi?“, sagt das altkluge Söhnchen zu seinem Erzeuger, und guckt dabei mit seinen runden Kulleraugen über die großen Brillenränder, „Ich hab in dem Buch gelesen, dass ein Schmetterling mit seinen Flügeln einen Orkan auslösen kann!“ Der Vater beugt sich erheitert grinsend zu seinem Jüngsten hinunter und meint: „Aber das ist doch alles Unsinn, mein Kleiner! Stell’ dir nur mal vor- wie soll denn so was bitteschön gehen? Komm, du hast genug gelesen- Kinder wie du sollten lieber draußen an der Sonne spielen!“
Er nimmt dem Sprössling das schwere Buch aus den Händen und legt es auf den Sessel, neben dem er gerade steht.

Doch er nimmt gar keine Rücksicht darauf, dass das Sesselpolster der Lieblingsschlafplatz der Katze ist. Diese wird in gut einer dreiviertel Stunde von der täglichen Vogeljagd zurückkehren und ihren Stammplatz von diesem großen, hartgebundenem Etwas blockiert vorfinden, und sich infolgedessen leicht verstimmt auf die benachbarte Couch legen.
Dort wird sie für die nächsten zwei Stunden liegen bleiben, bis die Dame des Hauses das Wohnzimmer betritt und auf dem Regal neben der Couch noch einmal schnell staubwischen will, bevor sie in die Stadt zum Einkaufen geht. Beim Saubermachen wird sie versehentlich gegen die Urlaubserinnerung aus Thailand in Form einer billigen Porzellanvase stoßen, die nur einen knappen Meter neben der schlafenden Katze zu Boden geht, woraufhin der Stubentiger aufschrecken und panikartig die Flucht ergreifen wird. Blöderweise wird sich die ebenso erschrockene Hausfrau im selben Augenblick mit einem großen Schritt reflexartig um die eigene Achse drehen. Würde die Katze von ihrem angestammten Platz statt von der Couch springen, würde vielleicht nichts passieren, doch so stolpert die Frau so ungünstig über das Haustier, dass sie sich eine Sehne zerrt. Aufgrund dessen wird sie sich erst eine Zeitlang vom Schmerz erholen müssen, aber zum Glück hat sie es nicht eilig, und wird eben einfach zehn Minuten später Richtung Kaufhaus aufbrechen.

Wie es der Zufall will, wird eine alte Freundin der Frau, die sie schon drei Jahre nicht mehr gesehen hat, just in dem Moment das Kaufhaus verlassen, als es die noch leicht hinkende Hausfrau betritt. Wie zu erwarten, wird es zu einem längeren Gespräch kommen, im Zuge dessen die Freundin der Frau auch von der leichten Erkältung berichtet, die sie die Tage mit sich herumschleppt. Obwohl sie erklärt, dass die Krankheit eigentlich überhaupt nicht schlimm sei, steckt sie permanent Leute an, die ihr zu nahe kommen; darunter auch ein wildfremder Mann, der in diesem Augenblick an ihnen vorüber geht.
Die Krankheit wird bei diesem drei Tage später ihren Höhepunkt erreichen, doch aus einer gewissen Sturheit heraus hält ihn das nicht ab, trotzdem zur Arbeit zu gehen und die Keime im Bus an noch mehr Mitmenschen zu verteilen. Im selben Bus sitzt auch ein Oberfeldwebel a.D., der nach seinem Ruhestand dem Stadtrat beigetreten ist und durch jahrelangen Genuss von Hochprozentigem und dicken Zigarren eine ohnehin schon strapazierte Gesundheit hat.

Die im Bus aufgeschnappte Infektion wird den furchteinflößend gebauten Senior dermaßen mitnehmen, dass er außerstande sein wird, der nächsten Abstimmung des Stadtrates beizuwohnen, bei der über den Bau eines neuen Asylantenheims entschieden werden soll. Zwar wollte der Oberfeldwebel ursprünglich aufs heftigste dagegen protestieren, doch wird er nun weder dagegenstimmen, noch wie sonst üblich die zwei durchsetzungsschwachen Ratskollegen im Vorfeld einschüchtern und auf seine Seite zwängen können, und so wird das Projekt mit zwei Stimmen Mehrheit bewilligt werden.
Sechs Monate später rollt der erste Bagger an und der Bau beginnt.

Nach über einem Monat, die Fassade ist schon beinahe ganz hochgezogen, wird ein nigelnagelneues Cabrio mit einem adrett gekleideten Börsenmakler hinterm Steuer an der Spitze eines Staus stehen, den ein mit Schutt beladener Lastwagen verursacht, als er die Baustelle gerade verlässt. Durch eine grobe Fahrlässigkeit wird der Fahrer des Lasters aus Versehen den Kippmechanismus der Ladefläche aktivieren, und obwohl er diesen Fauxpas augenblicklich wieder behebt und den Schalter hastig zurückstellt, wird das offene Cabrio des Börsenyuppies bereits zur Hälfte mit Staub und Sand gefüllt und der hysterisch schreiende Insasse bis zu den Schultern darin begraben sein. Unter den vielen Schaulustigen wird sich auch ein bis dato wenigbeachteter Künstler befinden, der das Geschehen mit großem Interesse verfolgen und davon zu einer Idee für ein Kunstwerk inspiriert werden wird, an das er sich noch am Abend des selben Tages zu schaffen macht. Die äußerst abstrakt anmutende Plastik, der er den Titel „Untergang des Kapitals“ verleiht, wird gut zwei Jahre im Atelier des Künstlers vor sich hin verstauben, bis er sie einem befreundeten Organisator zeigt. Dieser wird derart hell begeistert sein, dass er den Künstler dazu ermuntert, das Objekt bei der Eröffnung des neuen Kulturforums auszustellen, woraufhin das Werk auf sehr positive Resonanz in der Kunstszene stoßen und der Künstler ein halbes Jahr später eine eigene Ausstellung mit großspurigen Presseankündigungen bekommen wird.

Zur Vernissage werden Gäste aus allen möglichen Schichten erscheinen; dabei sein wird auch ein recht gutaussehender Mann in den besten Jahren. Da seine Ehefrau an diesem Abend keine Zeit hat, befindet er sich ohne Begleitung, was eine blondierte, vollbusige Unternehmertochter als Chance für ein Flirtabenteuer ansieht. Nach anfänglicher Zurückhaltung von Seiten des Mannes wird sich daraus doch noch eine Affäre entwickeln, die der Mann vor seiner vierköpfigen Familie aufs strengste geheim zu halten versucht. Das geht ganze neun Monate lang gut; doch dann wird er sich auf die Frage seiner Gattin, wo er denn abends so oft hingehe, in Widersprüche verstricken und das Verhältnis wird auffliegen. Obwohl die Ehefrau auf der Stelle die Scheidung einreichen und ihn nötigen wird, auszuziehen, bleibt er doch noch einige Tage im Haus wohnen; aber dabei wird ihm selbstverständlich in jeder freien Minute die Hölle heißgemacht. Dieses Dilemma wühlt ihn dermaßen auf, dass er sich nicht mehr richtig auf seine Arbeit konzentrieren kann; zu allem Unglück ist er jedoch Fluglotse auf dem nächstgelegenen Großflughafen, und als er nur einmal für einen Moment mit den Gedanken nicht bei der Sache ist, übersieht er, dass eine Linienmaschine, eine von den ganz großen, beim Landeanflug umgeleitet wurde; sie kommt dabei einem anderen landenden Passagierjet gefährlich nahe...

Von den 759 Menschen, die in dem gigantischen Feuerball auf entsetzliche Weise ums Leben kommen, hätten die meisten später noch unzählige Nachkommen gehabt.
Darunter wären viele Generationen später auch eine Komponistin von Weltrang, ein bedeutender Staatsmann und ein Wissenschaftler gewesen. Aus dem Genlabor von Letztgenanntem würde durch eine Verkettung von unglücklichen Umständen ein extrem aggressives Virus entfleuchen, das als die verheerendste Seuche aller Zeiten in die Analen Menschheit eingegangen wäre.
Doch von alledem würde nun niemand jemals etwas erfahren.


Der Vater beobachtet den Sohnemann noch, wie er zum Spielen geht, und muss kopfschüttelnd über ihn schmunzeln.

 

Hallo Herr Bernhard,

was beanstandest du konkret? Die grundsätzliche Idee, wie sich eine kleine Abweichung im Detail (der Vater legt das Buch auf den Katzenplatz, anstatt es z.B. ins Regal zu stellen) zu einer großen Abweichung in der Zukunft (Verhinderung einer Epidemie) aufbläht, erklärt der Text doch.

Hallo jacksmouth,

auch wenn ich meine, dass die Idee nicht neu ist, habe ich deine Geschichte gerne gelesen. Was Nettes für Zwischendurch halt.

Viele Grüße,
Seaman

 

Hallo!
Bernhard: Meinst du literarisch schwach oder nur was die Chaostheorie angeht? Wenn du letzteres meinst, muss ich sagen, dass es mir gar nicht so auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse ankommt, sondern nur auf ne unterhaltsame Geschichte, darum sollte man das nicht so genau nehmen.

@ MisterSeaman:
Danke!

Greetz,
jacksmouth

 

Von Logik keine Spur, oder von einer Kette keine Spur
Wieso? Bloß weil Füllwörter dazwischen sind, wird es doch nicht aufeinmal unlogisch? :confused:
Die Füllwörter sind außerdem mit voller Absicht da drin, gerade weil ich eine derart kühle Sachbeschreibung wie in deinem Beispiel vermeiden wollte; das fände ich nämlich weder spannend noch lustig. Dass meine Umsetzung dann nicht alle Leser anspricht, ist vielleicht Geschmackssache; am besten, ich warte noch ein paar andere Reaktionen ab...

MfG,
jacksmouth

P.S.: Wow, du hast wirklich alle meine Füllwörter zitiert! DAS nenne ich ernsthaft an 'ne Sache rangehen... *g*

 

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