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Chaos
Als er den Kopf hebt, um aus dem Fenster zu schauen, dreht sich alles. Sein Nacken schmerzt und ist verspannt, er hatte den ganzen Tag vor dem Computer gesessen und nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war. Die Gedanken, die durch seinen Kopf gerast sind, waren nicht seine eigenen, jedenfalls hat er sie nicht verstanden und sie haben ihn nur geängstigt und verwirrt. Er hat versucht, sie aufzuschreiben, aber auch dadurch ließen sie sich nicht ordnen. Im Nachhinein kann er nicht sagen, woran er gedacht hat.
Vielleicht würde frische Luft ihm gut tun, aber es ist kalt. Der Gedanke daran, die Wohnung zu verlassen, ist wenig verlockend. Auch wenn sie klein ist und eng und dringend wieder aufgeräumt werden müsste. Wer wäre denn draußen, um auf ihn zu warten? Nur Fremde, die hastig durch die vereisten Straßen laufen, mit kleinen Schritten und steifen Beinen, um nicht zu fallen. Die keine Worte für ihn haben, an ihm vorbeieilen, als wäre er nicht da.
Wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben. Er müsste irgendetwas ändern. Sein Leben, zum Beispiel. Oder einfach nur mal Staub zu saugen. Aber er hat keine Kraft, ist plötzlich schon überfordert davon, auf seinem Stuhl zu sitzen und aus dem Fenster zu starren. Er fühlt sich so leer.
Vielleicht ist diese Kraft, die er braucht, irgendwo in ihm, eingeschlossen. Wer sagt, dass er sie nicht hat? Andere Menschen haben sie doch auch. Er meint, sich zu erinnern, dass er früher stärker war und nicht so müde und ängstlich. Aber vielleicht war das auch jemand anders. Oder es war niemand, vielleicht ist er niemand, denn niemand würde es bemerken, wenn er nicht mehr da wäre. Die Kraft ist sicher irgendwo versteckt. Vielleicht vom Ich, vom Es und vom Über-Ich. Wer ist er? Was definiert ihn? Lieber nicht darüber nachdenken.
Er schüttelt den Kopf. An dieser Frage hatten sich größere Geister als er versucht. Sie hatten nichts gefunden.
Woraus resultiert diese Verwirrung und dieses Chaos? Das ist so eine einfache Frage. Warum kann die Antwort nicht ebenso einfach sein? Warum gibt es keine eindeutige Diagnose, kein Medikament dagegen, nichts, was man mit Geld kaufen kann? Warum gibt es niemanden, der eine einfache Antwort auf die Frage hat, auf diese und auf all die anderen Fragen vom riesigen Fragenstapel, der so durcheinander ist wie sein Schreibtisch. Aber die Fragen sind in Wirklichkeit kein Stapel. Sie sind wie ewig ruhelose Geister, dazu verdammt, durch sein Gehirn zu spuken und niemals Frieden zu finden, weil sie nicht beantwortet werden. Sie schreien sich gegenseitig an und treiben ihn in den Wahnsinn.
Vielleicht ist er längst verrückt. Schreiende Gedanken? Ist das noch normal? Eigentlich schon. Aber angeblich ist doch die Frage, ob man verrückt ist, nur eine, die man sich stellt, wenn man noch geistig gesund ist, und das Bekenntnis der Normalität der Beweis für die Verrücktheit. Er schüttelt den Kopf und legt die Frage zu den anderen auf den Stapel, wo sie herunterrutscht und unter dem Schreibtisch verschwindet - aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn.
Am Himmel über dem Fenster: Eine Sternschnuppe. Kein Wunsch fällt ihm ein. Er hat Kopfschmerzen.