Charon
Es ist eine dieser Situationen. Ich sitze in meinem Sessel und rauche eine Zigarette, die dritte in Folge um genau zu sein. Während ich den giftigen Rauch mal um mal in mich einsauge, schießen mir unterschiedliche Gedanken durch den Kopf. Endlichkeit – dieser Begriff zwängt sich unentwegt durch meinen Geist und penetriert die Mauer des gefühlten Lebens. Es ist eine dieser Situationen – eine der ganz besonderen in denen man nachdenkt. Im Kopf schwindet meine Umgebung. Ich sitze nicht mehr in meinem Wohnzimmer, sondern in einem Zug. Das Jetzt wird zum Damals und ich verliere mich in Erinnerungen die keine sind. Früher gab es in Zügen Raucherabteile, Orte in denen der kalte Rauch ekelig durch die Luft schwebte. Nur die eigene Zigarette vermochte ein wenig Wärme in den kalten und abstoßenden Nebel zu bringen. Die eklatanten Schwaden aus Rauch und Gift – in meinen Gedanken verdichteten sie sich zu grauen und undurchdringlichen Wänden. Ich war mir sicher allein zu sein, allein und gottverlassen. Aber jetzt, wo ich darüber nachdenke, bin ich mir dessen nicht mehr sicher. Woher soll so viel Rauch ohne weitere, angesteckte Todesstengel kommen? Soviel Qualm und Ekel benötigten eine Symphonie von rauchenden Zigaretten, ein Jahrhundert von angestautem Ekel. Jeglicher Versuch durch den Rauch zu spähen blieb erfolglos. Zu dicht, zu massiv, einfach undurchdringlich. Der Rauch umnebelte alles und jeden und mehr – er fraß die Geräusche um mich herum. Wenn jemand im Abteil gesprochen hätte so wäre dies von mir ungehört geblieben. Kein Flüstern, kein Schreien, kein Laut drang durch. Der Nebel beherrschte und regierte den gesamten Raum.
Es gab nur wenige Geräusche in diesem Szenario: Die Wagons die von unentwegt auf ihren stählenden Rädern den harten, unnachgiebigen und unausweichlichen Gleisen folgen mussten und dabei einen ratternden Ton erzeugten, der sich durch den Schädel direkt in mein Hirn bohrte. Der Pfad ist gestellt, es geht vorwärts – unaufhaltsam. Mit der brutalen Kraft einer geschwungenen Spitzhacke drang das Geräusch tiefer und tiefer in meinen Kopf ein. Immer wieder knatterte und rappelte es. Nur der Blick nach draußen, das Fenster zur Welt, zum Licht und zum Sonnenschein, schien sich all diesen Einflüssen zu widersetzen. Ein Blick hinaus in den Rest der Welt offenbarte lediglich Landschaften an mir vorüberzogen. Ungreifbare Orte und Momente. Stumm entgingen sie mir, Stück für Stück ohne sie wirklich zu begreifen oder zu kennen. Sie waren unfassbar, fast wie die Zeit selbst. Mal schneller, mal langsamer. Manchmal gab es einen Halt der mir für einen kurzen Augenblick die Möglichkeit gab Dinge zu erfassen. Und dennoch blieb dieser kurz; nur ein winziger Bruchteil der eigentlichen Fahrt. Meistens ging es voran – schnell, unbeugsam, unausweichlich - und was an mir vorüberzog war und bleibt unfassbar, unantastbar und unbegreiflich, ein unverständlicher Brei der Vielfältigkeit. Die Fahrt war lang, elendig lang und doch blieb ihr Ende absehbar. Ich würde mein Ziel erreichen, soviel stand fest. Die Natur des Ziels blieb mir jedoch verborgen.
Es verlangte mich nach einer weiteren Zigarette. Ich zündete sie an, zog an ihr und atmete den Rauch tief ein. Irgendwie hatte ich mich auf sie gefreut – ich brauchte sie doch! Ich bin meiner Lust vollends nachgegangen und doch schmeckte der glühende Todesstengel elendig und dreckig. Ich wollte doch mit dem Rauchen aufhören. Kein Rauch mehr, Gesundheit, bessere Lebensperspektiven. Aber in diesem Abteil rauchte jeder. Wer aber war jeder? Ich könnte niemanden sehen und niemanden hören. Ich war mir doch so sicher allein zu sein. Vielleicht waren sie ja alle stillschweigend? Eingehüllt und verborgen – unsichtbar vor meinem Auge, verschlungen von ihren eigenen Gedanken? Ich war einfach nicht willensstark genug. Ich hatte es versucht. Ich hatte versucht die Auswirkung des Giftes zu begreifen – dass ich muss weil das Gift es will und nicht ich selbst. Abenteuerlust schoss mir durch den Kopf, der verlockende Aufbruch in eine neue Zeit. Ich hätte am nächsten Halt einfach aussteigen können. Ab nach draußen! Auf ins Unbekannte! Zeit für ein Abenteuer und einen neuen Lebensabschnitt. Der Mensch kann nicht genug Rauchen um die Welt außerhalb dieses Abteils zu vernebeln. Schmecken, Riechen – das soll besser gehen ohne Rauch und trotzdem stellt sich mir noch immer die Frage ob ich es bewältigen könnte? Vielleicht wäre es auch einfach zu viel? Ungenutzte Chancen zogen Mal um Mal an mir vorbei. Ich stellte mir die Frage wie viele der Chancen ich überhaupt bemerkt hatte und welche einfach vom Rauch verschlungen wurden. Und dennoch, ich stieg nicht aus – nicht vor der Endstation, vor dem großen Ziel. Die stahlharten Gleise führten mich ihm gradewegs entgegen. Es gab und gibt keinen Ausweg, kein Abweichen. Das Szenario bleibt.
Irgendwann ist das Ziel erreicht. Ich stehe auf. Der Schaffner fragt nach meiner Fahrkarte. Ich stecke Daumen und Zeigefinger in meinen Mund, unter die Zunge und ziehe eine Münze hervor die ich dem Schaffner in die Hand lege.