Was ist neu

Chrissy (14): Zwischen Kochlöffel und Katzengeburt

Vorheriger Teil
Vorheriger Teil

CoK

Mitglied
Beitritt
24.08.2020
Beiträge
516
Zuletzt bearbeitet:

Chrissy (14): Zwischen Kochlöffel und Katzengeburt

Tante Traudl liebte ihre Groschenromane. Für achtzig Pfennige holte sie sich jede Woche das neueste Heft aus dem Kramerladen. Da es in unserem Dorf keine Bücherei gab und ich niemanden kannte, der außer der Bibel noch etwas anderes las, wurde es zu meinem Hobby, Tante Traudls Sammlung zu verschlingen.
Ihre Haustür war nie abgeschlossen, und wann immer ich wollte, durfte ich kommen und lesen. Und das war ziemlich oft – denn auch ich mochte die Romane, bei denen es immer ein Happy End gab.
Wenn ich Zeit hatte, schlich ich mich durch den meist nach Kaffee duftenden Hausgang auf ihren Dachboden. Ich wollte nicht, dass Tante Traudl mich hörte und wusste, wie oft ich da war. Zwischen Spinnweben und altem, staubbedecktem Gerümpel stand neben einem grauen Sofa, dessen Polster modrig stanken, ein Karton voller Romanheftchen.
Kurz darauf tauchte ich ein in das Leben armer Mägde, die um die Liebe reicher Bauernsöhne kämpften, immer wieder gedemütigt und verletzt wurden und doch, nach vielen Missverständnissen und Tränen, in den Armen des schönen Erben glücklich wurden.
Nach sechzig Seiten kehrte ich zurück in mein eigenes Leben, eines, in dem ich nie wusste, ob Mama heute die liebevolle Magd war oder, wie so oft in letzter Zeit, die schreiende Bäuerin, die zuschlug, wenn man nicht gehorchte.

Schon auf der Haustreppe hörte ich sie brüllen:
„Ich hab’s dir schon tausendmal verboten!“
Ich rannte die Treppe hinauf. Mama stand mit hochrotem Gesicht vor Lotte, die sich gegen die Küchenwand drückte und die Arme schützend über den Kopf hielt.
Der Kochlöffel sauste nieder.
„Mama, hör auf!“
Der Schlag traf Lottes Finger.
Als Mama erneut ausholte, stellte ich mich schützend vor meine Schwester. Doch Mama sah mich nicht oder wollte mich nicht sehen. Der Kochlöffel sauste erneut herab und traf meinen Ellenbogen. Ein stechender Schmerz schoss mir durch den Arm. Ich schrie.
Mama erstarrte. Der Kochlöffel fiel. Dann war es still.
„Du hast mich getroffen“, weinte ich.
Mama packte meinen Arm, wollte ihn bewegen, ich stöhnte.
„Lieber Gott und heilige Maria! Du wirst dir doch nicht den Arm gebrochen haben!“ Dann begann sie zu weinen.
In meiner Brust zog sich alles zusammen. Mein Ellenbogen pochte, und doch tat mir Mama entsetzlich leid.
Lotte rannte aus der Küche.
„Du Miststück!“, rief Mama ihr nach. „Wegen dir ist das alles! Wie oft hab ich dir gesagt, du sollst nicht in den Anker gehen!“
Der Anker war die verrufenste Wirtschaft im Ort. Dort, so hieß es, tanzten nackte Frauen auf den Tischen. Für Mama war das Sünde. Aber Lottes beste Freundin war die Tochter der Wirtin.
Mama sank auf den Küchenstuhl und vergrub das Gesicht in den Händen. „Ist das ein Kreuz mit euch!“
Ich trat näher. „Mein Ellenbogen tut fast gar nicht mehr weh“, versuchte ich sie zu trösten.
„Gott sei Dank!“ Sie stand auf und bückte sich nach dem Kochlöffel, und warf ihn in den Spültisch. Dabei verzog sie das Gesicht, so, wie Tante Traudl, wenn sie eine der toten Mäuse, die Minka ihr gebracht hatte, in den Mülleimer warf.
Ich ging zu Lotte ins Kinderzimmer. „Ist es schlimm?“, fragte ich und deutete auf ihre roten Hände.
Lotte hob das Kinn. „Nein!“
„Du weißt genau, wie wütend sie wird, wenn du in den Anker gehst.“
„Wohin sollen wir denn sonst? Mama mag’s ja nicht, wenn wir Freundinnen nach Hause bringen. Außerdem muss Lisa manchmal beim Bedienen helfen, da helf ich halt mit.“
Sie biss die Zähne zusammen und griff mit einem leisen Zischen beim Luftholen in ihre Hosentasche. Stolz streckte sie mir die Hand entgegen, auf der siebzig Pfennige lagen. „Mein Trinkgeld!“
„Versteck’s lieber!“, sagte ich. „Sonst wird Mama wieder wütend.“
„Mir doch egal. Ich geh mir jetzt ein Eis kaufen.“
Ich sah ihr nach und dachte daran, wie mutig es von ihr war, trotz der Schläge jedes Mal wieder zu ihrer Freundin zu gehen.
Mama kam ins Kinderzimmer. „Ist sie schon wieder in die Wirtschaft gerannt?“
„Nein“, sagte ich nur.
Mama tippte auf meinen Arm. „Tut’s noch weh?“
„Ein bisschen“, log ich. „Du hättest auch mein Auge treffen können. Oder Lottes Finger brechen.“
Mama schwieg, das tat sie meistens, seit Papa tot war.
Mein Arm pochte noch lange. Irgendwann hörte der Schmerz auf und kam erst Jahre später zurück.

Am nächsten Nachmittag stieg ich wieder auf den Dachboden. Ich begleitete gerade Doktor Stefan Frank und Schwester Stefanie bei ihrem ersten Rendezvous, als ich ein leises Miauen hörte.
„Minka?“, flüsterte ich. Vielleicht hatte sie sich hier oben versteckt. Ich wollte schon weiterlesen, als wieder ein Miauen ertönte, eines, das mir seltsam vorkam. Ich legte das Heft beiseite und folgte neugierig dem Geräusch. Hinter einem Stapel alter Dachplatten lag ein aufgeklappter Koffer. Darin: Fetzen mottenzerfressener Kleidung und Minka.
Sie lag auf der Seite, die Augen halb geschlossen, und biss in etwas Blutiges.
„Igitt, was machst du denn?“, murmelte ich und beugte mich näher.
Da bewegte sich das Blutige, ein kaum handgroßes Etwas, das fiepte.
Minka schnurrte. Ganz vorsichtig biss sie die dünne Hülle auf und leckte das kleine Wesen ab, bis es grau-weiß und trocken vor ihr lag.
Dann zuckte ihr Bauch. Sie spannte sich, miaute wieder, und etwas schob sich langsam aus ihr heraus. Ich hielt die Luft an.
Wieder eine Hülle, wieder Blut. Ich wollte wegsehen, konnte aber nicht.
Als sie die zweite Hülle fraß, erkannte ich darin ein getigertes Kätzchen. Noch eines folgte, dann noch eins.
Vier winzige Babys mit geschlossenen Augen, wackelig und zitternd, krochen an Minkas Bauch und suchten ihre Zitzen.
Erst nachdem die Katzenmama auch die Nachgeburt aufgegessen hatte, begann sie sich selbst zu putzen, hob eine Pfote nach der anderen und leckte sie ab. Sie wirkte kein bisschen aufgeregt. Ich dagegen schon. Es war schließlich meine erste Geburt.

Den Roman hatte ich vergessen. Auf Zehenspitzen schlich ich davon. Ich wollte Tante Traudl alles erzählen, von der Geburt, den kleinen Kätzchen … Doch sie war nicht da. Also lief ich so schnell ich konnte nach Hause, um Mama und meine Schwestern davon zu berichten.
Es war kein Streit zu hören, als ich die Haustür aufschloss.
Mama saß am Küchentisch und rauchte.
Ich erzählte ihr begeistert von der Geburt und wie Minka ihre Babys abgeschleckt hatte.
„Darf ich eins haben? Nur eins, bitte, sie sind so süß!“
„Nein“, sagte Mama leise.
„Aber …“
Aus dem Kinderzimmer war ein Schluchzen zu hören.
„Wo ist Lotte?“, fragte ich sofort. Mein erster Gedanke war der Kochlöffel.
„Die liegt in ihrem Bett und heult!“ Mamas Lächeln irritierte mich.

Ich öffnete die Tür. „Warst du wieder im Anker?“, fragte ich.
„Ja“, gab Lotte zu, setzte sich auf, zog hörbar den Rotz nach oben und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.
„Hat Mama dich wieder …?“
„Nein!“
Ich fühlte mich, als würde ich Verstecken spielen und nicht wissen, wen ich zuerst suchen sollte. „Warum heulst du dann?“
„Lisa und ihre Mama ziehen zu ihrer Oma.“
„Und die Wirtschaft?“
„Die ist zu, weil die Polizei da war und ein paar Männer mitgenommen hat, die sich geschlagen haben. Lisas Papa liegt jetzt im Krankenhaus.“
„Warst du da etwa dabei?“, fragte ich erschrocken. In Gedanken sah ich meine elfjährige Schwester zwischen den blutigen Männern.
„Nein, das war gestern Abend schon!“
„Komm“, sagte ich und zog Lotte aus dem Bett. „Geh mit zu Tante Traudl, ihre Katze hat Junge bekommen!“

Ein Vierteljahr später bekam der Anker einen neuen Besitzer.

 

Und weiter geht’s in der Selberlebensbeschreibung -

liebe Chrissy, pardon, @CoK,

- und es tun sich Parallelen zu Kindheit und Jugend im Pott in den 50er Jahren auf, wo Frau Mutter weniger mit einem Kochlöffel (schon der erste Versuch mit dem an sich handlichen Gerät scheiterte aufgrund seiner Gebrechlichkeit), als mit dem Teppichklopfer die Rücken der Junkern van het windje züchtigte, selbst als sie das Elternpaar um Haupteslänge überragten und immer noch als Ullifurze galten. Die Liebe zur Literatur wurde aber durch Comics befeuert (von „Akim“ über „Cisco“ bis „Tarzan“ & „Zorro“, denen sich bei mir spätestens in der Pubertät Shakespeares„Hamlet“ & Co. comichaft zugesellten).

Tante Traudl liebte ihre Groschenromane.
Ja, immerhin ein Versuch mit „Literatur“ umzugehen …

Aber nun zum ersten, an sich entbehrlichen Komma

Doch Mama sah mich nicht, oder wollte mich nicht sehen.
Weg mit ihm!
ebenso hier
„Mein Ellenbogen tut fast gar nicht mehr weh“, versuchte ich, sie zu trösten.
Das Komma zerschlägt das komplexe Prädikate „x zu trösten versuchen“

„Gott sei Dank.“
Da hör ich halbtaube Nuss das „!“!

Wie auch hier

„Mein Trinkgeld!“
„Versteck’s lieber“, sagte ich. „Sonst wird …
der Rat(„schlag“)

Am nächsten Nachmittag stieg ich wieder auf den Dachboden hinauf.
Ist ein „hinauf“ nicht eher entbehrlich, wenn man schon „auf den Dachboden steigt“

Erst nachdem die Katzenmama auch die Nachgeburt aufgegessen hatte, begann sie, sich selbst zu putzen, hob eine Pfote nach der anderen und leckte sie ab.
Komma weg, es zerschlägt das Prädikat sich selbst zu putzen beginnen

Sie wirkte kein bisschen aufgeregt. Ich dagegen schon. Es war schließlich meine erste Geburt.
Bezweifel ich!,
Denn: Warstu nicht bei der eigenen dabei?

Also lief ich, so schnell ich konnte, nach Hause, um Mama und meine Schwestern davon zu berichten.
Warum die Kommas?
Weg mit ihnen!

Gern gelesen vom

Friedel

 

Lieber Friedel,

wie schön, dass du dich meiner Geschichte angenommen und dir Zeit für einen Kommentar und eine Korrektur genommen hast.

schon der erste Versuch mit dem an sich handlichen Gerät scheiterte aufgrund seiner Gebrechlichkeit),
Ich weiß nicht mehr, wie viele Kochlöffel meine Mutter an meiner kleinen Schwester zerschlagen hat – es waren einige.

Die Liebe zur Literatur wurde aber durch Comics befeuert (von „Akim“ über „Cisco“ bis „Tarzan“ & „Zorro“, denen sich bei mir spätestens in der Pubertät Shakespeares„Hamlet“ & Co. comichaft zugesellten).
Wenn Tante Traudls Karton damit gefüllt gewesen wäre, hätte ich das auch liebend gern gelesen.

Weg mit ihm!
ebenso hier
Ich ziehe die Kommas an wie die Motten das Licht.
Da hör ich halbtaube Nuss das „!“! Wie auch hier
Weißt du, wie sehr ich mir wünschen würde, Dde Satzzeichen würden mit mir sprechen!
Bezweifel ich!,
Denn: Warstu nicht bei der eigenen dabei?
Natürlich,
daran habe ich auch gedacht – aber damals nicht.

Warum die Kommas?
Weg mit ihnen!
Ich dachte, es wäre ein eingeschobener Nebensatz.
Gern gelesen vom
Herzlichen Dank

Liebe Grüße
CoK

 

Hallo @CoK

bin gespannt, was Chrissy nun erlebt ...


Wenn ich Zeit hatte, schlich ich mich durch den meist nach Kaffee duftenden Hausgang auf ihren Dachboden.
Ein interessanter Gegensatz, dieses Schleichen durch eine eigentlich angenehme Umgebung.
"Ich wollte nicht, dass Tante Traudl mich hörte und wusste, wie oft ich da war."
Warum? Sie hatte doch ein offenes Haus.

Nach sechzig Seiten kehrte ich zurück in mein eigenes Leben, eines, in dem ich nie wusste, ob Mama heute die liebevolle Magd war oder, wie so oft in letzter Zeit, die schreiende Bäuerin, die zuschlug, wenn man nicht gehorchte.
Gelungene Darstellung dieses Vertieft-Seins in die Welt des Buches, dieses Kontrasts zur Realität.

Den Roman hatte ich vergessen.
Hier wieder dieses Eintauchen in die Realität, das Erleben des neuen Lebens, das Bedürfnis, diese Erfahrung zu teilen.

Eine angenehme Geschichte über Gewinn und Verlust, Fürsorge und Sorge. Flüssig und ohne Wortballast erzählt.
Das Autobiografische (welches ich unterstelle) kommt hier an seine inhaltlichen Grenzen: Irgendwann überwiegt die Alltäglichkeit über der Möglichkeit interessant zu sein.
Ist dieser Punkt hier erreicht? Für mich (noch) nicht, aber er rückt näher ...

Viel Spass beim Schreiben wünscht dir

Woltochinon

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Woltochinon,

vielen lieben Dank, dass du auch diese Chrissy-Geschichte gelesen hast.

Ein interessanter Gegensatz, dieses Schleichen durch eine eigentlich angenehme Umgebung.
"Ich wollte nicht, dass Tante Traudl mich hörte und wusste, wie oft ich da war."
Warum? Sie hatte doch ein offenes Haus.
Vielleicht hätte ich das in meiner Geschichte erwähnen sollen: Wenn man die Älteste von vier Schwestern ist und die Mutter eine Witwe, dann wird erwartet, dass man zu Hause hilft – und nicht ständig auf dem Dachboden sitzt und Romane liest.
Irgendwann überwiegt die Alltäglichkeit über der Möglichkeit interessant zu sein.
Ist dieser Punkt hier erreicht? Für mich (noch) nicht, aber er rückt näher ...
Mag sein. Aber ist es nicht auch eine Kunst beim Schreiben, aus dem Alltäglichen etwas Besonderes zu machen?
Mein Leben war allerdings nie wirklich alltäglich – voller Überraschungen und Erfahrungen, auf die ich zum Teil gern verzichtet hätte.
Viel Spass beim Schreiben wünscht dir
Lieben Dank.

LG CoK

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom