Was ist neu

Chronik eines Fotoalbums

Mitglied
Beitritt
20.08.2006
Beiträge
7

Chronik eines Fotoalbums

Ich stand am Rande der Autobahn und überlegte. Es war mitten in der Nacht. Ab und zu schoss ein LKW vorbei. Anscheinend hing ich mehr an meinem Leben, als mir lieb war. Ich wollte nicht überfahren werden.
Seltsam, wenn man nichts an seinem Leben findet und es dennoch nicht hergeben will.

Früher hatte ich eine Menge Dinge probiert, um die Welt aus ihrem Trott zu werfen. Einmal habe ich sogar mit einem Gotcha-Gewehr auf einen hohen Angestellten geschossen.
Ich hockte damals auf dem obersten Deck eines Parkhauses, in dem nur das Erdgeschoss und die Hälfte der ersten Etage gefüllt waren. Meine Befürchtungen erwischt zu werden hielten sich also in Grenzen. Zu der Zeit bin ich siebzehn gewesen glaube ich. Alles was mir im Kopf herumgegangen ist, hat irgendetwas mit Revolte zu tun gehabt. Sinnloser Bockmist, aber ich habe mir nicht anders zu helfen gewusst.
Ich kniete also da und lud das Gewehr mit einer roten Farbpatrone. Es war eines von diesen Dingern, bei denen man jeden Schuss einzeln nachladen muss, ich hatte also nur einen Versuch. Der nächste Schlipsträger, der den Glaspalast auf der anderen Seite des großen Platzes verlassen würde, sollte dran glauben müssen.
Der Schuss würde nicht einfach werden, das wusste ich wohl. Es war zu weit, als dass ich einfach hätte zielen und treffen können. Ich musste die Flugbahn der Kugel schätzen und dann ein wenig höher zielen. Das Gewehr und die Schwerkraft würden den Rest erledigen.
Die Menschen, die mir bis jetzt vors Visier gelaufen waren, hatte ich als uninteressante Ziele abgetan. Ein alter Mann mit karierter Mütze und einem Qualmenden Rohr im Mund. Ihn würde es wohl früh genug erwischen.
Eine Frau Anfang vierzig, deren Frustration ich bis hier oben riechen konnte. Sie schob einen Kinderwagen. Ich wollte niemanden ernstlich verletzen. Das Baby kam also nicht in Frage, obwohl es einen grandiosen Start in ein Leben voller Scheiße gehabt hätte.
Einen Moment lang wünschte ich mir, ich hätte damals auf den ahnungslosen Säugling geschossen. Das wäre doch mal ein Statement gewesen.
Ich konnte auch noch einen Polizisten erkennen, der seine Runden drehte. Schon zweimal hatte ich das Gefühl gehabt, dass er mich entdeckt haben musste, aber es war einfach zu weit. Der Kontrast der roten Farbe auf seiner grünen Uniform wäre herrlich gewesen. Aber es war klar, dass er sich von ganz alleine in das Geschehen involvieren würde. Das wollte ich nicht verderben.
Als ich die polierten Schuhe unter dem Baldachin hervorwatscheln sah, hatte ich mein Ziel. Ein Anzug, wie ich ihn mir gewünscht hatte. Er bewegte sich nicht besonders schnell und das Licht war gut. Natürlich zielte ich auf seine Brust. Rechte Seite von meinem Standpunkt. Alle sollten einen mächtigen Schreck bekommen.
Ich legte an, atmete ein, hielt die Luft, und hob das Gewehr nur ein winziges bisschen. Dann drückte ich ab.
Im nächsten Moment war nichts anders, außer dem Mann mit dem roten Fleck auf der linken Schulter. Er war nicht einmal hingefallen, aber ich bildete mir ein ihn schreien zu hören. Eine ältere Dame mit ihrem Dackel wich von ihm zurück, als wolle er ihr das Frühstücksei klauen. Zu Hause würde sie wahrscheinlich genug große und kleine Katastrophen in ihrer Illustrierten finden. So ein Sterbender kann einem wirklich den Appetit verderben, dachte ich damals schmunzelnd.
Der Bulle hatte den Schrei scheinbar auch gehört und stürzte in seine Richtung. Vor Geilheit verzogene Fratze und die rechte Hand an der Pistole. Gott ich wünschte mir damals ich hätte eine Kamera gehabt. Es wäre ein perfektes Bild gewesen.

Seltsamerweise hatte die Welt in meiner Aktion nicht den geringsten Anlass gesehen sich zu ändern. Na klar, ein Zeitungsartikel im Regionalteil, alle pissen sich solange an, bis die nächste Telefonrechnung kommt. Aber in diesen Tagen ist mir bewusst geworden, dass ich nichts tun konnte, was Bestand hatte.
Jede Revolution, egal was sie verändern wollte, würde möglicherweise eine Hülle beeinflussen, nicht aber die Mechanik dieser Welt durcheinander bringen. Dazu war sie selbst viel zu sehr Teil ihrer Axiome.
Und wenn man doch auf irgendeine Art etwas wirklich Neues schaffen konnte? Was dann? Strawberryfields forever und zwei Finger breit Bacardi, oder was? Das war doch die ganze Mühe nicht wert.

Darum war ich in dieser Nacht auf der Autobahn. Um Fotos zu machen. Fotos von der einzigen Wahrheit, die zu akzeptieren mein Antrieb gewesen ist.

Ich habe ein Bild von einem Kartenhaus, das ich in einem kleinen Glaskasten auf dem Dach eines Hochhauses gebaut habe. In einem dieser komischen Behältnisse, die in Chemielaboren zum präparieren gefährlicher Substanzen benutzt werden. Mit zwei Löchern und fest genieteten Gummihandschuhen. Ich habe beinahe einen ganzen verdammten Tag damit zugebracht in diesen Handkondomen steckend ein Kartenhaus zu bauen. Als es endlich fertig war, nahm ich mir die Zeit es eine halbe Minute zu betrachten. Dann stellte ich meine Kamera samt Stativ auf, den Selbstauslöser auf zehn Sekunden. Sie würde nur ein Bild machen und das musste gut werden, wenn ich nicht noch einen Tag in diesen stinkenden Handschuhen verbringen wollte.
Laut zählte ich den Countdown mit.
Auf „eins“ riss ich den Glaskasten empor, ein ausgedientes Aquarium, und der Zufall meinte es gut mit mir. Eine Windbö zerbließ den wackeligen Turm in seine sechsundzwanzig Einzelteile. Eine halbe Sekunde später prägte sich der Abdruck von tanzenden Bauern und Königen vor dem Hintergrund meiner versifften Stadt auf den Film. Es war das eindrucksvollste Foto, das ich besaß. Bis zu dieser Nacht auf der Autobahn.

Wie immer trug ich meine Reisetasche mit Kamera und Zubehör über der Schulter. Auch fünf Dosen Bier waren darin. In der linken hatte ich eine kleine Papiertüte, die meine sämtlichen Fotografien enthielt. Bilder von Kreidezeichnungen in Waschanlagen, von Exfreundinnen, eine Gesichtshälfte schon hinter der Tür verschwunden. Bilder von Holzfeuern und von drei Eiswürfeln in meiner Hand.
Durch eine Metalltür in der Lärmschutzwand, wahrscheinlich für Wartungspersonal angelegt, war ich auf den Seitenstreifen gelangt.
Heute war die Nacht, in der meine Arbeit endlich ihren Höhepunkt erreichen würde. Das letzte Foto.
Ich ließ mir Zeit meine Blechspinne, das Stativ mit aufgepflanzter Kamera, aufzubauen. Um diese Uhrzeit und bei dieser Beleuchtung hätte ich mich nicht gewundert, wenn sie sich einfach ohne zu fragen umgedreht und aus dem Staub gemacht hätte. Aber sie blieb.
So fixiert, dass sie nur die anderthalb Meter oberhalb der Asphaltdecke einfangen würde, richtete ich ihr Objektiv auf den Mittelstreifen aus.
Niemals hatte ich ein Foto selbst geschossen. So stellte ich auch dieses Mal wieder den Selbstauslöser ein. Drei Sekunden würden reichen. Ich würde den Zeitpunkt dieses Mal nicht selbst wählen können.
Vorsichtig hob ich den Stapel Erinnerungen aus der Tüte. Noch sollten sie nicht davonfliegen.
Ungefähr alle dreißig Sekunden rauschte ein Lastwagen vorbei. Ich würde mich beeilen müssen, aber das musste ich immer.
Als der nächste Metallwal mich passiert hatte, rannte ich mitten auf die Fahrbahn. Zwei Sekunden.
Ich setzte die Bierdosen ab. Drei leer, zwei voll. Von den leeren hatte ich zuvor die Klipper abgebrochen, sonst würden sie nicht stehen können. Vier Sekunden.
Ich wetzte zurück, um die Fotos zu holen. Der Haufen war ein wenig aus seiner Form geraten, ich würde ihn wieder zusammenschieben müssen. Zehn Sekunden.
Zurück auf der Strasse begann ich die Dosen zu stapeln. Voll nach unten, leer nach oben, um die Chance zu erhöhen, dass sie bis zum entscheidenden Augenblick durchhalten würden. Fünfzehn Sekunden. Ein LKW kam um die nächste Biegung.
Ich kniete auf der Teerdecke und formte den Haufen Glanzpapier zu einem Quader. Jetzt nur keine Panik. Noch dreihundert Meter.
Ganz sachte ließ ich ihn auf die instabile Säule gleiten. Kein vorzeitiger Supergau. Noch zweihundert Meter.
Das Stahlmonster blendete auf. Ich blickte durch die Kamera. Hundert Meter. Das perfekte Bild. Das perfekte Bild.
Jetzt würde ich sie alle gehen lassen. Meine größten Momente, gebannt auf Papier, zerschmettert von gewaltiger Masse in drängender Bewegung. Ich hatte nie ein Foto bereut, aber dieses würde mir Leid tun, das spürte ich jetzt. Ich musste mein Leben retten! Fünfzig Meter und keine Zeit.
Bevor ich losgehechtet war, hatte ich den Auslöser noch berührt, obwohl es überhaupt kein Foto geben sollte. Ich wollte nur meine Erinnerungen. Eine stumme Uhr tickte.
Den Stapel hauchdünnes, plastiküberzogenes Holz im Visier wurde mir klar, dass ich es nicht schaffen würde.
Ich hasste mich dafür, dass ich abgesprungen war. Ich war wütend auf die Strasse, weil sie nichts unternahm den LKW aufzuhalten. Ich war angeekelt von der Kamera, die diesen Moment einfrieren wollte. Meinen letzten.
Nur der Lastwagen hatte sich meinen Respekt verdient. Er tat, was er immer tat.
Rollen.
Er tat zur rechten Zeit wofür ich ihn vorgesehen hatte. Weiterrollen.
Als die Nacht mich schluckte, blitzte es. Ich hoffte, es möge ein gutes Foto werden.

 

ich konfrontiere diejenigen unter euch, denen der titel reizvoll genug erschien, um sie zu lesen, hier mit meiner ersten und bisher einzigen kurzgeschichte. einige meinungen dazu habe ich schon gehört, doch ein so belesenes und breit gefächertes publikum wird mir sicherlich noch andere mängel aufzeigen können.

ich bin gespannt und freu mich auf kommentare!
bis dahin...ein schönes leben...

ein freistrahler

 

Hallo freistrahler,

Ich stand am Rande der Autobahn und überlegte. Es war mitten in der Nacht. Ab und zu schoss ein LKW vorbei. Anscheinend hing ich mehr an meinem Leben, als mir lieb war. Ich wollte nicht überfahren werden.
Seltsam, wenn man nichts an seinem Leben findet und es dennoch nicht hergeben will.
Ganz schlechter Anfang. Ungefähr 50 Prozent aller Debutgeschichten hier fangen so oder ähnlich an.
Bestimmt hat schon die Hälfte aller Leser weggeklickt, da sie mal wieder eine Suizidgeschichte wittert.
Dabei deutest du schon einen Unterschied an. Dein Prot hängt in der entscheidenen Sekunde am Leben.
Entsprechend lohnte es sich auch, weiterzulesen, trotz des Endes.
Okay, für die Kunst alles zu riskieren, ist konsequent und manchmal geht es halt daneben.
Die Gotcha Episode verbunden mit der geschilderten Lebenseinstellung finde ich witzig und in ihrer Auflösung auch tiefsinnig. Das Foto auf dem Dach habe ich nicht ganz verstanden, leider entstand auch trotz deiner Beschreibung das Bild nicht vor meinem Auge.
Auch das letzte Bild konnte ich mir nicht wirkich vorstellen, aber was ankommt, ist die Begeisterung deines Prots für seine Kunst.
Das hat mir gefallen:

Details:

Alles was mir im Kopf herumgegangen ist, hat irgendetwas mit Revolte zu tun gehabt.
hatte irgendwas mit ... zu tun. (Tempus einhalten)
Ich musste die Flugbahn der Kugel schätzen und dann ein wenig höher zielen. Das Gewehr und die Schwerkraft würden den Rest erledigen
Den Wind musste er auch berechnen.
Es war das eindrucksvollste Foto, das ich besaß
So richtig begriffen, warum er sich die Handschuhe anzog, habe ich nicht.
Als der nächste Metallwal mich passiert hatte
der Metallwal passt irgendwie sprachlich nicht in den Text. Hebt sich sehr ab und schreit nach "Ich brauchte eine Umschreibung"

Lieben Gruß, sim

 

Hallo sim,
als ich deinen Kommentar über den Anfang meiner Geschichte las, mußte ich lachen. Ich kann mir gut vorstellen, dass ihr so etwas hier öfter hört.
Die Geschichte dümpelt schon seit ein paar Monaten in einem Ordner. Ich habe es versäumt sie zu überarbeiten. Ich stimme mit dir überein, das Intro wirkt platt.

Dein Prot hängt in der entscheidenen Sekunde am Leben.
Ich hatte befürchtet, dass möglicherweise nicht gut genung heraus kommt, dass es nie die Absicht des Prots war sich das Leben zu nehmen. Was er will, ist ein Foto vonn all seinen vorherigen Bildern, die von dem LKW in die Winde verteilt werden. Im letzten Moment, er steht schon wieder am Fahrbahnrand, merkt er, dass die Fotos zu wichtig sind, als dass er sie vernichten, bzw. verlieren könnte. Wenn der Prot von 'Erinnerungen' spricht, ist das nicht wörtlich gemeint, sondern metaphorisch für seine Bilder.

Danke für die Tempuskorrektur. Das ist eigentlich der Punkt, um den ich mir am meisten Sorgen gemacht habe, weil ich, wenn auch nicht in der Anwendung, so doch in der Einhaltung der stringenten Tempi, Probleme habe.

Zitat:
"Ich musste die Flugbahn der Kugel schätzen und dann ein wenig höher zielen. Das Gewehr und die Schwerkraft würden den Rest erledigen"

Den Wind musste er auch berechnen.

Das ist natürlich völlig richtig. Den Wind habe ich schlicht vergessen.

So richtig begriffen, warum er sich die Handschuhe anzog, habe ich nicht.
(sim)
Ich habe ein Bild von einem Kartenhaus, das ich in einem kleinen Glaskasten auf dem Dach eines Hochhauses gebaut habe. In einem dieser komischen Behältnisse, die in Chemielaboren zum präparieren gefährlicher Substanzen benutzt werden. Mit zwei Löchern und fest genieteten Gummihandschuhen. Ich habe beinahe einen ganzen verdammten Tag damit zugebracht in diesen Handkondomen steckend ein Kartenhaus zu bauen.
(Chronik eines Fotoalbums)


Der Glaskasten und die Handschuhe sind notwendig, um zu verhindern, dass das instabile Gebilde von den Winden auf dem Dach davon geweht wird. Er hebt den Kasten erst empor, als er will, dass es einstürzt.

Deine Beschreibung für den 'Metallwal' spricht für ein gutes Gefühl. Es war, wie du sagst. Ich brauchte eine Umschreibung. Stümperhaft. Darum veröffentliche ich nicht bei Diogenes.. ;)

Danke für deine Hilfe.
Dir alles Gute.
Lieben Gruß

ein freistrahler

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom