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Cinco dedos tiene la mano

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30.04.2006
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Cinco dedos tiene la mano

Ihre Hände tanzen. Sie wirbeln durch die Luft, dirigieren, befehlen, beschwichtigen. Es sind keine grazilen Hände. Es sind junge Hände, schöne Hände, willensstarke Hände. Unverbraucht. Keine Spuren, keine Falten, keine Narben. Ich sehe einen Ring am linken Mittelfinger. Er hinterläßt einen silbernen Schweif, formt einen Halbkreis, rast auf mich zu. Kreist mich ein. An der rechten Hand erkenne ich einen Tintenfleck. Ich folge jedem Kunststück. Ich versuche mich zu konzentrieren. Mein Blick wandert zurück zu ihrem Gesicht. Ein Finger legt sich kurzzeitig auf ihren Mund, verschließt ihn, gibt ihn wieder frei. Sie spricht zu jemand anderem aus unserer Gruppe. Ihr Mund kennt eine Richtung. Ihr ganzer Körper bewegt sich beim Sprechen. Die Arme ziehen an den Schultern, diese versetzen den Rücken in Schwingungen. Nur der Kopf bleibt ruhig. Ihr Gesicht. Die Brauen, kastanienbraun wie das Haar, bewegen sich geordnet auf und ab. Sie artikuliert deutlich. Ich höre, was sie sagt: "Cinco dedos tiene la mano." Franz wiederholt den Satz. Ihr Blick wendet sich von ihm ab und streift auch mich für einen Moment. Ich vergesse ihre Hände. Ich schaue angestrengt an die Tafel, als müsste ich ihre Schrift entziffern und mache ein paar flüchtige Eintragungen in mein Vokabelbuch.

***​

Wir treffen uns im Kino Central, direkt am Hackeschen Markt. Der Eingang in den Hof ist dunkel, schmal, versifft. Das zieht Touristen magisch an, und es ist voller Touristen. Sie kommen nicht bis zum Kino, welches sich in der hintersten Ecke des Hofes versteckt. Ich schlage mich durch bis zum Eingang. Eine Schlange hat sich gebildet, die meisten Besucher wollen in den Film über Johnny Cash. Wir haben uns für einen spanischen Film entschieden. Der Kinosaal ist leer. Ich spreche noch kein Spanisch und verstehe erst wenige Wörter. Ich vertraue auf die Untertitel. Es ist ein Film über Kuba. Er erinnert mich an Berlin, genauso heruntergekommen, genauso viele Hoffnungen, abgestandener Revolutionskitsch. Der Kino-Saal ist mit Gartenstühlen möbliert. Billig und unbequem. Mir tut der Rücken weh und ich lehne mich nach vorne. Ich schaue zur Seite, wo sie sitzt. Sie bemerkt mich nicht. Sie schaut auf die Leinwand und lacht, ihre Hände sind gefaltet. Es ist stockdunkel, der Film wird lauter, als eine kubanische Heavy-Metal-Band spielt. Meine Hände, sie gehorchen meinem Willen. Ich überlege, ob ich sie aussende, die ihren einzufangen. Mich ihr in den Weg stellen. Zusammenprallen. Ich zögere. Ich bewege meine Hände.

***​

Ich hole zwei Becks-Gold und setze mich neben sie. Die Bar ist etwas besser beleuchtet als das Kino. In einer Ecke steht ein Terrarium mit einer Vogelspinne. An der Decke hängen beleuchtete Drachen aus Pappmaché. Aus den Boxen dröhnt Indie-Rock, zu laut um sich länger unterhalten zu können. In unserer Leder-Couch würden auch drei Personen Platz finden. Wir rücken zusammen. Ich betätige mich als Filmkritiker. Wir sind einer Meinung und trinken noch ein Bier. Sie möchte nach Mexiko gehen, schon in zwei Monaten. Ich frage, wovon sie dort Leben wolle. Sie macht sich keine Sorgen. Ich sorge mich um mich. Ich erzähle von meiner Zeit in Japan. Meiner Einsamkeit, der faszinierend fremden Kultur. Sie ist neugierig. Sie wird die Welt auf eigene Faust erkunden. Wir mustern die anderen Gäste. Wir sind noch ein Paar, das sich über andere Paare amüsiert. Wir sind noch kein Paar. Ich sage ihr, daß ich ihr gerne beim Reden zusehe. Sie nimmt es als Kompliment. Auch sie macht mir Komplimente. Ich hole uns einen Cocktail, wir saugen am selben Strohhalm. Wir sind uns sehr nahe und finden uns schön.

***​

Ihre Zunge gleitet in meinen Bauchnabel. Sie beißt. Ihre Zähne hinterlassen Abdrücke auf meinem Bauch, auf meiner Brust. Sie ziehen an meinen Ohrläppchen. Ihre Zunge ertastet mein Ohr. Ich höre sie lachen, ich lache. Ihr Körper ist dunkler, er glänzt. Er ähnelt demjenigen, den ich bisher kannte. Er ist nicht derselbe. Er gehört mir, für einen Augenblick. Ich trage ihr Gewicht und atme. Ich höre ihren Atem, ich rieche ihn. Ich kann ihn nicht unterscheiden von dem meinen. Ich kann unsere Zungen nicht mehr auseinanderhalten. Meine Hände folgen ihren Rundungen. Sie bewegen sich von alleine. Sie kennen den Weg. Ihre Hüften bewegen sich auf und ab. Ich halte sie fest, ich halte mich an ihr fest. Ich lasse sie gewähren. Ihre Hände durchfahren mein Haar. Sie gleiten hinab zu meinem Hals, umfassen ihn. Sie fühlt meinen Puls. Sie legt beide Handflächen auf meine Wangen. Ihre Hände sind heiß und klebrig und ich lecke an ihnen. Salzig, zwischen jedem Finger. Sie schaut auf ihre Hände, auf mich, ich schließe die Augen. Sie ergreift meine Hände, legt sie auf das Kissen, berechnend. Sie atmet schwer, zittert, sie ist konzentriert, ich konzentriere mich. Ich sehe sie, ich sehe andere Frauen. Ich sehe andere Hände. Ich bin glücklich.

***​

Ich wache auf. Sie flüstert mir etwas auf Spanisch zu. Es muß etwas bedeuten.

 

Freue mich über jede kritische Würdigung :)

Grüße
Benjamin

 

Hej ben_o,

erstmal ein herzliches Willkommen auf kurzgeschichten.de! :anstoss:

Deine Geschichte gefällt mir. Sie wirft Schlaglichter auf zwei Personen, pber die man zunächst nichts weiß und am Ende wenig, außer dass sie seine Spanischlehrerin ist und nach Mexico will, er bereits in Japan war und Angst um sie hat.
Du erzählst in lebhaften Bildern, ohne ein Wort zu viel, aber auch nicht zu knapp. Das Ende ist auf eine Art und Weise offen, die alle Möglichkeiten zulässt und so den Leser zum Rätseln und Träumen animiert.

Mir hat Deine Geschichte rundum gefallen, die Sprache, der Inhalt, die Art der Erzählung. Kurz, klein und trotzdem wunderbar aussagekräftig und in sich rund.

Liebe Grüße
chaosqueen

 

Hallo ben_o,
auch von mir herzlich willkommen auf dieser Seite.
Das Geheimrezept, mit dem man mich dazu bekommt, eine Geschichte hier auf jeden Fall zu lesen, egal in welcher Rubrik sie steht: Man gebe ihr einen spanischen Titel. Das klappt immer :D
Mir hat sie im Großen und Ganzen auch gefallen (und dann lässt du deine Prots auch noch ins Kino Central gehen - prima ... frage mich nur, was das für ein Film war, "Havanna Blues"?). chaosqueen hat es mit Schlaglichtern schon ganz gut beschrieben. Deine Art zu erzählen schafft es irgendwie, ein lebendiges Bild von dem zu entwerfen, worüber du schreibst, auch wenn ich deinen Stil - knapp, abgehackt manchmal - zunächst gewöhnungsbedürftig fand. Er hat mich dann zwar gefangen genommen, als ich mit Lesen fertig war, hatte ich allerdings das Gefühl, die Geschichte hätte keinen Satz länger sein dürfen. Aber das ist sie ja auch nicht. Dass er sich seine Spanischlehrerin angelt, geht fast einen Tick zu einfach, aber es ist nicht unglaubwürdig, es passt einfach in die Atmosphäre, die du schaffst, mit dem Central und der lärmenden Bar.
Schöne Geschichte, ich bin froh, dass der Titel mich dazu gebracht hat, sie zu lesen. :)
Liebe Grüße,
ciao
Malinche

 

hallo zusammen!

danke für die freundliche aufnahme und, wenn ich das generalisierend sagen darf, positive kritik. das ermutigt.

ich habe lange überlegt, in welchem duktus ich diese (und vielleicht folgende) geschichten abfassen kann. ich habe mich für diese stakkato-sätze entschieden. es war allerdings nicht ganz einfach, alle ungewollten deutungen und verbindungsstücke zu entfernen. das, was übriggeblieben ist, kommt zugegebenermaßen machmal recht ruppig daher. es wirkt evtl. besser, wenn man es laut liest?

nun zu den quellen: ich gebe zu, der film "havanna blues" war hier vorlage :) andere inspirationen werden nicht preisgegeben...

die anmerkung von Malinche, daß die geschichte nicht einen satz länger hätte sein dürfen, stimmt. sie war anfangs etwas länger, bis ich mich dazu durchgerungen habe, sie auf das wesentliche einzudampfen. mir würde auch nicht mehr viel einfallen, was die "handlung" zusätzlich vorantreiben würde. die geschichte lebt von der kürze.

ich würde allerdings gern versuchen, den stil hinüberzuretten in eine etwas "epischere" erzählform.

Grüße
Benjamin

 

Hallo ben_o,

auch von mir ein herzliches Willkommen auf kg.de.

Blöd, wenn ich mich jetzt genau den anderen anschliesse, aber ich habe der Kritik von Malinche und Chaosqueen wirklich nichts mehr hinzuzufügen.
Besonders beeindruckend fand ich, wie du mit wenigen Worten sehr viel sagst. Die Charaktere werden lebendig und trotzdem lässt du sehr viel Spielraum für eigene Gedanken und Interpretationen.

Gerne gelesen.

LG
Bella

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Ben_o,
nach den ganzen Lobeshymnen trau ich mich, dir auch mal eine nicht so postive Rückmeldung zu geben. Mir hat der Stil nicht gefallen, so unruhig, unangenehm. Die Prots blieben blass und ließen mich kalt.

Manches ist ganz nett formuliert:

Wir mustern die anderen Gäste. Wir sind noch ein Paar, das sich über andere Paare amüsiert. Wir sind noch kein Paar.

Anderes hingegen:
sie ist konzentriert, ich konzentriere mich.
Klingt komisch beim Sex.

Ach, und was bedeutet der Titel? Fünf Finger halten/bilden die Hand?

Gruß, Elisha

 

danke für das erneute lob, Bella!

@Elisha
die kritik ist wohl gerechtfertigt. allerdings habe ich natürlich auch keine charakterstudie anfertigen wollen, das ganze lebt ja trotz der kürze von der handlung und beobachtung, weniger von innenansichten. zum thema, was alles komisch beim sex klingt, würde ich anmerken wollen, dass fast alles komisch beim sex klingt, WENN man es ausspricht :)

denken darf man aber doch so einiges, und der protagonist stellt eben fest, dass sie ihm schon einen schritt voraus ist, er dagegen sich noch "sammeln" muß. aber sprachlich finde ich das auch nicht übermäßig gelungen, es gibt bessere stellen.

den titel würde ich mal mit "Fünf Finger hat die Hand" übersetzen.

grüße
Benjamin

 

Das Wichtigste vorab: Diese Geschichte gefällt mir außergewöhnlich. Nicht, weil sie in ihrer Machart so anders ist wie leider allzu viele in dieser Rubrik, sondern weil sie so kurz ist und trotzdem so viel erzählt. Jeder Satz, und beinahe jedes Wort bringt Neues, Unerwartetes. Man will immer weiter lesen, ist begierig, was nun sein würde, und doch hättest du die Geschichte nach jedem Absatz enden lassen können, und sie wäre trotzdem ganz, man hätte als Leser jedenfalls nichts oder nicht viel zu meckern.

Besonders gefallen haben mir Stellen wie diese:

Wir sind noch ein Paar, das sich über andere Paare amüsiert. Wir sind noch kein Paar.
Wie knapp und doch wird alles gesagt! Diese beiden Sätze allein könnten einen Absatz bilden, in dem eben das Status Quo der beiden beschrieben wird. Aber das würde den Leser um den Genuß der anderen Sätze bringen – gut, daß du dazu etwas mehr geschrieben hast.

Ihre Hände sind heiß und klebrig und ich lecke an ihnen. Salzig, zwischen jedem Finger.
Wunderbar! Welche Nähe, welche Intimität wird hier einem vor Augen geführt, andere würden, um das Gleiche auszudrücken, an dieser Stelle vielleicht schreiben, wie der Protagonist ihre Möse leckt, und würden doch nicht die Intensität erreichen, die in diesen zwei Sätzen steckt.

Einen Kritikpunkt habe ich auch gefunden:

Er hinterläßt einen silbernen Schweif, formt einen Halbkreis, rast auf mich zu. Kreist mich ein.
Den zweiten Satz würde ich entweder streichen oder dem ersten Satz einverleiben, dann aber mit anderen Worten als Halbkreis und Kreis – es wird sonst zuviel gekreist. :D

Bin gespannt auf deine nächste Geschichte, ben_o.

Dion

 

danke dion! sehr nette kritik. hoffentlich kann ich ihr mit der nächsten geschichte standhalten :)

grüße
ben

 

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