Cinco dedos tiene la mano
Ihre Hände tanzen. Sie wirbeln durch die Luft, dirigieren, befehlen, beschwichtigen. Es sind keine grazilen Hände. Es sind junge Hände, schöne Hände, willensstarke Hände. Unverbraucht. Keine Spuren, keine Falten, keine Narben. Ich sehe einen Ring am linken Mittelfinger. Er hinterläßt einen silbernen Schweif, formt einen Halbkreis, rast auf mich zu. Kreist mich ein. An der rechten Hand erkenne ich einen Tintenfleck. Ich folge jedem Kunststück. Ich versuche mich zu konzentrieren. Mein Blick wandert zurück zu ihrem Gesicht. Ein Finger legt sich kurzzeitig auf ihren Mund, verschließt ihn, gibt ihn wieder frei. Sie spricht zu jemand anderem aus unserer Gruppe. Ihr Mund kennt eine Richtung. Ihr ganzer Körper bewegt sich beim Sprechen. Die Arme ziehen an den Schultern, diese versetzen den Rücken in Schwingungen. Nur der Kopf bleibt ruhig. Ihr Gesicht. Die Brauen, kastanienbraun wie das Haar, bewegen sich geordnet auf und ab. Sie artikuliert deutlich. Ich höre, was sie sagt: "Cinco dedos tiene la mano." Franz wiederholt den Satz. Ihr Blick wendet sich von ihm ab und streift auch mich für einen Moment. Ich vergesse ihre Hände. Ich schaue angestrengt an die Tafel, als müsste ich ihre Schrift entziffern und mache ein paar flüchtige Eintragungen in mein Vokabelbuch.
Wir treffen uns im Kino Central, direkt am Hackeschen Markt. Der Eingang in den Hof ist dunkel, schmal, versifft. Das zieht Touristen magisch an, und es ist voller Touristen. Sie kommen nicht bis zum Kino, welches sich in der hintersten Ecke des Hofes versteckt. Ich schlage mich durch bis zum Eingang. Eine Schlange hat sich gebildet, die meisten Besucher wollen in den Film über Johnny Cash. Wir haben uns für einen spanischen Film entschieden. Der Kinosaal ist leer. Ich spreche noch kein Spanisch und verstehe erst wenige Wörter. Ich vertraue auf die Untertitel. Es ist ein Film über Kuba. Er erinnert mich an Berlin, genauso heruntergekommen, genauso viele Hoffnungen, abgestandener Revolutionskitsch. Der Kino-Saal ist mit Gartenstühlen möbliert. Billig und unbequem. Mir tut der Rücken weh und ich lehne mich nach vorne. Ich schaue zur Seite, wo sie sitzt. Sie bemerkt mich nicht. Sie schaut auf die Leinwand und lacht, ihre Hände sind gefaltet. Es ist stockdunkel, der Film wird lauter, als eine kubanische Heavy-Metal-Band spielt. Meine Hände, sie gehorchen meinem Willen. Ich überlege, ob ich sie aussende, die ihren einzufangen. Mich ihr in den Weg stellen. Zusammenprallen. Ich zögere. Ich bewege meine Hände.
Ich hole zwei Becks-Gold und setze mich neben sie. Die Bar ist etwas besser beleuchtet als das Kino. In einer Ecke steht ein Terrarium mit einer Vogelspinne. An der Decke hängen beleuchtete Drachen aus Pappmaché. Aus den Boxen dröhnt Indie-Rock, zu laut um sich länger unterhalten zu können. In unserer Leder-Couch würden auch drei Personen Platz finden. Wir rücken zusammen. Ich betätige mich als Filmkritiker. Wir sind einer Meinung und trinken noch ein Bier. Sie möchte nach Mexiko gehen, schon in zwei Monaten. Ich frage, wovon sie dort Leben wolle. Sie macht sich keine Sorgen. Ich sorge mich um mich. Ich erzähle von meiner Zeit in Japan. Meiner Einsamkeit, der faszinierend fremden Kultur. Sie ist neugierig. Sie wird die Welt auf eigene Faust erkunden. Wir mustern die anderen Gäste. Wir sind noch ein Paar, das sich über andere Paare amüsiert. Wir sind noch kein Paar. Ich sage ihr, daß ich ihr gerne beim Reden zusehe. Sie nimmt es als Kompliment. Auch sie macht mir Komplimente. Ich hole uns einen Cocktail, wir saugen am selben Strohhalm. Wir sind uns sehr nahe und finden uns schön.
Ihre Zunge gleitet in meinen Bauchnabel. Sie beißt. Ihre Zähne hinterlassen Abdrücke auf meinem Bauch, auf meiner Brust. Sie ziehen an meinen Ohrläppchen. Ihre Zunge ertastet mein Ohr. Ich höre sie lachen, ich lache. Ihr Körper ist dunkler, er glänzt. Er ähnelt demjenigen, den ich bisher kannte. Er ist nicht derselbe. Er gehört mir, für einen Augenblick. Ich trage ihr Gewicht und atme. Ich höre ihren Atem, ich rieche ihn. Ich kann ihn nicht unterscheiden von dem meinen. Ich kann unsere Zungen nicht mehr auseinanderhalten. Meine Hände folgen ihren Rundungen. Sie bewegen sich von alleine. Sie kennen den Weg. Ihre Hüften bewegen sich auf und ab. Ich halte sie fest, ich halte mich an ihr fest. Ich lasse sie gewähren. Ihre Hände durchfahren mein Haar. Sie gleiten hinab zu meinem Hals, umfassen ihn. Sie fühlt meinen Puls. Sie legt beide Handflächen auf meine Wangen. Ihre Hände sind heiß und klebrig und ich lecke an ihnen. Salzig, zwischen jedem Finger. Sie schaut auf ihre Hände, auf mich, ich schließe die Augen. Sie ergreift meine Hände, legt sie auf das Kissen, berechnend. Sie atmet schwer, zittert, sie ist konzentriert, ich konzentriere mich. Ich sehe sie, ich sehe andere Frauen. Ich sehe andere Hände. Ich bin glücklich.
Ich wache auf. Sie flüstert mir etwas auf Spanisch zu. Es muß etwas bedeuten.