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Clown
Auf dem Heimweg hielten wir Händchen, starrten uns manchmal verunsichert in die Augen, mitunter lächelnd, ohne Worte zu wechseln. Pfützen reflektierend wie Streifen von Latex hatten sich auf den Straßen gebildet und Autos, Tropfen verspritzend, durchquerten sie. Laternen leuchteten unvermutet grell auf und schienen sich wie Lichterketten entlang des Trottoirs in die Ferne zu ziehen. Vor einer roten Ampel standen wir still; Emily plötzlich keinen Lidschlag mehr vollziehend starrte bloß noch auf meine Hand, streichelte sie. Dort wo die Gelenke Knochen miteinander verbanden, waren meine Finger geschwollen und von Kruste bedeckt. Bisher hatte ich sie verbergen können.
"Was ist geschehen?", fragte sie.
Keine Zeit mehr für Ehrlichkeit.
Mittlerweile war in ihrem Kopf ein Bild von mir geschaffen worden, das ihr gefiel. Aber nur in diesem Zustand. Jede kleinste Veränderung gefährdete ihre Empfindungen für mich. Ich hatte mich in sie verliebt, ich durfte das von mir geschaffene Bild in ihrem Kopf unter keinen Umständen gefährden. Keine Zeit für Ehrlichkeit. Zeit für Lüge und Schauspielerei! Aber trotz all meiner Phantasie, fehlte mir in diesem Augenblick schlicht und ergreifend die Ruhe, um eine glaubwürdige Lüge zu finden. Deswegen verbarg ich einfach lächelnd die Hände in den Seitentaschen und wiederholte immer wieder:
"Gar nichts, gar nichts.", bis irgendwann die Ampel auf Grün umsprang.
Wir hielten nicht mehr Händchen, Emily weinte kaum hörbar vor sich hin und wischte wieder und wieder verschämt die Tränen von ihren Wangen, aber mein Verstand schien zu zerbersten. Warum weinte sie jetzt, so ohne jeden Grund. Ich konnte sie nicht umarmen, ihr ein Taschentuch anbieten, konnte keine besänftigenden Worte aussprechen, konnte nicht einfach meine Zunge zwischen ihre Lippen schieben, ihre spüren, denn - obgleich all diese Wünsche in mir Form annahmen - spürte ich ein solches Ausmaß an Wut, das ich Emily für meinen größten Feind hielt. Sie sog die Rotze durch ihre Nüstern, ließ angsterfüllt ihre Unterlippe zittern, hielt sich auf einer Brücke, die wir überquerten, kraftlos am Geländer fest.
"Warum weinst du?", fragte ich.
Aber sie antwortete nicht.
"Warum weinst du?", fragte ich noch einmal.
"Ich weiß es nicht!", flüsterte sie leise, wandte ihr Gesicht dem Fluß zu, der sich unter der Brücke dahin schlängelte. Unter der Einwirkung des Mondlichtes schimmerte das Wasser, sodass es durch die Lichtspiele schien, als würden kleine Wellen Richtung Horizont spülen. Tatsächlich wurde Emily durch diesen Anblick kurzfristig beruhigt und keine Träne gerann mehr, aber ich wollte ihre Aufmerksamkeit zurück:
"Lächerlich. Niemand weint, ohne die Ursache der Trauer zu kennen. Du merkst nicht unerwartet, wie sich die Augen mit Tränen füllen und denkst dir dann: Warum weine ich bloß. Du weißt, warum du weinst, aber du willst es nicht aussprechen, weil dir der Grund selbst zu klein und unbedeutend erscheint... Oder du empfindest zu viel für mich und möchtest bloß nicht meine Empfindungen abschrecken, du möchtest, das ich dich liebe..."
Sie weinte weiter. Ich schwieg
Einzelne Tropfen berührten meine Wange, kalt. Im ersten Moment noch zu irritiert glaubte ich fast, das es auch Tränen seien. Leichter schräger Regen setzte ein, sodass wir unser Tempo erhöhten.
Am Ende der Brücke ragte links eine Mauer empor, einige Tannen und das dahinter liegende Anwesen von der Straße abtrennend
Ein langer lauter Pfiff ertönte; instinktiv starrte ich geradeaus und konnte mit Mühe die Umrisse zweier Gestalten in der Ferne erkennen. Sogleich rumorten in meinem Kopf die Vermutungen; ich erinnerte mich an Anekdoten, an Gerüchte, Überfälle verhüllt von der Dunkelheit der Nacht, gebrochene Nasen, blaue Augen, geplatzte Lippen...
Wir näherten uns ihnen, aber Emily zerrte an meinem Ärmel - nicht mehr weinend, die Tränen trockneten - und wollte mich umlenken, zur Sicherheit. Aber ich konnte nicht; das Bild in ihrem Kopf sollte weiterhin bestehen: Ich als edler Beschützer in der Dunkelheit der Nacht führe sie vorüber an den Gefahren und Listen. Sie wird diese Mannhaftigkeit zu schätzen wissen. Ich bin der Richtige für sie. Sie wird mich mit Küssen und Liebe ehren. Die Umrisse der Gestalten wurden klarer: Ein großer schlanker junger Mann, Lederjacke tragend, mit braunen kurzen Haaren, lehnte sich an eine Laterne, während der Andere mit blonden gegelten Haaren, ein nur bis zur Hälfte zugeknöpftes Hemd tragend, Zigarrette rauchte und, den Kopf etwas seitlich geneigt, uns mit unheimlichen Blicken beargwöhnte. Diese Blicke konnte ich nicht genau deuten. Vielleicht verbargen die Augen seinen Wahnsinn, vielleicht auch nur eine Frage, die er stellen wollte. Zu jeder Variante überlegte ich mir eine Reaktion. Indes wurde mir klar, das mir der Mumm fehlte; sogar musste ich krampfhaft dafür sorgen, das ich das Zittern meiner Finger unterdrücken konnte.
Der Regen wurde stärker.
Wir standen ihnen gegenüber, Emily klammerte sich an meine Seite, ihren Kopf an die Schulter schmiegend, sodass mir nasse Haare ihren Duft verbreitend auf die Haut fielen.
"Woher kommt ihr?", fragte der Kleine mit polnischem Akzent.
"Aus dem Kino!", antwortete ich.
"Wohin wollt ihr?"
"Nach Hause!", antwortete ich brav.
Anschließend wurde es still. Er musterte mich von Kopf bis Fuß, leckte sich die Lippen, während seine Frisur mehr und mehr vom Regen vernichtet wurde. Ich glaubte Emilys Angst zu spüren, versuchte als Ausgleich um so mutiger zu wirken, erhob meine Brust ein wenig mehr, derweil ich innerlich von Angst erfüllt war.
"Deine Jacke gefällt mir...", stellte unerwartet der Große fest.
"Gib sie mir!", befahl der Kleine.
Ich blickte in Emilys Augen; sie nickte, als würde sie sagen: "Ja, mach schon, gehorch ihnen!", aber ich wußte, das mein feiger Gehorsam in diesem Augenblick jede Liebe in Emily abtöten würde, denn sie liebte das Bild in ihrem Kopf - nicht das wahre Ich - das wahre Ich kannte sie nicht und würde sie nie kennenlernen; darum versuchte ich so verkrampft das Bild mit aller Kraft vor jedem Makel zu bewahren.
"Die Jacke war teuer..."
Der Kleine lachte: "Um so besser! - Gib sie jetzt her!"
Ich schüttelte ruhig den Kopf, ließ den Blick unbemerkt umherschweifen: Leergefegte Bürgersteige, Wasser floß literweise in die Kanalisation, stärker werdende Windzüge rüttelten an den Tannen. "Wie wäre es, wenn ich dir deine Beine breche?" In meinem Kopf entstand eine Art von Betäubung, das Gehör funktionierte zwar noch, aber die Wörter wurden ohne jegliche Bedeutung abgespeichert. Der Große stieß sich mit einem leichten Ruck von der Laterne ab, der Regen perlte an seiner Lederjacke hinab. "Verschwinde Emily, schnell", will ich ihr zuflüstern, aber ich wandte ihr bloß mein von der Angst verformtes Gesicht zu, mit den zitternden Lippen, dem glasigen Blick... Sie zog mich zu sich und brüllte ganz und gar wie eine Löwenmutter: "Verschwindet und lasst ihn in Frieden... er hat euch nichts getan... ihr offenbart auf diese Weise doch bloß eure Feigheit, ohne irgendwem, ohne sogar euch selbst imponieren zu können. So wichtig kann euch die Jacke nicht sein... bitte... bitte!", wobei ihr Brüllen zuletzt mehr einem Schluchzen glich... Jäh schubste mich der Große. Emily, eine Hand noch in meinem Arm verankert, fiel zu Boden, blieb liegen, schaute weinend auf zu mir, da ich noch kurz vor der Bordsteinkante mein Gleichgewicht in letzter Sekunde wiederfand. Der Große näherte sich mit ausladendem Schritt, scharfblickend, derweil hinter ihm in aller Geborgenheit der Kleine nach rückte, bequem die Arme verschränkend. Mein Hinterkopf knallte auf den Asphalt. Blut.
Strömt mein Blut nun mit all dem Regenwasser hinab in die Kanalisation, wie schwer soll ich mich demütigen lassen? Niemand darf merken, das ich blute.
Nein, ich erhob mich hastig, fiel dabei fast wieder. Als ich den Kopf aufrichtete, flog mir eine mit Ringen verzierte Faust entgegen; Betäubung, die Umgebung schwankte, mein Kopf in Regenwasser getaucht, Blut strömte, die Lippe blutete... Blut, Emily vor mir, küsste mich auf die Wangen, weinend und erkundete sich nach meinem Befinden. "Mir geht es gut!", lüge ich und versuche gequält freudig zu wirken.
"Sind sie noch da?", frage ich.
"Nein - du blutest... Ich rufe einen Krankenwagen, du blutest!"
Sie strich über meine geschwollene Wange, begutatchtete das Ausmaß der Verletzung, sah, wie Tropfen von Blut auf meine Jacke fielen. Ich blickte in diese mir bis in das Herz dringenden Augen, die die Tiefe meiner Schwäche mitansehen mussten... sie hätte mich genau so gut, während des Kackens auf dem Klo erwischen können. Ich hatte das mühsam mit allen Verzierungen geschaffene Bild zerstört... Sie schwafelte: "Ich liebe dich! Ich liebe dich! Ich spüre Liebe - ich bringe dich in ein Krankenhaus und werde deinen Eltern Bescheid geben. Wir werden uns lieben.". Aber das war der bloße Ausdruck ihres Mitleids, nichts weiter, bloßes Mitleid für diesen grausam Gedemütigten... Jeder hätte dieses Mitleid in sich verspürt, hätte er solche Demütigungen mitansehen müssen.
"Lass mich!" Ich brüllte. "Lass mich in Frieden!" Ich stieß sie zur Seite, brüllte und brüllte, lief fort, die Straße hinab, brüllte zurück, lief, brüllte... lehnte mich weinend an die kalte nasse Mauer, genoß das Wasser, welches mir über die Haut floß, als würde ich eine warme Dusche genießen. Ich brüllte, obgleich nicht einmal in weiter Ferne auch nur der Umriss eines lebenden Wesens zu erkennen war. Auf meine Fingerkuppen biß ich, ballte die Hände daraufhin zu Fäusten, zum Himmel empor starrend und schlug - wie eh und je in Stunden der Trauer - kraftvoll gegen die Mauer, bis das Blut rot und schön über meine Finger gerann.