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(Co-)Existenzangst
Es ist ein kalter Spätsommerabend und die Sonne steht blutrot über dem Horizont. Eine Menschenmenge versammelt sich vor meinem Haus, wahrscheinlich haben sie alle die Nachricht in einem der Kanäle gehört.
Nur ungefähr kann ich die Anzahl der Leute durch den Stoff vor dem Fenster erkennen - es sind wohl zur Zeit an die fünfzig Erwachsene und es kommen ständig neue dazu. Der Stoff ist wichtig, er schützt mich vor ihren Blicken. Ich habe schon seit langem alles Licht ausgemacht und vor der Tür war ich seit einer Woche nicht mehr, kurz nachdem es begann. Seitdem weist nichts mehr darauf hin, dass jemand hier lebt. Und trotzdem sind sie gekommen – schließlich kennen mich einige von ihnen. Doch dass sie hergekommen sind zeigt mir, dass ich sie nie richtig kannte.
Wenn ich die Menschen betrachte, die heftig gestikulieren, überkommt mich ein flaues Gefühl: Angst. Vielleicht sollte ich ein paar der Kartoffeln essen, die ich eingekauft habe kurz nachdem ich die Nachricht gehört hatte. Aber ich habe nicht mehr viele davon.
Es war eine verhängnisvolle Nachricht. Gleich als ich sie hörte wusste ich, dass ich der darin beschriebene Gesuchte bin, obgleich ich den Grund dafür nicht kenne. Solche Nachrichten schlagen zwar längst keine großen Wellen mehr, aber lokal werden sie dafür umso mehr beachtet.
Seitdem von den Mächtigen Leute zur Klärung solcher Angelegenheiten eingesetzt wurden, kehren nach einiger Zeit wieder alte Verhältnisse ein, meistens jedoch ohne den Verdächtigen. Das macht mir noch mehr Angst. Hätte ich doch fliehen sollen? Aber ich bin unschuldig. Vielleicht hätten sie mich bei der Flucht gekriegt und dann hätte ich nicht mehr so authentisch meine Unschuld bekräftigen können. Diese schwere Zeit voller Einsamkeit wird schon vorbeigehen. Ich bin es gewohnt, einsam zu sein. So war mein Leben seit meiner Geburt.
Die Sonne ist untergegangen und ich stehe ganz leise während ich versuche dem Mann, der sich soeben an die Menge gewandt unter mein Fenster gestellt hat, zuzuhören.
„... glaube ich, dass er nicht dort drin ist. Was jedoch hinter diesen Wänden im Verborgenen liegt sind bösartige Utensilien. Und wenn wir nichts unternehmen wird er sie gegen uns einsetzen! Deshalb sage ich: Geben wir diesem Unmensch dazu keine Chance! Lasst uns dieses Haus betreten und ihm die Grundlage für seine abscheulichen Planungen nehmen!“
Ruckartig dreht der Sprecher sich um und ich weiche instinktiv zurück. Ich höre Geräusche von der Tür unten. Diese Menge will doch nicht wirklich in mein Haus eindringen! Vorsichtig trete ich wieder ans Fenster. Meine Welt dreht sich. Der Pulk drückt sich auf den Eingang zu. Panik macht sich in mir breit. Was soll ich nun machen?! Die Tür kracht. Sie hat der Gewalt von schwerem Werkzeug nicht standgehalten. Kurz frage ich mich, wo dieses so schnell herkam, aber ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken. Ich muss mich verstecken. Ich stürme auf den Kleiderschrank zu, reiße die Tür auf, drücke mich in die hinterste Ecke und ziehe die Tür so gut es geht von innen zu. Ein kleiner Spalt bleibt, durch den ich die Zimmertür sehen kann.
Gebannt horche ich. Getrappel auf der Treppe. Wollen die wirklich mein gesamtes Haus durchsuchen? „Bei zwölf Zimmern kann das lange dauern“ denke ich noch, als mir klar wird, wie viele Menschen gerade das Haus betreten. Mir wird klar, dass ich einen großen Fehler begangen habe. Man wird mich finden. Ich bin wie gelähmt. Meine Hände zittern. Schweißtropfen bahnen sich ihren Weg über meine Stirn. Voller Angst grabe ich mich noch tiefer in die warmen Winterklamotten, die hier lagern. Aber auch sie vermögen nicht, mich zu wärmen.
Die Tür fliegt auf und vier Männer kommen, gefolgt von einer Frau, ins Zimmer. Rumpeln dringt an mein Ohr. Was machen die da?!
Die Schranktür wird aufgerissen und die Frau starrt mir sichtlich erschrocken direkt ins Gesicht.
„Er ist hier!“, kreischt sie in ohrenbetäubender Lautstärke, nachdem sie den ersten Schrecken überwunden hat. Sofort stürzen sich die vier Männer auf mich als ginge es um Leben oder Tod. Erdrückt vom Gewicht der Männer und der Angst verliere ich das Bewusstsein.
Schmerz holt mich in die Realität zurück. Meine Arme sind auf den Rücken verdreht und kurz davor, ausgekugelt zu werden. Jetzt erst bemerke ich, dass ich mich bewege. Zwei Hünen, die mir auch die Arme auf den Rücken pressen, haben mich unter den Achseln gepackt und schleifen mich aus dem Zimmer. Links und rechts ziehen böse dreinblickende Gesichter vorbei, ich bekomme einen Stiefel in die Seite und verliere beinahe wieder das Bewusstsein.
Die Treppe. „Aufhören!“ will ich schreien, doch schon schlägt mein Rücken hart auf den Treppenstufen auf und nur „Auuuu!“ entweicht meiner Kehle. Ich schreie immer lauter, doch die vorbeiziehenden Gesichter scheint das nicht zu stören – vielmehr beruhigt es sie.
Ich werde nach draußen geschleift. Dunkelheit umhüllt mich und ich resigniere. Häuser ziehen vorbei und der Straßenboden reißt Löcher in meine Hose und Wunden in meine Oberschenkel. Es geht zur Stadtmitte, zum großen Platz.
Mittlerweile verlässt kein Laut mehr meinen Mund und ebenso stumm ist es auch in meinem Kopf. Wie selbstverständlich registriere ich, dass ich mein Ziel erreicht habe, an einen Stuhl gebunden werde und mir ein Lappen in den Mund gepresst wird.
Sie urteilen über mich.
„Er ist es, sonst hätte er sich nicht versteckt.“
„Er hat mich mit einem Fluch verhext, das schwöre ich.“
„Das Phantombild passt genau auf ihn, er ist der gesuchte Kofferbomber.“
„Tötet den Hexer!“
„Der Teufel soll den Ketzer holen!“
„Ein Islamist und ein Terrorist ist er! Wenn er davonkommt wird er uns alle umbringen!“
„Leute mit dieser Religion sind alle so! Außerdem kann man an seinem Gesicht und an seinen Haaren sehen, dass er schuldig ist.“
Mein Gehirn schaltet sich wieder ein. Ich muss träumen. Wurde ich soeben mit 'Hexer' bezeichnet?! Ich dachte, diese Zeit sei vorbei. Genauso wie meine Zeit. Kurz darauf geht nach der Sonne auch mein Verstand in dunkelrotem Feuer unter.