- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Coming out
Natürlich fielen sie ihm sofort auf. Sie hatte es auch nicht bezweifelt. Bisher waren sie fast jedem aufgefallen, auch wenn sie mittlerweile schon über zwei Jahre alt waren. Aber sie hatte es drauf angelegt. Er sollte schließlich wissen, mit wem er es zu tun hatte und noch die Chance haben, wegzulaufen.
"Was hast du denn da gemacht?" fragte er auch prompt und betrachtete die feinen weißen Linien, die ihren Oberarm zierten. "Hast du dich gekratzt?" Er blickte sehr skeptisch drein, als er das sagte. Auch das war sie gewohnt. So wie typische Kratzer sahen ihre Narben halt einfach nicht aus. Aber sie antwortete automatisch, wie sie sich es im Laufe der Zeit angewöhnt hatte: "Ja..."
Ihre Strategie, um mit derartigen Fragen umzugehen, war in der Regel, auf alle möglichen angebotenen Erklärungen mit "Ja" zu antworten. Zum Beispiel auf "War das eine Katze?" oder eben auf "Hast du dich gekratzt?" Schwieriger war es, wenn die Frager keine Erklärung beifügten sondern einfach nur wissen wollten: "Was ist das denn?" Dann antwortete sie in der Regel mit einem ausweichenden "Ach, das ist schon lange her..." Meist wurde daraufhin auch nicht weiter nachgebohrt.
Er wollte es aber genauer wissen. "Womit denn?"
"Mit ner Rasierklinge", gab sie zu. Und fühlte sich im gleichen Moment richtig bloßgestellt. Nicht nur wegen ihren Narben, sondern auch deswegen, weil sie so dünn und fein waren. Mit Rasierklingen brachte man in der Regel aufgeschnittene Pulsadern in Verbindung und überhaupt tiefe Verletzungen. Bei ihr hatte es dafür aber nie gereicht. Es waren nur immer oberflächliche Kratzer gewesen. Sie hatte einfach nie so weit gegen ihren Selbsterhaltungstrieb kämpfen können. "Als ob man mit einem Vorschlaghammer eine Mücke killt", dachte sie.
Er betrachtete sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Vermutlich schüttelte er innerlich den Kopf ob ihrer Stümperei. Nach einer kurzen Pause stellte er die dritte gefürchtete Frage: "Warum?"
Das war mit am Schwierigsten zu beantworten nach einem Jahr Therapie hatte sie mittlerweile die Gründe ganz gut herausgefunden. aber sie preiszugeben war schon fast lächerlich. Genauso wie es die dünnen weißen Linien eigentlich waren...
Ein anderer Ausdruck glitt über sein Gesicht. Ihm stand die Silbe "Oh..." förmlich ins Gesicht geschrieben.
"Nein, das ist es nicht..." sagte sie sofort. Klar - bei Selbstverletzung dachten die meisten Menschen sofort an die harten Sachen. Missbrauch, Vergewaltigung. Aber das war bei ihr nicht nötig gewesen, um zur Klinge zu greifen.
"Was dann?"
Im Grunde war sie froh über diese Frage. Denn natürlich war sie deswegen im Trägertop gekommen. Um ihm Rede und Antwort zu stehen und ihm zu zeigen, auf was er sich mit ihr einließ. Schließlich hatten sie sich jetzt schon ein paar mal getroffen und er war ja auch sehr nett und so... Und wenn er wirklich was von ihr wollte, dann würde er die paar Narben an ihren Armen schon verkraften. Und die paar mehr an ihren Beinen.... Und überhaupt ihre ganze Psycho-Persönlichkeit.
"Ich habe nie wirklich gelernt, auf Gefühle angemessen zu reagieren", erklärte sie ihm schließlich. Eigentlich hatte sie noch mehr sagen wollen, aber sie klappte ihren Mund wieder zu. Es fiel unglaublich schwer, all das in Worte zu fassen, was noch dahinter lag. Drum behielt sie es lieber in sich. Natürlich – sie könnte den Mund wieder aufmachen und hinzufügen:
„Das jedenfalls ist der eine Teil der Wahrheit. Einer von vielen. Es hat alles damit angefangen, dass ich anscheinend von meinen Eltern in meiner Kindheit nicht genügend Nähe abbekommen habe. Tatsächlich erinnere ich mich kaum an Berührungen. Mein Vater war immer ziemlich lange am arbeiten – und meine Mutter hatte selbst Probleme mit Nähe. Was sie wiederum von ihrer Mutter hatte. Außerdem hab ich nie ein wirklich positives Selbstwertgefühl entwickelt. Schon im Kindergarten hatte ich Angst, Ängste vor Dingen, die anderen keine Schwierigkeiten machten – auf das Klettergerüst steigen, zum Beispiel. Ich war überhaupt immer sehr ängstlich und stets darauf bedacht, es allen recht zu machen. Man darf zum Beispiel nicht laut sein, nicht schimpfen, nicht mit anderen raufen – da hätte ich sowieso immer den kürzeren gezogen. Aber irgendwo müssen die Aggressionen ja hin. Und wenn man andere nicht behelligen darf... Willst du noch mehr hören? Ich hab es bisher meistens ganz gut geschafft, Nähe zu meiden. Auch in der Pubertät. Ich hab noch nie einen Jungen geküsst und du armer Kerl hast ja keine Ahnung, was noch alles auf dich zukommt von meiner Seite, wenn du nicht schnell genug wegläufst!“
Sie sah ihm zum ersten Mal in die Augen. Um den Blick schnell wieder abzuwenden. Was sollte er nur von ihr halten? Sie war sich gar nicht sicher, warum sie eigentlich tat was sie tat. Wollte sie nicht vielleicht einfach seine Aufmerksamkeit erregen? Aber eigentlich hatte sie das ja schon vorher, sonst wäre er bisher ja wohl kaum mit ihr ausgegangen...
Sein Blick wanderte über die weißen Linien an ihren Schultern. "Die sehen aber schon ein bisschen älter aus", überlegte er nach einer kurzen Denkpause laut. Sie konnte seine Gedanken förmlich spüren. Vielleicht war es ja längst nicht mehr so akut, vielleicht war das ja doch schon alles vorbei...
"Ja, die an den Armen schon..." murmelte sie. Wenn schon, denn schon. Wieder dieses "Oh!" auf seinem Gesicht. Er versuchte es zu verbergen, aber sie bemerkte trotzdem, wie sein Blick über ihren Körper glitt und versuchte, durch den Stoff zu sehen. Der berühmte Röntgenblick - der in diesem Fall aber nicht von fleischlicher Begierde herrührte. Es war definitiv besser, ihm nicht im Unklaren zu lassen, sonst würde er sich sonst was einbilden.
"An den Beinen hab ich auch welche..." Sein Blick heftete sich sofort kurz auf die Beine, um sich schnell wieder ihrem Gesicht zuzuwenden. "Sind aber auch nur Kratzer", fuhr sie hastig fort. Das stimmte ohne Frage. Allerdings sahen sie trotzdem schlimmer aus als die an den Armen. Die Kratzer hatten einfach - vermutlich wegen dem ausgeprägteren Fettgewebe - mehr geklafft und so breitere Narben zurückgelassen. Und manche waren noch immer rot und somit viel auffälliger als die alten weißen... "Und - du machst es - aber nicht mehr...?" fragte er sehr zögerlich. er versuchte, sein Pokerface beizubehalten, aber es fiel ihm sichtlich schwer und seine Betroffenheit war nicht völlig damit zu verbergen. .
"Selten. Es ist schon deutlich besser geworden!" versicherte sie ihm. Was auch stimmte. Das letzte Mal war zwei Wochen her. "Wie - oft?" fragte er vorsichtig weiter. "Alle paar Wochen mal" erklärte sie.
"Und - du machst es dann, wenn es dir - nicht so gut geht...?" tastete er sich behutsam weiter vor. "Nicht immer... Nur manchmal... Meistens nicht... Ich kämpfe dagegen an" erklärte sie. Was eine Lüge war. Meistens konnte sie sich einfach nicht dazu aufraffen. In der Regel gab sie sich schon Gedanken hin, die Klinge über ihre Haut gleiten zu lassen; sie hatte die Blutstropfen vor Augen, die über ihre Haut rannen... Aber eigentlich war es mehr eine Gedankenspielerei. Sich die Hose auszuziehen, die Klingen hervorzukramen, Taschentücher und Heftpflaster bereitzulegen... Und schließlich die Klinge anzusetzen... das Blut zu spüren, aber sich dabei vorzukommen wie ein Stümper, der es noch nicht mal schafft, durch die Hautschichten durchzukommen, der es nur schafft, lächerliche fünf Zentimeter lange und einen drittel Zentimeter breite Narben zu hinterlassen... Was auf jeden Fall ausreichend war, um ihren Körper bis an das Ende aller Tage zu entstellen, aber das nichts war im Vergleich zu anderen, die alle Nase lang zum Doktor mussten, um sich nähen zu lassen.
Stümper eben, der vor allem auch noch unfähig ist, zu verhindern, alles mit dem Blut vollzuschmieren. Am ersten Tag gab es noch ein Pflaster, aber das war trotzdem meist schnell durch und verhinderte die einschlägigen Flecken auf der Kleidung auch nicht weiter. Und spätestens nachts im Bett brachen die Schnitte neu auf und hinterließen ihre Spuren am Betttuch. Verbände anzulegen bekam sie nicht hin und dauernd in dunklen Klamotten herumzulaufen und ihr Bett dunkel zu beziehen war auch nicht immer möglich.
"Und du kannst es nicht einfach - lassen?" fragte er mit einem hoffnungsvollen Unterton. Seine Woter holten sie wieder in die Realität zurück. „Natürlich“, dachte sie. „Natürlich könnt ich es lassen. Es bringt ja nichts. Nur Flecken und das Gefühl, ein Stümper zu sein... aber manchmal "gönn" ich es mir eben einfach. Oder ich versuch, mich damit selbst zu bestrafen... oder aber Druck abzulassen...“
"Es ist wie eine Sucht" sagte sie laut. "Im Prinzip wie ne Droge... Wenn man blutet, setzt das nämlich Endorphine, also körpereigene Glückshormone frei, und davon kann man abhängig werden. Ist viel besser als Haschisch oder so, eigentlich", versuchte sie zu scherzten, aber es misslang kläglich.
"Aha."
Was mochte er denken? Ob er sie wohl in die Schublade "drogenabhängig" einordnete? Wenn er wüsste, was sie noch so alles in Petto hatte...
"Und - in welchen Situationen - machst du es...?" fragte er vorsichtig weiter. "Wenn du traurig bist?"
"Ja, zum Beispiel... Oder wenn ich wütend bin und aggressiv... Ich hab laut meiner Thera nie gelernt, Wut zuzulassen und Aggressonen rauszulassen und drum reagier ich das zum Teil an mir selbst ab." „Ich mach das aber auch, wenn ich glücklich bin – um mir was zu gönnen oder um mich für mein Glück zu bestrafen – so ganz hab ich das selbst noch nicht raus“, fügte sie in Gedanken hinzu. Aber auch das war etwas, das sie ihm nicht so ohne weiteres erzählen konnte, wo sie schon in der Therapie Probleme gehabt hatte, es auszusprechen oder zu analysieren.
Überhaupt hatte sie jetzt ihre Therapie ins Spiel gebracht. Und er ging natürlich sofort drauf ein. "Du warst beim Psychiater?"
"Bei ner Psychotherapeutin. Die sind für sowas zuständig. Ja, ich hab ne Therapie gemacht. Und es ist tatsächlich wesentlich besser geworden!" Was aber bestimmt nicht an der Therapie lag. Es hatten sich einfach die Umstände geändert. Der Winter war vorbeigegangen, sie hatte sich nicht mehr so viel Gedanken um die Zukunft gemacht und darüber, ob sie einen Job finden würde und überhaupt zum arbeiten taugte... Und sie war für eine gewisse Zeit im Ausland gewesen. Das alles hatte den Rückgang bewirkt. Die Thera war gut gewesen, um die Hintergründe aufzudecken. Aber sonst....
"Aber jetzt machst du keine Therapie mehr?"
"Nein."
"Warum?"
Diese Frage war auch zu erwarten gewesen. Warum? Weil sie nicht nur mit dem selbstverletztenden Verhalten oder SVV zu kämpfen hatte, sondern sich langsam aber sicher auch eine Esstörung zugelegt hatte, bei deren Erwähnung die Therapeuse nur immer gesagt hatte: "Sie sollten wirklich versuchen, mehr zu essen. Doch, das sollten Sie." Irgendwie hatte sie sich ein bisschen verarscht gefühlt. Das wusste sie schließlich selbst, dass es gesundheitlich nicht so toll war, wenn man sehr viel abnahm... Und das es durchaus ein Zeichen von Unterernährung war, wenn man seine Tage nicht mehr bekam. Aber momentan spielte das eh keine große Rolle. Eine Zeit lang hatte es sehr gut geklappt mit dem nichts-essen. Aber mittlerweile lief es nicht mehr ganz so gut. Entweder sie aß gar nichts - unterstützt von ein paar netten halblegalen Hilfsmittelchen - oder sie aß wirklich viel, neben den Hauptmahlzeiten noch ein paar Täfelchen Schokolade oder Chips oder was auch immer herrumlag und süß war. Und das war ein Grund, warum sie zur Zeit wieder ein bisschen mehr ritzte als vorher... Weil sie sich einfach erbärmlich und minderwertig vorkam. Und weil ihr Magen nicht mehr allzu viel essen vertrug, was sie aber nicht dran hinderte sich vollzustopfen, was dazu führte, das der Magen Zicken machte und schmerzte, was nicht zu ihrem Wohlbefinden beitrug. Aber damit wollte sie ihn jetzt nicht behelligen. Er hatte an ihrem SVV schon genug zu knabbern.
"Die Thera hat mir einfach nichts mehr gebracht. Ich hatte irgendwann den Punkt erreicht, an dem ich mir sagte: ab jetzt musst du es allein schaffen" antwortete sie ein bisschen verspätet. Er blickte sie sehr skeptisch an, verkniff sich aber jeden Kommentar. Vielleicht wusste er auch nicht, was er mit diesem Psycho vor sich noch großartig reden sollte...
Sie holte tief Luft. Der Moment war gekommen.
"Hör zu!" begann sie. "Ich kann mir vorstellen, dass dich das jetzt ziemlich mitnimmt und vielleicht auch überfordert. Ich würde sagen, wir gehen jetzt dann zusammen den Film angucken und haben einen netten Abend und wenn dir das alles zu viel ist und du dich mit so nem Freak wie mir nicht weiter abgeben willst, dann brauchst du mich einfach nicht mehr anzurufen. Ich versteh das, wirklich. Mit mir ist es bestimmt nicht immer einfach... und wird es wohl auch in Zukunft nicht sein. Du musst dir auch keine Sorgen machen, dass ich von einem Hochhaus springe oder mir die Pulsadern aufschneide, wenn du dich nicht mehr meldest. Ich komm damit schon klar." Sie verstummte unvermittelt. Eigentlich hatte sie noch viel mehr sagen wollen, aber ihr waren die Worte, die sie sich mühsam zurechtgelegt hatte, nun doch entfallen.
Er hatte bei ihrer Rede die Augenbrauen immer weiter nach oben gezogen. Nachdem sie anscheinend nichts mehr hinzufügen wollte, meinte er fast ein bisschen entrüstet: "Mein liebes Mädel, wir haben uns nun schon ein paar mal getroffen und es war immer sehr nett. Diese Narben werden mich bestimmt nicht davon abhalten, dich wiederzusehen."
Seine Nasenflügel bebten eindrucksvoll, seine Augen funkelten und er wirkte überhaupt ziemlich überzeugend. Es bestand also Grund zur Hoffnung.