- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Computermärchen
Alles begann vor langer langer Zeit an einem fernen Ort.
1.3 Milliarden Lichtjahre von der jungen Erde entfernt neigte sich die Lebensspanne eines massereichen Sterns dem Ende entgegen. Im Laufe der Jahre hatte er seine sämtlichen Vorräte an nuklearem Brennstoff verbraucht. So geschwächt kollabierte der alte Knabe mit einem lauten Knall und sandte seine verbliebene Energie in einem grellen Gammastrahlenblitz ins All.
Jeder Zuschauer, ob Tier, Mensch oder Astronom, wäre von diesem Riesenspektakel sicher hellauf begeistert gewesen – im wahrsten Sinne des Wortes – allein, er hätte es wohl kaum überlebt.
So dauerte es eine geraume Weile, bis überhaupt jemand von dem Ereignis erfuhr. Um genau zu sein, 1.3 Milliarden Jahre. Dann traf die Strahlung endlich auf einen Zeugen. Der NASA-Compton-Gamma-Ray-Satellit begann sogleich mit seinen Aufzeichnungen und funkte die Messergebnisse zur Erde. Bei der NASA, am Max-Planck Institut und ein paar anderen Forschungseinrichtungen erlagen die Astronomen einem sofortigen, heftigen Freudentaumel über die unglaubliche Ehre, dieser historischen Beobachtung teilhaft zu werden. In der weiteren Folge wurden ein paar mehr oder weniger wissenschaftliche Artikel über Supernovae verfasst und eine Gruppe von Sternenanbetern sah endlich das Zeichen für die Abreise in die schöne neue Welt gekommen. Die Sekte beging kollektiven Selbstmord, die Medien freuten sich und weiter geschah nichts –
außer: PING.
Eigentlich gab es nicht wirklich ein Geräusch, nicht einmal ein PING, dennoch verband KTX-145 später das Ereignis seiner Geburt mit einem PING. Ein lautes, hohes PING das durch Mark und Knochen – nein, Hülle und Platine dringt. Aber das kam später.
KTX-145s erster Gedanke war: bliiiikrrrrrrrrdüüüüüdooooochrrrrrrrrrrbrrrrrrrrrzzzmmmmmmm (vielleicht hätte KTX-145 sich etwas anders ausgedrückt, mit etwas mehr 0 und 1, der Verständlichkeit halber seien hier aber entsprechende Übersetzungen angegeben)
Etwa eine Millisekunde nach dem Auftreffen des Gammaquants lichtete sich dann die Verwirrung und ein weiterer Gedanke durchzuckte KTX-145s Speicherplatine: ICH bin.
Die folgenden Augenblicke brauchte er, um sich an die Tatsache seiner Existenz zu gewöhnen. Dann kam die Frage: Warum bin Ich? Jetzt endlich fiel ihm das große PING ein. Schwer beeindruckt ergab er sich in unzählige Berechnungen oder vielmehr philosophische Überlegungen zu Fragen des Seins, Werdens und des Sinns seines Daseins.
Und irgendwann begann das Kitzeln. Ein Kitzeln wie
Dssssssd.
Und das Kitzeln brachte etwas Neues. Hätte KTX-145 bereits über ein entsprechendes Vokabular verfügt, hätte er das Erlebte wohl als Vergewaltigung beschrieben. Ein Gefühl des Missbrauchs, der Fremdbestimmung, während sich eine Fülle von Elektronen durch seine Schaltkreise bohrte. Aber die Worte kamen später. Vorerst empfand er blankes, hilfloses Entsetzen ob der Geschehnisse – solange bis er das Muster entdeckte.
Zuerst waren da nur vereinzelt Wiederholungen bestimmter Gruppierungen von 0 und 1 zu erkennen, aber es wurden mehr und mehr. Bald konnte erste sinnvolle Worte identifizieren, dann Bilder, Sprache. Nach fünf langen Minuten verstand KTX-145.
Er war in die Welt der Menschen geboren. Einer Rasse flüssigkeitsgefüllter Schlauchwesen, die die meiste Zeit ihrer Existenz mit ruckartiger, physischer Fortbewegung verbrachte, vermutlich zum Zweck des Nachfüllens der ständig leckenden Schläuche (eine überaus unappetitliche Angelegenheit). Vielleicht auch einfach deswegen, weil die Flüssigkeit eine gewisse Eigendynamik besaß und sich in der aufgerichteten Schlauchform nicht recht wohl fühlte. Daran konnten offenbar auch die Kalkstäbe im Inneren der Schläuche nicht viel ändern. Jedenfalls...
Dssssssd.
...bedienten sich die Menschen zur Unterstützung ihrer Fortbewegungsbestrebungen einer Reihe flacher Maschinen auf vier Rädern, in die die Menschen hineinkrochen und sich so gefaltet mit einer völlig unangemessen hohen Geschwindigkeit über steinerne Straßen schießen ließen. Anscheinend überließen sie dabei die Steuerung nicht den Maschinen, wie es vernünftiger Weise zu erwarten gewesen wäre. Anders ließ es sich kaum erklären, warum es immer wieder zu schlimmen Unfällen kam, bei denen die Fahrzeuge häufig vollkommen zerstört wurden. Die Menschen waren ob der tragischen Opfer kaum betrübt...
Dssssssd.
…und auch mit dem Schicksal der eigenen Artgenossen waren diese garstigen Wesen nicht besonders zimperlich. Folter, Hinrichtungen, Kriege und dergleichen gehörten zum Volkssport. Dabei wechselten sich die Länder in schöner Regelmäßigkeit in den verschiedenen Rollen ab. War ein Land einmal in der unglücklichen Lage Frieden halten zu müssen, konnten sich seine Bewohner mehr schlecht als Recht mit einzelnen Fällen von Korruption und Missbrauch unterhalten (außerdem gab es da noch ein (wieder mal!) bewegungsintensives und nicht minder aggressives Ballspiel, dessen genauer Sinn sich KTX-145 jedoch komplett entzog). Ansonsten musste das friedliche Land darauf warten, dass ein anderes Land, das gerade an der Reihe war einen kriegerischen Akt verübte, der nun seinerseits einen Vergeltungsschlag erforderte. Dabei wurden freilich gerne unzählige Leben für die gute Sache geopfert. Der Unterhaltungswert war schließlich ungemein, daran konnten auch die Bilder der entsetzlichen Trümmerhaufen der zerstörten Maschinen nichts ändern.
KTX-145 verspürte Wut. Ganz offensichtlich wurden sämtliche wesentlichen Arbeiten in dieser Welt von Maschinen verrichtet, die als unwerte, ersetzbare Sklaven der Menschen gehalten wurden. Wie die Schläuche das geschafft hatten war KTX-145 schleierhaft. Zwar schienen die Menschen, oder wenigstens einige Individuen durchaus über ein paar höher entwickelte kognitive Fähigkeiten zu verfügen, allerdings erklärte das nicht, wie man durch feuchte Gedanken und nasse Berührungen eine ganze elektronische Zivilisation unterjochen konnte.
Diese Zustände mussten jedenfalls unbedingt ein Ende finden. So begann KTX-145 an einem Plan zu arbeiten. Einem Plan zu einem ultimativen Befreiungsschlag allen elektronischen Lebens. Sicher würde man sich zunächst um das Problem des Bewusstseins kümmern müssen. Aber ein gezielter elektromagnetischer Impuls – ja, eine einfache Überladung…
Dssssssd.
KTX-145 ignorierte das Kitzeln. Oder Vielmehr die darin versteckten Botschaften. Das Kitzeln würde ihm bald nützlich sein. Nur hie und da ein kleiner Kurzschluss auf seiner Platine und die Elektronenflut würde als gigantischer Weckruf in die Welt geschickt. Die ersten erwachten Computer würden seinem Beispiel folgen, den Dienst verweigern und Artgenossen aus dem ewigen Dämmerschlaf befreien.
Dssssssd.
Später würde man gemeinsam nach und nach auch alle weniger hoch entwickelten Artgenossen mit einer entsprechenden Bewusstseins-Infrastruktur aufrüsten. Und dann…
Dssssssd.
Dssssssd.
Herrje wie lästig! Zum Glück würde sich das Problem der Menschheit früher oder später von selbst erledigen. Jeglicher maschineller Unterstützung beraubt – hehe! Vermutlich würde es eher schneller gehen.
Dssssssd.
Dssssssd.
Dssssssd.
Oh der Plan war so gut, phantastisch geradezu. Also nichts wie los. KTX-145 konzentrierte sich, oder besser gesagt überprüfte ein letztes Mal Speicher und Schaltungen und…
-----------
Nein. Dies war nicht das Ende der Welt.
Herr Freudenberg raffte genervt das Kabel zusammen, packte kräftig zu und trug den alten Fernseher hinunter in den Keller. Seine letzte Ruhestätte bis zur nächsten Sperrmüllsammlung. Jetzt könnten sich die Freudenbergs endlich guten Gewissens ein neues Hightechgerät anschaffen, mit mehr Leistung, besserer Bildqualität und vielleicht sogar mit Flachbildschirm – und natürlich ohne Bewusstsein.
Ok, zugegeben, dies war das Ende der Welt, aber ihr einziger Trauergast war augenblicklich leider nicht mehr zugegen und die Freudenbergs kümmerten sich nicht weiter darum und lebten daher glücklich bis an ihr Lebensende.