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Computerspiele im Frühling

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24.08.2003
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Computerspiele im Frühling

„Höchste Zeit, dass du dich reproduzierst“, sagt mein Körper.
„Hey, nichts da“, gebe ich zurück, „ich bin ja nicht einmal volljährig!“
„Wir werden sehen, wer zuletzt lacht“, erwidert der Verräter.
Ich vegetiere vor mich hin und warte auf den Sommer. Warum, das weiß ich nicht so genau. Vielleicht, weil ich dann wieder auf den Winter warten kann. Ich bin am Computersessel festgerottet. Hinter mir wartet ein Stapel nicht gemachte Hausaufgaben darauf, dass ich ihnen liebevolle Zuwendung zukommen lasse.
Stattdessen spiele ich mein neues Computerspiel. Ich hab es gestern heruntergeladen. Science-Fiction, Raumschiffe, Laserschwerter, Aliens. Was will der Mensch mehr?
Zum Beispiel ein warmes Männchen in deinem kalten Bett, erinnert mich der Verräter. Ich schüttele heftig den Kopf. Zeit, auf andere Gedanken zu kommen
Ich fliehe mit einem Shuttle aus einer Raumstation. Überraschenderweise werde ich unterwegs abgeschossen. Als ich aufwache, sehe ich einen seltsamen Mann.
Er trägt eine Hose, die aussieht, als könne sie an einem Blaumann drangewesen sein, und ein schwarzes Hemd ohne Ärmel. Haare hat er keine, dafür wachsen kurze Hörner aus seinem Schädel. Wären sie länger, würde er aussehen wie die Freiheitsstatue. Er hat einen künstlichen Arm.
Was ist das denn für ein Vogel?, frage ich.
Warte einfach ab, sagt der Verräter.
Das Alien öffnet den Mund und sagt „Hello, General“, und ich bin weg. Seine Stimme ist weich und voll. Sie hat keinen erkennbaren Akzent, er spricht sauberes Lehrbuchenglisch, die Konsonanten verschleift er ein bisschen.
Ich ertappe mich dabei, wie ich ihn anstarre. Alien. Vermutlich wären wir nicht einmal kompatibel. Aber diese Hörner... Verdammt, er ist nur eine Figur aus einem Computerspiel!
Er erzählt ein bisschen was von sich, und dann machen wir uns auf die Socken. Ich habe ein neues Partymitglied dazugewonnen, und ich gebe es nie wieder her. Wohin ich auch gehe, er wird von nun an mit mir kommen, und wenn ich die ewige Dunkelheit wähle, wird er mit mir fallen.
Hoffentlich.
Alleine lohnt sich das nicht.

Die Hausaufgaben und ich sind in die Schule gegangen. Wir befinden uns immer noch in demselben Zustand wie gestern. Sie sind nicht gemacht, und ich bin ungekämmt und mental in einem Zustand jenseits von gut und böse. Wenigstens habe ich daran gedacht, gestern abend zu duschen.
Oder war das vorgestern?
Nein, es war vor dem neuen Spiel.
Wenn ich es mir nur auf Deutsch gekauft hätte...
Vektor a minus Vektor b...
Viktor der Vektor
... ist die waagerechte Diagonale des Kräfteparallelogramms aus den beiden Vektoren...
Warum sitze ich eigentlich hier, wenn ich genau so gut Sex haben könnte?
Ich hasse es, wenn es Frühling wird. Die Hormone spielen verrückt.
... die entsteht, wenn man den Angriffspunkt von Vektor b auf den...
Normalerweise geht das doch nur der anderen Hälfte der Menschheit so. Oder nicht? Meine Gedanken kreisen um Fortpflanzung und die damit verbundene Horizontalgymnastik. Irgendwo im Hintergrund gehen Viktor der Vektor und sein Stamm auf Kriegspfad.

Draußen liegt Schnee. Dabei dachte ich, der Winter wäre endlich hinüber. Meine Hände kritzeln kleine Strichmännchen in mein Heft.
Die Bäume hatten schon angefangen, Knospen zu bilden. Die werden jetzt ganz schön frieren.
Ich könnte jetzt auch zu Hause sein, bei...
Eines der Strichmännchen hat kleine Stacheln auf dem Kopf. Wären sie länger, wäre es vielleicht die Freiheitsstatue. Wie von selbst malen meine Finger einen künstlichen Arm mit einem Energiedingens als Ellbogengelenk.
„Hello, General“. Ich. Will. Etwas.
Meins.
Wir haben immerhin zusammen an der Front gegen die feindliche Invasion gekämpft. Ob vielleicht mein Charakter ihn haben kann, wenn ich schon nicht...?
Ich würde ihn gern töten. Dann wäre er fort. Dann würde kein anderes Mädchen vor ihrem Rechner sitzen und ihn anschmachten.
Trottel, normale Mädchen tun so etwas auch nicht
Aber vielleicht tut es doch jemand. Computerspiele sind etwas für Jungen. Nicht für Mädchen. Kann ich ihn für mich allein haben?
Das Strichmännchen. Eine Detailstudie. Ein runder Kopf mit Hörnern. Ich wusste gar nicht, dass ich so gut zeichnen kann.
„Wer ist das?“, will meine Sitznachbarin wissen.
„Der feuchte Traum meiner schlaflosen Nächte“, gebe ich zurück, und sie tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
Zwei Jungs aus meiner Klasse unterhalten sich über dasselbe Spiel. Sie finden ihn scheiße. Dafür mögen sie die komische knapp bekleidete Frau. Ich habe keine knapp bekleidete Frau, die kriegt man wohl nur, wenn man nett zum Rest des Universums ist. Stattdessen habe ich ein riesiges rasendes Biest, das mir alle fünf Minuten erzählt, dass es mich töten wird.
Mein Charakter würde ihre Charaktere einfach zerschmettern.

Ich schlage den Vormittag damit tot, dass ich „du sollst dich nicht in Computerspielfiguren vergucken“ in mein Heft schreibe. Wenn die Deutschlehrerin es einsammeln würde, würde sie sich ganz schön wundern.
Ich blättere durch meinen Collegeblock. Da ist ein Männchen mit langen Hörnern und Flügeln. Illidan. Aber der ist jetzt out, abgelöst von einem Iridonianer. Der ist wenigstens nicht unglücklich in die Freundin seines guten Bruders verliebt, der die ganze Zeit damit beschäftigt ist, ihn für seine bösen Taten zu bestrafen.
Du sollst dich nicht in Computerspielfiguren vergucken.
Iridonian. Hello, General. Seine Stimme.
Ich könnte mich vielleicht auch einfach in den Synchronsprecher verlieben. Es ist die Stimme, die meinen Magen kribbeln lässt, nicht die Figur. Aber ich kann nicht einmal bestimmen, woher der Sprecher kommt.
Du sollst dich nicht in Computerspielfiguren vergucken.
Nur die Konsonanten sind ein bisschen abgerundet. Reden alle Iridonianer so? Darth Maul nicht, aber der hat sowieso nicht viel geredet. War eher damit beschäftigt, zu grunzen und Grimassen zu schneiden. Wahrscheinlich glaubte er, auf die Art furchterregend zu wirken, aber ich fand es eher lächerlich.
Wenn ich einen Wunsch freihätte, würde ich mir wünschen, dass er real wäre? Nein.
Du sollst dich nciht in Computerspielfiguren vergucken.
Meine Finger machen automatisch Tippfehler. Mit einem Füller. Das muss man erst einmal schaffen. Diese Stimme.
Zu groß wäre die Gefahr, dass er mir... abhanden kommen könnte. Außerdem müsste ich dann vielleicht eines der anderen Gruppenmitglieder mitnehmen. Die können ja nicht einmal zaubern.
Meine Deutschlehrerin verblasst, und mit ihr der allgegenwärtige Aesop und seine verdammten Fabeln. Bei mir würde der Fuchs den Raben mit Blitzen von seinem Ast fegen, seinen Kadaver und den Käse fressen und sich dann vom Acker machen.
Was gibt es dazu zu sagen. Mir ist langweilig. Zum Glück klingelt es gleich.

Ich hasse es, wenn es Frühling wird. Vor allem, wenn der Frühling sich so erfolgreich tarnen kann. Missmutig stapfe ich durch die Schneewehen zum Bus, vorbei an einem knutschenden Paar,
Du sollst dich nicht in Computerspielfiguren vergucken.
das an einer Laterne steht.
Wie die Hörner sich wohl anfühlen würden, wenn ich sie berühren könnte?
Was er mir wohl zu sagen hat, wenn ich wieder da bin?

„Hello, General. Was there something else you wanted to ask me for?“
Verdammt. Mein Weltbild bricht zusammen.
Wäre ich doch nur nicht so geizig gewesen und hätte mir das Spiel auf Deutsch gekauft.
Er hat mir nichts mehr zu sagen. Die Dialogoptionen sind erschöpft. Mein Leben hat keinen Sinn mehr. Oder vielleicht doch. Ich lasse meine schlechte Laune an ein paar unglücklichen Statisten aus, die einen Passanten ausrauben wollen. Ich befehle ihnen, in die riesige Grube in der Mitte des Levels zu springen. Selber Schuld.
„Yeah, good idea, let's jump into the Central Pit. You get faster to the ground then!“
Genau, Jungs, ihr habt es verstanden.

 

vita schrieb:
woher kennst du meine Gedanken? :susp: Kannst du sie lesen?
Naja... normalerweise nur die, die du aufschreibst... :D

Und die hier sind ja vita-gemäß sehr ... äh.. organisch strukturiert. Was der Geschichte in diesem Fall einen gewissen Charme verleiht. Normalerweise benörgel ich das ja immer, aber hier passt es irgendwie zur Prot und auch zum Thema. Ich meine: So eine Geradeaus-von-A-nach-B-Buchhalterpersönlichkeit wird sich wohl kaum ... und der Frühling ... und überhaupt. ;)

 

Hi vita!

Schöne Erzählung des Realitätsverlusts :D

Ich schließe mich den Lobenden an! Und werde standhaft versuchen, mich nicht in Harry Potter zu verlieben. Obwohl ich den nicht nur im Spiel habe, sondern auch in Büchern, in Filmen... da ist das nicht ganz so leicht - und der kann schon zaubern :D
*indieSelbsthilfegruppeeinreih*

Hat mir gut gefallen. Bleibt sicher in Erinnerung.

Frauke

PS: Viktor der Vektor ist einen Klassiker im Klassenzimmer wert!

 

Hallo arc en ciel,

danke für die Kritik, schön, dass du Spaß beim Lesen hattest (das schließe ich einfach mal aus dem dicken Smiley ;))
Wegen Harry Potter: Du stehst doch bloß auf seinen Zauberstab... :D

gruß
vita
:bounce:

 

Und werde standhaft versuchen, mich nicht in Harry Potter zu verlieben.
Tss, da gibs ja wohl bessere als Harry Potter;). Aber das sagt jemand der mit seiner Diablo 2 Zauberin Gespräche führt. Leider antwortet sie nie. Liegt wohl daran, dass sie als Stufe 57 nichts mit mir Stufe 1 zu tun haben will. Aber dann muss ich mich doch immer wieder um sie kümmern, wenn sie gestorben ist. Pff. Die Welt ist ungerecht.

Mal davon abgesehen: Was dir immer für merkwürdige Gedanken kommen. LOL. Mir hat die Geschichte gefallen. Ich könnte dich jetzt auch noch mit mehr Lob überhäufen, aber das hat der Rest schon gemacht. Trotzdem :thumbsup:

 

Hey Tommy,

danke für den Daumen. Also, mit einer Diablo 2 Zauberin hab ich mich noch nie unterhalten, dafür mit dem Paladin: "Tu gefälligst, was ich dir sage, du widerliche Kreatur! Du sollst Andariel angreifen und nicht den Gefallenen da!" :D

Danke für das Lob!

gruß
vita
:bounce:

 

Hey Crazy Janey,
da komm ich nach Hause und Leute graben meine Geschichte aus :shy: Danke dafür, auch für die positive Kritik.
An den beiden bekrittelten Stellen werde ich aber, glaube ich, nichts ändern. Die Protagonistin hat daran gedacht, zu duschen. Ob sie es getan hat, steht auf einem anderen Blatt. Und das "Männchen" in ihrem Bett ist ja spezies-technisch nicht näher definiert, damit kann also auch ein menschliches oder ein Alien-Männchen gemeint sein.
Danke für dein Kompliment zum ersten Satz. Ich finde ihn auch furchtbar gut. Deshalb musste ich eine Geschichte für ihn schreiben ;)

gruß
vita
*bounce*

 

Hallo vita,
vor dem Kritisieren lese ich mir die anderen Antworten nie durch, aber ich denke mal, es ist schon alles gesagt... deine Geschichte hat mir ganz gut gefallen, tiefschweifende Bemerkungen über die Handlung erübrigen sich, und Fehler sind mir nicht aufgefallen. Einzig gestolpert bin ich über das "Alleine will ich nicht mehr.":
Nicht mehr was? In die Dunkelheit fallen? Nun, so depressiv wirkt dein Protagonist nicht, aber vom Bezug geht nichts anderes.
Grüße,
...para

 

Hey Para,
da dachte ich, jetzt fliegen die Fetzen, und dann kommt so etwas Positives :shy:
Danke fürs Ausgraben und Kritisieren und natürlich fürs Bekritteln des einen Satzes. Ich werd mal sehen, ob ich den irgendwie umformulieren kann, damit er nicht mehr ganz so depressiv klingt.
lieben gruß
vita
:bounce:

 

vita schrieb:
Hey Webby,
[...]
Edit: Das mit dem Duschen würde ich genau so sagen. Du nicht?
Zwar schon länger her, aber besser als gar keine Antwort: wenn du das mit dem Duschen genauso sagen würdest, dann wirst du bestimmt oft falsch verstanden. Konkret zu diesem Satz: Sie hat erst daran gedacht, und dann vielleicht geduscht, oder? Also hat sie gestern Abend daran gedacht, zu duschen. Oder hat sie am nächsten Tag daran gedacht, gestern zu duschen, wofür es allerdings dann schon zu spät war, weils schon morgen war, als sie daran gedacht hat?

 

Hey Webby,
okay, dann eben nochmal aufrollen: Sie hat daran gedacht, zu duschen. Punkt. Sie hat also quasi einen Gedankengang an ihre Dusche verschwendet. Ob sie aus dem Sessel hochgekommen ist, steht da nicht, das möge sich der Leser selbst vorstellen... ;)
Bis vielleicht heut Abend im Chat!

gruß
vita
:bounce:

 

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