Déjà-vu
Telefonisch hatte Frau Häber ein Zimmer in einem kleinen Hotel in Smichov bestellt. Von Smichov konnte man auf ganz Prag hinuntersehen, wie auf einem Tablett lag die Stadt einem zu Füßen. Das Prager Meer, hatten sie früher gesagt. Sie liebte Prag, auch wenn sie noch ein Kind war damals, als sie flüchten mussten. Die Familie hatte in der Altstadt gewohnt, in der Stabenovgasse. Das Haus stand noch. Bekannte, die nach Prag gefahren waren, hatten es ihr gesagt. Das Haus hatte ihrem Vater gehört, einem Wehrmachtsoffizier. Er hatte es von einer jüdischen Familie, die ausgesiedelt worden war. Dass sie damals nicht gewusst hatte, was Aussiedeln hieß, entschuldigte sie heute nicht. Aber des Vaters Name war im Grundbuch eingetragen. Sie hatte eine Chance. Sie wusste noch nicht, ob sie ihre Chance nützen würde. Aber sie wollte das Haus wiedersehen, wenigstens das, fürs erste. Vor Ort sah alles ganz anders aus.
Es ging nicht mehr viel hinein in den Koffer. Den Bademantel über den Arm geworfen, mit schlurfendem Schritt, ging sie ins Bad. Sie hängte den Bademantel an den Haken. Wie sie es geahnt hatte: Der Koffer war aufgesprungen, als sie zurückkam. Sie nahm noch ein paar Kleidungsstücke heraus: einen Pullover für kalte Tage, den engen Rock. Jetzt ließ sich der Koffer gut schließen, sie musste nicht mehr befürchten, dass er unterwegs aufgehen würde. Sie hob ihn an: tonnenschwer.
Die Stadt schlief noch. Ein paar Autos waren unterwegs. Sonst nichts, kein Mensch auf der Straße. Der Zug nach Prag ging früh ab. Sie hatte den falschen Zug gewählt, der Nachmittagszug wäre praktischer gewesen, dann hätte der Junge den Koffer tragen können, sie hätte ihn schon überredet. Er hatte sich geweigert. Bei der Sache mache er nicht mit, hatte er gesagt, mit Nostalgie könne er nichts anfangen. Den armen Tschechen das Haus unter dem Hintern wegziehen, dazu sei auch nur sie fähig.
Der Zug stand abfahrbereit, als sie sich mit dem Koffer die Treppe hochgequält hatte. Er war voll, junge Leute, Tschechen, die nach Hause fuhren, hatten alle Sitzplätze belegt.
Erst am Ende des Zuges fand sie noch einen Sitzplatz. Sie sah aus dem Fenster, und als der Zug die Grenze passierte, sie wusste nicht, dass es die Grenze war, wurde es lauter im Zug. Die jungen Leute waren zu Hause, sie lachten jetzt und Scherze flogen hin und her.
Landschaft, ein paar Berge, nichts als Grün vor dem Fenster, es flog vorbei. Einmal, als sie Prag schon nähergekommen waren, der Zug fuhr durch einen Vorort, glaubte sie ein Haus wiederzuerkennen, sie konnte den Blick nicht losreißen. Es war ein Blick in die Kindheit, die behütete Kindheit, das Wohlleben. Wäre nur das Ende nicht gewesen.
An das Ende konnte sie sich kaum erinnern. Die Mutter sagte, sie hätten flüchten müssen, sonst hätte man sie alle, die Deutschen, totgeschlagen. Woran sie sich erinnern konnte, war, dass sie sehr lange laufen musste, an der Hand der Mutter. Das war alles. In Dresden waren sie dann gestrandet.
Jahrzehntelang lang, nach dem Tod der Mutter, hatte sie nicht mehr an Prag gedacht. Einmal aber, es war kurz vor dem Ende der DDR gewesen, war ihre Brigade zu einem Ausflug nach Prag gefahren, kostenlos, die Gewerkschaft hatte Fahrt und Übernachtung bezahlt. Sie hatte sich herausgeredet. Der Junge, er studierte noch, sie könne ihn nicht allein lassen. Als die Kollegen dann zurückkamen, wollte sie nichts hören von Prag. Dass sie Sudetendeutsche war, verriet sie niemanden, auch hatte sie den böhmischen Tonfall recht schnell verloren, schon in der Schulzeit. Der Vater war gefallen, und die Mutter hatte sich mit ihr durchschlagen müssen, und jedes dritte Wort war Prag gewesen. Die Mutter wollte bis zum Schluss nicht begreifen, dass ihre Heimat jetzt Dresden hieß.
Das Haus in der Stabenovgasse gehörte ihr, sie war die Erbin. Sie hatte es schriftlich, den Grundbuchauszug. Dort stand es: Ewald Wippke, eingetragen am 31. Juli 1942.
Der Bahnhofslautsprecher rief die Station aus: Praha. Mehr verstand sie nicht, sie sprach kein Tschechisch. Sie nahm einen Bus, er fuhr hinauf nach Smichov. Es war eine mehrstöckige Villa im Jugendstil. An der Rezeption wurde deutsch gesprochen, doch der Mann hinter dem Tresen war unfreundlich. Wortlos führte er sie hinauf in ihr Zimmer, unter dem Dach. Das Zimmer hatte runde Fenster. Sie öffnete eines. Prag - die Stadt lag ihr zu Füßen.
Die Kindheit war wieder da. Das Haus, es hatte zwei Etagen, es war schmal gewesen, eingezwängt zwischen andere schmale Häuser in der Altstadt. Sie wusste, wo sie es von hier oben suchen müsse. Aber dann schloss sie das Fenster. Morgen, dachte sie, morgen ist auch noch ein Tag.
Am nächsten Morgen fuhr sie mit dem Bus nach Prag hinein. Sie musste die Metro nehmen, um zur Altstadt zu gelangen. Sie kannte sich nicht aus. Erst als sie vor dem Rathaus stand, die Touristen sah, die ah und oh riefen, als sich das Turmwerk in Bewegung setzte, und als sie in den Stadtplan sah, lief sie los, zur Stabenovgasse.
Die Straße hatte sich verändert. Sie glaubte zu wissen, dass es im Eckhaus ein kleines Restaurant gegeben hatte. Sie fand es nicht. Fachwerkhäuser, rechts und links, zwei Lücken wie Zahnlücken im Straßengebiss. Sie konnte die Schilder nicht lesen, eine Baufirma wollte dort bauen.
Das Haus stand noch, es war restauriert, das sonnenbeschienene Weiß des Fachwerks ließ die Augen schmerzen, das Haus war bewohnt. Sie las die Namen am Klingelschild: tschechische Namen. Sie wusste nicht mehr, welches ihr Fenster gewesen war. Sie stand am ausgetretenen Stein vor der schmalen Eingangstür, einen Fuß auf dem Stein, und sah hoch. Hinter allen Fenstern Gardinen. Sie trat ein paar Schritt zurück, damit sie das Haus im Ganzen aufs Bild bekäme. Ein Mann blieb stehen und beobachtete, wie sie es fotografierte. Er sagte nichts, bevor er weiterging.
Wenn sie jetzt auf einen Klingelknopf drücken würde und sagen, das Haus gehöre ihr – was würde geschehen? Dann würde geschehen, was sie schon einmal erlebt hatte, nur umgekehrt. Damals hatten sie in Dresden vor ihrem Haus gestanden, zwei Brüder im mittleren Alter, Erben eines gottvergessenen Besitzers. Der Junge war zu jung gewesen, um etwas dagegen zu unternehmen, das Wortgeplänkel richtete nichts aus. Sie wusste nicht, was tun, und sie war mit ihm ausgezogen, hinaus aus Dresden, in eine kleine Wohnung. Aber das schmerzliche Gefühl, dass sie an jenem Tag nicht nur ihre Kindheit, sondern ihr ganzes Leben aufgeben musste, das war geblieben.
Sie warf noch einen Blick auf das Haus, als sie langsam durch die Stabenovgasse zurückging. Die Kamera über der Schulter, eine vermeintliche Touristin, schlenderte sie den Rest des Tages durch die Altstadtgassen. Vom Wenzelsplatz hatte sie gehört und auch öfter Bilder von ihm im Fernsehen gesehen. Der Platz war belebt von Touristen. In einem Schnellrestaurant verschlang sie eine Wurst mit Pommes.
Abends war sie wieder in Smichov. Sie bezahlte das Hotelzimmer, am nächsten Morgen würde sie abreisen, erklärte sie dem Unfreundlichen hinter dem Tresen. Sie glaubte, so etwas wie Zufriedenheit in seinem Gesicht gelesen zu haben.
Die Aufnahme würde nicht sehr gut sein, sie hatte sich die Kompaktkamera von einer Freundin geliehen, sie fotografierte nie. Aber sie würde sich das Foto einrahmen und auf die Anrichte stellen, zu den Familienbildern, neben das Bild des Vaters in seiner Uniform, das sie wieder hervorgeholt hatte, erst neunzig, nach der Wende, wie diese Zeit heute genannt wurde. Sie würde nicht wissen, weshalb sie das täte, aber sie würde es tun. Es gehörte sich so.