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Daß wir es nicht sehen, bedeutet nicht, daß es nicht da ist.
Es war dunkel im Raum und still. Nur das Feuer im Kamin knisterte und malte zuckende Muster in den Raum. Nicole hatte es sich in dem schweren, ledernen Sessel gemütlich gemacht, die Beine zu sich herangezogen und sie mit den Armen umschlungen. Um die Schultern hatte sie sich eine Decke gelegt. Tom saß in dem zweiten Sessel neben Nicole. Beide beobachteten wie hypnotisiert die Flammen, wie sie sich langsam in die Holzscheite fraßen. Sie genossen diese Ruhe, weitab von der Stadt, ein kleines Haus in der Wildnis, abschalten und die Seele baumeln lassen.
Ihre Unterhaltung war schon vor Minuten eingeschlafen und sie hatten sich vollkommen dieser Behaglichkeit ergeben.
Ohne aufzuschauen ergriff Nicole wieder das Wort: „Könntest du dir vorstellen, hier immer zu wohnen?“
Tom überlegte einige Sekunden bis er antwortete. „Ja, das könnte ich mir sehr gut vorstellen.“ Er nahm sein Glas mit dem Rotwein von dem kleinen Beistelltisch und drehte es nachdenklich in den Händen. „Aber für dich wäre das hier nichts. Eine Woche, nur wir zwei, das schon. Aber dann würdest du wieder fort wollen.“
„Ich liebe die Natur und die Stille. Also, warum sollte ich wieder fort wollen?“
Tom nahm einen Schluck und ließ den Wein auf der Zunge wirken. „Natürlich liebst du die Natur. Aber, bist du sicher, daß die Natur dich liebt? Dich hier liebt?“ Seine Stimme klang seltsam ruhig und schwer. „Jeder hat seinen Platz und deiner ist sicher nicht hier. Du würdest nicht die bleiben, die du jetzt bist.“ Leise und fast wie zu sich selbst, ergänzte er: „Niemand bleibt hier der, der er war, bevor er kam.“
Nicole zuckte kurz zusammen, als im Kamin unter lautem Knacken ein Holzscheit in der Hitze zerbarst, die Flammen kurz aufloderten und ihre Gesichter in rotem Widerschein erglühten. Dann wandte sie sich Tom zu. Was redete er da? So ruhig, wie er sprach und diese seltsame Betonung. Wollte er ihr Angst machen, ein lächerliches kindisches Spiel mit ihr treiben? Sie hatte nicht vor, sich weiter darauf einzulassen. „Das ist Unsinn. Ich bin ich und daran wird sich auch so schnell nichts ändern“, sagte sie bestimmt, lehnte sich wieder in ihren Sessel zurück und genoß die Wärme des Feuers. Damit war für sie das Thema abgeschlossen und sie bereute, es überhaupt angeschnitten zu haben.
Doch nach einer Weile fuhr Tom mit diesem seltsamen Klang in der Stimme fort. „Du kennst hier die Schatten nicht. Du würdest dich fürchten, wegen Allem.“
Nicole war genervt. „Du kannst mir keine Angst machen und sonst auch keiner, der hier irgendwelche Schatten wirft.“ Wie ein trotziges Kind verschränkte sie die Arme, setzte sich etwas aufrechter. Sie konzentrierte sich wieder auf die prasselnde Glut, aus der sich die Flammen aufbäumten, immer dann, wenn draußen ein leichter Windstoß gegen das Haus strich und an Türen und Läden rüttelte. Sie wußte, daß Tom es manchmal liebte, andere Leute zu provozieren. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er sein Glas hochhielt und durch den Wein das Feuer betrachtete. Durch die Flüssigkeit brachen sich die Strahlen des Lichtes und für Sekunden schien sich Toms Gesicht zu verändern.
„Du würdest hier keine zwei Tage allein verbringen.“ Er schien Gefallen an dem Thema zu finden. „Die Angst würde dich in kürzester Zeit in den Wahnsinn treiben, mag sie begründet sein oder nicht.“
Nicole war stolz und selbstbewußt. Weder weinte sie im Kino, noch hielt sie sich bei Gruselfilmen ängstlich an Kissen fest. Trotzdem wurde ihr von Minute zu Minute unwohler. Sie achtete mittlerweile auf jedes Geräusch. Der zunehmende Wind rüttelte leicht aber stetig an den Fenstern.
Draußen war es schon seit Stunden dunkel. Sie hatten die Läden geschlossen, aber an einer Stelle fehlte ein Brett und so konnte sie deutlich den schwarzen Himmel erkennen, an dem die riesige Zahl der Sterne weiß funkelte. Hin und wieder wurde der Mond von schnell vorübertreibenden Wolken verdeckt, und es schien als hüllte ein riesiger Schatten für Sekunden die Welt ein. Nicole versuchte rational zu denken. „Das einzige Problem wäre, daß es hier keinen Internetanschluß gibt, sonst würde ich wohl kaum etwas vermissen.“
„Du würdest als erstes deine Sicherheit vermissen.“ Das Schlimmste war Toms ruhige, getragene Stimme. „Du würdest hier sehr schnell an Dinge glauben, über die du jetzt vielleicht noch lachen kannst.“ Tom sah mit ernster Miene zu ihr herüber. „Es sind die alltäglichen Geräusche. Ein leises Knacken in den Balken und du weißt nicht, woher es kommt.“ Wie zur Bestätigung war von draußen ein Klappern und Rauschen zu hören. Der Wind schien ständig stärker zu werden. Durch eine Böe bewegten sich ganz leicht die Vorhänge, und die Flammen wurden noch unruhiger. Das Holz schien sich durch Zischen und Knacken gegen den Feuertod wehren zu wollen.
„ Du weißt genau, daß es der Wind ist, der draußen in den Bäumen rauscht und sich anhört wie ein Flüstern. Aber ist es wirklich nur der Wind, oder noch etwas ganz anderes? Vielleicht sind es Stimmen, woher auch immer.“ Im Holz explodierten kleine Gasblasen, und Funken stoben in der Glut. Zischend wurden die Flammen erneut größer.
Nicole wurde unruhiger, ihr Herzschlag schneller, und ihre Aufmerksamkeit wechselte von Toms ruhiger, beängstigender Stimme zu den Geräuschen, die in einer von ihr nie wahrgenommenen Vielfalt auf sie einstürmten. Und das Schlimmste war, daß sie nun auch jedes leise Ächzen der alten Balken im Haus überdeutlich wahrnahm. „Für alles gibt es eine Erklärung.“ Sagte sie trotzig und etwas zu laut.
Auf Toms Gesicht zeigte sich der leichte Anflug eines überlegenen Lächelns. „Du hast recht. Aber wer sagt, daß wir diese Erklärung ertragen würden?“
In diesem Moment gab es ein leises, knackendes Geräusch hinter ihnen im Raum, und Nicole verspürte den starken Drang, sich umzusehen, aber sie tat es nicht.
Ein weiteres Knacken ließ Nicole zusammenfahren. Sie hoffte, daß Tom davon nichts mitbekommen hatte.
„Hast du dieses Geräusch eben gehört?“ Er hob bedeutsam die Hand. „Woher kam das?“ fragte er. „Dein Verstand sagt dir, daß es normal ist, wenn Holz arbeitet, sich die Temperaturen ändern und es unter Spannung steht. Aber war es das? Das Geräusch war hinter uns in der Dunkelheit, irgendwo in den Schatten und ich behaupte, wir werden es nicht aus unserem Bewußtsein verdrängen können, selbst wenn wir nachgesehen haben und feststellen, daß dort wirklich nichts ist. Aber, daß wir es nicht sehen, bedeutet nicht, daß es nicht da ist.“
Und er hatte recht. Nicole spürte genau das Gefühl, das Tom beschrieben hatte und je mehr sie versuchte, an andere Dinge zu denken, desto stärker wurde der Eindruck, von hinten beobachtet zu werden. Zwei Augen, die aus der Dunkelheit zu ihr herüberblickten. Ein Wesen ohne Konturen. Sie versuchte, sich zusammenzureißen. Tom würde keinen Erfolg haben, mit diesen idiotischen Spiel, jedenfalls nicht so, daß er es ihr anmerken würde. „Du redest Unsinn und das weißt du. Ich kann über deine Phantasien nur lachen.“
Der Wind strich wieder stärker ums Haus und die Fensterläden quietschten leise in den Angeln. Sie spürte den fremden Blick kalt zwischen den Schulterblättern.
Das Holz im Kamin war schon ein wenig heruntergebrannt und Tom nahm zwei neue Scheite und legte sie in die Glut. Qualmfäden zogen wie geisterhafte Hände auf und verschwanden im Schornstein.
Urplötzlich flammte das Feuer wieder auf, nahm die Nahrung an und schloß sich um das zischend protestierende Holz. Tom streckte behaglich die Beine aus. Durch die größer werdenden Flammen wurde das Lichtspiel im Raum intensiver. Licht und Schatten tanzten über die Wände und der Wind spielte seine Melodie dazu.
Auch Nicole nahm ihre Füße von der Sitzfläche des Sessels. Sie wollte es sich nicht eingestehen, aber so fühlte sie sich sicherer. Vielleicht, weil sie so für eine Flucht besser bereit war? Unsinn! Eine Flucht? Vor was? Im Nacken spürte sie ein Gefühl von Berührung. Sie zog an der Decke, aber das Gefühl blieb. Welche Berührung? Wovon?...Oder von Was?
Sie stützte ihre Ellenbogen auf die Knie und beobachtete die Flammen. Eine Berührung spürte sie jetzt nicht mehr, wohl aber das Gefühl, als ob eine Hand ganz dicht über ihrem Rücken gehalten wurde. Eine Gänsehaut zog sich über ihren Körper. Sie fühlte genau die Stelle, noch immer zwischen den Schulterblättern. Es war eine Ahnung von Anwesenheit. Schauer, Unwohlsein, oder sogar schleichende Angst? Die Angst war nicht schleichend. Sie war da und Nicole kurz vor einer Panik. Langsam wurde sie wütend, auf Tom und auf sich selbst.
Tom war aufgefallen, daß Nicole nervös geworden war. „Was ist los mit dir? Er neigte sich hinüber und legte ihr seine Hand auf die Schulter.
Sie fuhr herum, schüttelte die Hand ab, als hätte sie einen Stich bekommen und funkelte ihn böse an. „Laß das. Du brauchst mich nicht zu beruhigen, dafür gibt es keinen Grund.“ Tom zog sich wieder zurück und entspannte sich.
Nicole ärgerte sich noch mehr, weil sie sich nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Die Berührung durch Toms Hand hatte sie nicht beruhigt, im Gegenteil. Von dem Moment an rechnete sie ständig damit, wieder angefaßt zu werden, nur, daß es dann nicht Tom sein würde.
Die Stille im Raum war nicht mehr gelöst und erholsam. Es war eine Ruhe, die etwas anzukündigen schien, etwas, das sie beobachtete. Sie belauerte. Etwas, das Zeit hatte und darauf wartete, daß sie ihm direkt in die Arme lief, oder was immer es auch war, mit dem es Nicole packen würde. Sie hatte den kaum bezwingbaren Drang, sich ständig umzudrehen. Doch wenn sie sich nach links wenden würde, konnte es doch rechts hinter ihr sein. Nicole versuchte, ihren Atem unter Kontrolle zu halten und Tom nicht aufmerksam zu machen.
Lange Minuten schwiegen sie. Nicole achtete auf jedes leise Flüstern, ob draußen im Wald oder irgendwo im Haus. Die undichten Fenster ließen den fremden Atem herein, der sachte und kaum merklich ihre Haut streichelte. Nicole rang mit sich, ob sie Tom bitten sollte, mit ihr schlafen zu gehen. Allein würde sie in diesem Haus keinen Schritt gehen. Das Feuer war wieder heruntergebrannt und es wurde etwas frischer. Tom kam ihr zuvor. Er war müde und machte von sich aus den Vorschlag.
Schon wenige Augenblicke, nachdem sie zu Bett gegangen waren, wurden Toms Atemzüge ruhig und Nicole wußte, daß er eingeschlafen war. Er hatte ihr den Rücken zugewendet und für einen kurzen Moment schien es, als würden sich die breiten, roten Linien auf der dunkelblauen Seide seines Schlafanzuges zu geifernden Lippen formen, die sie bei jedem Atemzug angrinsten. Der zarte Glanz des edlen Stoffes verging zu einem Schimmer aus Angst.
Nicole versuchte, diese unsinnigen Vorstellungen zu verdrängen und ebenfalls Ruhe zu finden. Doch sobald sie ihre Augen schloss, tauchten hinter ihren Lidern grauenhafte Zerrbilder auf, die sich ständig veränderten, Fratzen mit aufgerissenen Mäulern, die nach ihr zu schnappen schienen und Augen voller Leid und gleichzeitig tödlicher Gier. Sie starrte ins Leere und hoffte, daß die Erschöpfung ihr bald gnädig half, in einen traumlosen Schlaf zu fallen.
Durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden drang Mondlicht herein, das auf den Wänden bizarre Formen zeichnete. Eine Wolke zog am Himmel dahin und wechselte die Schatten an den Möbeln von grau zu schwarz.
Nicole wußte das, doch in ihr klangen noch Toms Worte nach und so hatte für sie alles eine doppelte Bedeutung. Neben dem Realen sollte da noch etwas Anderes sein, keine leeren, harmlosen Bereiche, in die lediglich kein Licht eindrang, sondern womöglich eine andere, bedrohliche Welt darin, die sie nicht sah, die aber dennoch da war.
Daß wir es nicht sehen, bedeutet nicht, daß es nicht da ist.
Nicole begann zu frösteln und zog die Bettdecke höher. Wohl Stunden vergingen. Sie war müde, todmüde. An Stelle einer erholsamen Ruhe schienen ihre Sinne nur noch schärfer zu werden. Die körperliche Erschöpfung ging einher mit einer klareren Wahrnehmung für Dinge, für die sie normalerweise nicht empfänglich war.
Sie lauschte auf jedes Geräusch, jedes Knacken und Scharren brachte ihr neues Erkennen. Der Wind hatte sich nicht gelegt und so rüttelte er weiter an den Fensterläden.
War es der Wind?
Aus der Ferne waren hin und wieder Stimmen zu hören, die wie Klagen und Flehen gegeißelter Kreaturen klangen. Todmüde! Sie kicherte leise über das Wortspiel, und das Kichern ging gleich in ein verzweifeltes Gurren über, und die Angst überzog ihren Körper mit Kälte und Schweiß.Sie durfte nicht schlafen. Schlaf bedeutete ausgeliefert sein, ausgeliefert sein bedeutete Tod.
Sie wartete auf den Tag. Erst das Licht der Sonne würde Schutz bringen. Aber welchen Schutz?
Daß wir es nicht sehen, bedeutet nicht, daß es nicht da ist.
Ein Geräusch alarmierte ihre Sinne. Ein Geräusch, das eindeutig seinen Ursprung im Haus hatte. Es war ein Schlagen, ein lautes Schlagen, das aus dem unteren Geschoß kam, von dort, wo sie am Abend noch mit Tom gesessen hatte. Wußte Tom etwas? Wieso hatte sie nicht früher schon auf diese Dinge geachtet? Wieder das Geräusch. Es war ein Knacken, aber eben doch sehr laut.
Nicole war für einen Moment versucht, Tom zu wecken, ließ es dann aber bleiben.
Was würde das bringen? Tom wußte um diese Dinge und schlief trotzdem. Er würde keine Hilfe sein.
Nicole warf die Bettdecke zurück und stand auf. Ihr Herz raste und das Nachthemd klebte schweißnaß an ihrem Körper. Für einen Moment stand sie unschlüssig da und hatte nur noch Angst. Sie fühlte sich bedroht. Plötzlich war dieses Gefühl wieder da. Sie spürte Blicke, Blicke von Augen, die sie nicht sah, hinter sich. Sie wirbelte herum. Ein Schatten. Der Schatten vom Schrank. Ein Loch im Licht, das irgendwohin führte.
Sie wollte raus aus diesem Zimmer, weg von dem Loch im Licht.
Nicole riß die Zimmertür auf, stürmte die Treppe hinunter und blieb am Fuß der letzten Stufe urplötzlich stehen. Auch hier waren Schatten und sie war kopflos hineingerannt. Sie fuhr herum, sah hinter sich, beobachtete. Sie war schutzlos, brauchte eine Waffe.
Vorsichtig, nach allen Seiten sichernd, tastete sie sich in das Kaminzimmer vor. Sie warf die Tür auf. Das Blatt schlug hart gegen die Wand. Dahinter war nichts.
Im Kamin glomm es noch immer, rote Augen der Hölle. Wieder ein Knacken. Ein verkohltes Stück Holz platzte auseinander. Glühende Augen stoben auf. Nicht noch mehr Augen!
Nicole riß den Feuerhaken an sich und hieb mit wütenden Schlägen in die Glut. Funken sprühten. Sie stürzte sich auf die Schatten. Wilde Schläge in die Schwärze. Holz splitterte und brach. Unbarmherzige Attacken auf die Löcher im Licht. Jedes Wesen, das daraus hervorkriechen wollte, würde mit dem Eisen belohnt. Laut brüllend führte sie ihren Kampf gegen das Unsichtbare, das da war, auch wenn sie es nicht sah.
Ein neues Geräusch und eine Bewegung im Schatten ließen sie herumwirbeln. Der Feuerhaken folgte und führte wie von selbst den Kampf weiter. Schwere Hiebe, die immer und immer wieder trafen.
Erst nach langen Sekunden hielt sie inne und lauschte. Es war still im Haus. Von außen war ein Rappeln, Rauschen und Pfeifen zu hören. Sie sprachen mit dem Wind. Sollten sie kommen. Wieder kicherte sie leise.
Sie sah vor sich auf den Boden. Entstellt lag das Wesen da. Über und über rot, die Farbe der Hölle. Vereinzelt war noch das dunkle Blau der Seide zu erkennen. Das geifernde Grinsen der roten Linien darauf war gestorben. Der edle Stoff war matt.
Jetzt waren auch die Schatten wieder da. Sie tanzten um sie her, geschaffen von neuen glühenden Augen, die sich um den Kamin versammelt hatten, mehr wurden und größer. Gierig leckten sie an den Möbeln
Sollten sie doch kommen.