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Da geht er, der Peter
Peter Seibolt geht nur einkaufen, wenn es sich nicht länger vermeiden lässt. Zum Beispiel weil er fast am Verhungern ist oder dringend Scheibenenteiser braucht. Genau genommen hasst er es sogar. Er hasst es so sehr wie Arztbesuche. Immer wenn Peter Seibolt wegen eines Routine-Check-Ups zum Arzt geht, kommt er mit einer neuen Krankheit zurück. Sein Hausarzt, ein an sich liebenswerter Nachwuchsmediziner, spielt die bedrohlichen Leiden gern herunter. „Das ist nichts. Muss so. In Ihrem Alter ist das normal. ….Meistens.“ Dann fühlt sich Herr Seibolt sehr viel älter, als er wirklich ist. Später zeigt der Arzt mit dem Finger auf den Bildschirm des Ultraschallgerätes und murmelt etwas in der Art: „Aber das da, das behalten wir mal lieber im Auge. Sie wollen doch noch ein paar Jahre so fit bleiben.“
Dann fragt sich Herr Seibolt, wie er in ein paar Jahren aus dem Bett, geschweige denn ins Auto kommen soll, denn er fühlt sich gar nicht so fit wie sein Arzt meint. Besagter Bildschirm sieht aus wie ein Monitor vom Hubble Teleskop mit einer Aufnahmen von den Tiefen des Universums. Mehr kann Herr Seibolt nicht erkennen. Das liegt aber nicht an seinen Augen, denn schlecht sehen kann er gut. Wenn der Arzt ihm gesagt hätte, dies wäre die Aufnahme seines ungeborenen Kindes, er hätte es hinnehmen müssen. Als Patient muss man eben glauben, was die Ärzte sagen. Am Ende der Untersuchung bekommt Herr Seibolt wie immer ein Rezept für ein neues Medikament zum Ausprobieren und einen Termin für das nächste Quartal.
Die nächste Apotheke befindet sich im riesigen Einkaufstempel, den Herr Seibolt gern mit dem Vorhof zur Hölle vergleicht. Da er sich schon seit einigen Tagen mit starken Zahnschmerzen herumschlägt, geht er freiwillig zur Apotheke. Sein Gesicht ist schon etwas angeschwollen und er hätte jetzt wirklich gern ein paar Schmerztabletten.
Um ins Innere des Konsumentenverschlingers zu gelangen, muss Herr Seibolt ziemlich lange die Luft anhalten, wofür er täglich trainiert. Er fühlt sich dann manchmal so jung und sportlich wie ein Apnoe-Taucher. Vor dem Haupteingang hat sich meist eine illustre Truppe aus Alkohol-, Nikotin- und Handyabhängigen versammelt. Vorzugsweise mit Hund oder Kind an der Leine. Sie tauschen sich über das aktuelle Politbarometer aus, was aber keiner versteht, da meist nur noch ein undeutliches Brabbeln zustande kommt. Die riesige Qualmwolke aus Abgasen von selbstgedrehten Zigaretten ist zäh und hartnäckig wie der „Blob“. Im Gegensatz zu diesem Science Fiction Monster ist der Qualm aber sehr real und zieht trotz Luft- und Menschenstrom niemals ab. Als Nichtraucher mit Pseudokrupp, muss Herr Seibolt also mit angehaltenem Atem durch die Menschentraube, immer in Angst vor Hindernissen, einem Rollator beispielsweise oder einem Zwillingskinderwagen, die ihm den Weg versperren könnten.
Einem Nebelhorn gleich führt ihn die Schnäppchenansage ins helle Innere des MegaStores. „Diese Woche im Angebot – drei Packungen Pfiff, das sanfte Abführmittel, zum Preis von zwei.“ Herr Seibolt bedauert die armen Menschen, die drei Packungen Pfiff nötig haben.
Am Leergutautomaten möchte er, der Umwelt zuliebe, seine fünf PET Flaschen gegen einen Pfandbon tauschen. Er sieht sich aber am Ende einer Schlange, die einer menschlichen Absperrkette ähnlich, quer durch die Vorhalle schlängelt. Die Automaten sind ausgefallen. Das waren sicher wieder die Russen mit Ihren Computerviren.
Zwei überforderte Azubis nehmen das kostbare Leergut von Hand an, was die ganze Sache überhaupt nicht beschleunigt.
Herr Seibolt hat leider seinen Lieblingskrimi nicht dabei, weshalb er sich die Zeit mit Kopfschütteln und dem Ausdenken von Flüchen vertreiben muss. Drei Kunden vor ihm haben nicht nur ihren Einkaufswagen übervoll mit Flaschen und Büchsen beladen, sondern auch noch befüllte Tüten und Rucksäcke dabei. Anscheinend ist ausgerechnet heute der Tag, an dem ausgenüchtert wird.
Nachdem er endlich sein Pfand bekommen hat, will er schnell alles erledigen und wieder zurück ins Freie. Da trifft er auf ein weiteres Exemplar seiner Art, welches ihn, auch noch für den letzten Kunden hörbar begrüßt, „Da geht er, der Peter“. Er schüttelt überschwänglich Herrn Seibolts Hand, sodass dem alle Gelenke knacken. „Mensch Peter, was machst du denn hier?“
Was für eine selten dämliche Frage, sagt sich der Peter. „Peter, altes Haus, wir haben uns ja schon ewig nicht mehr gesehen.“ Gott sei Dank, denk sich der Peter.
Der übermäßig geschwätzige Mensch, dessen Namen der Peter vergessen hat, erzählt von seinen letzten drei Mallorca Urlauben, dem neuen Auto und den Krankheiten seiner Frau. Er schaut in Peters geschwollenes Gesicht und meint dazu, „Bisschen dicker geworden bist du. Naja, das geht uns allen so.“
„Ich muss jetzt aber weiter“, versucht der Peter einzuwenden. Bevor er jedoch wieder in die Freiheit entlassen wird, muss er sich noch über das neue Handy aufklären lassen und wie gut das alles funktioniert und das sie sich doch jetzt auch über WhattsApp anstubsen können. Dann höre man wieder öfter voneinander.
Das hat dem Peter gerade noch gefehlt. Nicht umsonst hat er eine Rufnummerunterdrückung in seinem Festnetztelefon.
In der Obstabteilung gilt es eine druckfeste Gurke zu finden. Zur Auswahl stehen Biogurken aus Spanien und eingeschweißte „Frisch-Gurken“ ohne Herkunftsangabe, wahrscheinlich aus Nimmerland. Die Biogurken wirken wie schrumpelige, getrocknete Giraffenpenisse. Irgendein Veggi-Schönheitschirurg hat in einige Exemplare eine winzige Menge Botox oder sehr, sehr viel Wasser gespritzt. So entstanden die eingeschweißten „Frisch-Gurken“. Bei denen sind aber beide Enden weich wie nasses Weißbrot und riechen ein bisschen nach Babykotze. Er beschließt, auf den vitaminarmen Hochgenuss für dieses Mal zu verzichten. Drei Kinder undefinierbarer Herkunft essen sich mit Weintrauben satt und spucken die Kerne zurück in die Regale. Herr Seibolt verschluckt sich daraufhin an seiner Weintraube, die er zur Probe verkostet hat. Da kracht ein ungebremster Einkaufswagen in seinen Rücken.
„Eh Alter, mach doch mal die Augen auf.“
Sprachlos und mit schmerzendem Rücken wankt Herr Seibolt in die Presseabteilung. Die Tageszeitung ist natürlich schon ausverkauft. Vier Herren stehen vor dem Regal mit Männermagazinen und sind mit gesenkten Köpfen sehr vertieft in ihre Lektüre.
Er schlängelt sich an den Herren vorbei und fühlt sich wie in der Warteschlange eines Schmuddelkinos. Im letzten Moment erkennt er im vierten, im Studium der aufklärerischen Lektüre vertieften Herrn, den immer stänkernden Mieter aus der zweiten Etage, der meist schon um sechszehn Uhr die Haustür abschließt. "Guten Tag", plärrt er ihm direkt ins Ohr. Der so unsanft Angesprochene erschrickt dermaßen, dass er das "Tätowierte Jungfrauen" Heft fallen lässt und sehr kurz angebunden antwortet, "Ähm. Gutan Tag, ja, ich habe leider keine Zeit". Er schlägt seinen Mantelkragen hoch und verschwindet zwischen den Regalen mit Backzutaten. Herr Seibolt hebt die Zeitschrift auf, um sie ins Regal zu legen, als die Frau des eben Vertriebenen auftaucht. Sie sieht die Zeitschrift und Herrn Seibolt an. Dann blickt sie sich um als ob sie verfolgt würde und schüttelt entrüstet den Kopf. Ein zischendes Geräusch zwischen ihren
vertrockneten Lippen hervorstoßend, verschwindet sie um ihren immer auf der Flucht befindlichen Gatten zu suchen. Herr Seibolt verspürt ein seltenes, ja gar seltsames Gefühl von Scham und wirft wütend die Zeitschrift ins Regal. Dies löst eine Lawine von herabstürzenden Brüsten aus, die ein bereits am Boden liegendes Mickey Maus Heft unter sich begraben. Herr Seibolt kann aber keine erste Hilfe leisten, egal ob Mickey Maus das überhaupt gewollt hätte, denn er hat bereits fluchtartig die Unglücksstelle verlassen.
Zu seiner Erleichterung befindet sich die Tiefkühlabteilung nicht weit entfernt. Leider gibt es die Pizza „Vier Käse von der Frühlingsalm“ nur als Fünfer-Familien-Pack. Davon ganz abgesehen, dass dieses Paket gar nicht in das Tiefkühlfach von Herrn Seibolts Kühlschrank passt, wäre ein bisschen Abwechslung dann doch nicht übel. Fünf Wochen Frühlingspizza hintereinander lässt den Winter auch nicht früher enden.
Jetzt muss er eigentlich nur noch Milch besorgen. Im Gang zu den Milchprodukten lauern aber die Verkoster und Abo-Fritzen. Nein, er möchte keinen kleinen Probierspieß mit polnischer Plockwurst und auch keinen Plastikfingerhut, gefüllt mit dem neuen Energy Drink „Throttle Bottle“, verkosten. Auch einen neuen Mobilfunkvertrag mit neunundneunzig Monaten Laufzeit sucht er nicht. Dafür interessiert ihn ein Werbestand der lokalen Tageszeitung. Gleich zwei große Stapel der heutigen Ausgabe liegen hinter dem mobilen Papptresen. Gerade als Herr Seibolt den bedauernswerten Teilzeitdrücker darauf hinweisen möchte, dass eben seine angebotene Zeitung hier ausverkauft ist, bekommt er ein zusammengerolltes Exemplar nebst Anmeldung für das Abo in die Hand gedrückt. Das ist ja ein Service, denkt er sich und gelangt endlich zum Milchregal. Heute gibt es leider noch die Milch mit 0,1 Prozent Fettgehalt. „Gut“, denkt er sich, „dann ist das Wasser aus der Leitung ja günstiger“, und steuert auf den Kassenbereich zu.
Vor ihm werden drei Männer abkassiert, von denen Herr Seibolt meint, sie schon mal im Tatort oder Polizeiruf gesehen zu haben. Ganz offensichtlich haben zwei der Individuen, Spirituosenflaschen unter ihren Lederjäckchen versteckt. Auf dem Laufband liegt lediglich eine Tafel Schokolade. Irritiert sieht Herr Seibolt zu, wie die Kassiererin die Schokolade über den Scanner zieht und neunundachtzig Cent verlangt. Er hustet gekünstelt und nickt mit dem Kopf in Richtung der Ganoven. Einige Leute aus der Nachbarschlange sehen ihn verwundert an. Die Männer sind weg und er ist an der Reihe. Er möchte noch schnell auf das eben geschehene bargeldlose Einkaufen hinweisen, als die Kassiererin ihn anraunzt. „Ich würde gern mal ihren Beutel sehen!“
Herr Seibolt realisiert erst gar nicht, was die Dame von ihm will. Was erlaubt sich diese unterqualifizierte Aushilfskraft. Verstört schaut er sie an. „Ja nun machen Sie bitte keinen Ärger. Die Schlange ist schon lang genug.“ Sie zeigt auf seinen Leinenbeutel, in dem die leeren Flaschen waren und sich momentan nur noch ein Apfel befindet, den er als Wegzehrung von zu Hause mitgenommen hat. Herr Seibolt steht regungslos vor der Kasse und kann gar nicht glauben, was ihm gerade passiert. Er muss erst einmal tief Luft holen. Die Kassiererin greift sich seinen Beutel, schaut hinein und holt den Apfel heraus. „Dachte ich es mir doch.“
Sie sieht ihn voller Abscheu, gefolgt von einem mitleidigen Blick, an. Herr Seibolts vom Zahnschmerz verzerrtes Gesicht sieht ein bisschen so aus, als ob er verprügelt worden wäre. Es ist merkwürdig still geworden im Kassenbereich. „Das ist ja eine Frechheit sondergleichen“, sagt er. Ganz offensichtlich versteht aber nur er selbst sein Gebrabbel. Durch seine zahnbedingten Einschränkungen im Gebrauch von Kiefer und Zunge ist für alle Anwesenden nur ein feuchtes Zischeln zu vernehmen. „Ach herrjeh, auch noch besoffen“, stöhnt die Kassiererin. Irgendwie bedauert sie den alten Vagabunden wohl doch ein wenig. „Na ich will mal nicht so sein. Sonst kommen wir ja hier überhaupt nicht vorwärts. Gehen Sie sich mal ausschlafen.“
Das Band rollt weiter und die nächste Kundin schiebt, sichtlich angewidert, mit ihrem Einkaufswagen Herrn Seibolt weiter.
Den Rückweg absolviert Herr Seibolt wie in Trance. Er kann sich gar nicht erklären, was da abgelaufen ist. Zu Hause angekommen, möchte er dem Rat der Kassiererin folgen und ein wenig schlafen. Dabei stören ihn aber die Zahnschmerzen und er bemerkt, dass er in dem ganzen Tohuwabohu leider versäumt hat, in die Apotheke zu gehen.