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Da waren drei Kinder

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28.06.2003
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Da waren drei Kinder

Da waren drei Kinder
Eine stille Geschichte (1996)

Da waren drei Kinder. Sie lebten in einem wunderschönen Land mit hohen, schneebedeckten Bergen und saftigen Wiesen in den Tälern. Sie waren ohne Eltern aufgewachsen, in den Wäldern, wild. Sie beschützten einander. Sie lebten in einer Höhle. Sie waren von Herzen gut. Sie hatten keine Sprache.
Niemandem waren sie bekannt. Nur Einem. Der auf sie achtete. Der sie heranwachsen ließ. Der gab, was sie zum Leben brauchten.
Das Essen war wichtig, das Trinken. Die Gefahr zu bannen. Sich zu schützen, vor der Wildnis, vor der Kälte. Sie kannten die Angst und das Schreien. Sie kannten das Zittern. Sie kannten auch die Freude, das Lachen, den Übermut.
In der Nacht rückten sie eng zusammen. Am Tag durchstreiften sie das Land. Sie hatten ein altes, verfallenes Gehöft entdeckt. Es war schon vor Jahrzehnten verlassen worden. Vielleicht war es abgebrannt.
Da war der Brunnen. Tief. Schwarz. Man muss hinunter sehen. Man muss etwas hinunter werfen. Man müsste hinein.
Sie tun es, frag mich nicht, wie. Ein Kind nach dem anderen klettert hinab. In die Dunkelheit. Glitschig. Erdig. Steinig. Schlammig. Kalt. Nass.
Schwarz. Man sieht nichts mehr. Nur oben die verwachsene Öffnung.
Da tut sich plötzlich die Tiefe auf. Sie finden keinen Halt. Sie stürzen. Die Erde schluckt den Schrei. Sie fallen in tiefes, kaltes Wasser.
Sie tauchen nicht mehr auf.
Sie werden hinabgezogen. Sie atmen im Wasser. Die Angst verschwindet. Sie wehren sich nicht mehr. Es wird still. Und das Tor öffnet sich. Alles beginnt zu leuchten. Alles ist herrlich. Sie haben ihr Ziel gefunden. Sie sind angekommen ...
Da waren drei Kinder. Niemand hat sie je gekannt.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Frohmut,
ich würde sagen: einige Märchen von den Brüdern Grimm auf vierundzwanzig Zeilen reduziert. So wird es zu einem Kunstwerk der ‚besonderen Art’!

Grüße von Aldebaran!

 

Also der Stil hat mir gefallen. Grade diese abgehackten Sätze drücken ja eine Nebensächlichkeit und nur knappe Beachtung des Zustandes des Brunnens aus und darüber hinnaus die Unveränderlichkeit der Tatsache.
Also stilistisch durchaus gelungen, aber inhaltlich konnte ich keinen philosophischen Gedanken erkennen.

Ich würde die Geschichte so interpretieren, dass es sich bei den Kindern um Geschwister oder Freunde handelt, die ihre Kindheit zusammen verbracht haben und dann erwachsen werden.
Vielleicht Mädchen kennen lernen, den schönen "Schlund" des Lebens eben.
Dann merken sie, dass man auch in der Welt der Erwachsenen leben kann, in diesem Fall das Wasser des Brunnens.
"Niemand hat sie je gekannt" könnte andeuten, dass die Kinheit, aus der die Welt der Erwachsenen unvorstellbar war, nun im Laufe des Lebens in Vergessenheit gerät. Aber wenn das die Interpretation ist, lese ich mir lieber ein Eichendorf gedicht vor. Für eine Kurzgeschichte ist das meiner Meinung nach zu wenig Stoff.

 

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