Damals
Der Motor meines Wagens brummt monoton, fast schon melancholisch vor sich her. Der Regen prasselt auf das Dach, läuft an den Scheiben herunter. In stetigem Tempo fahre ich dem Ende einer Geschichte entgegen, die gar nie angefangen hat. Nie anfangen durfte.
Heute ist der glücklichste Tag ihres Lebens und gleichzeitig mein traurigster. Wie Ying und Yang. Schwarz und Weiss.
Die Ampel wechselt auf Rot. Ungeduldig fahre ich mit den Fingern über das Steuerrad, wünsche mir, dass alles schon vorbei wäre.
Als ich sie vor sieben Jahren zum ersten Mal sah, wusste ich, dass wir uns verstehen würden. Doch nie hätte ich gedacht, welche Bedeutung sie eines Tages für mich haben würde.
Es wird grün und ich trete auf das Gaspedal. Es regnet noch stärker als zuvor.
An die berüchtigte «Liebe des Lebens» glaubte ich nie. Solcher Kitsch war nie mein Ding. Distanziert, objektiv, fast schon kalt. So ging ich durchs Leben. Vom einen Tag lebte ich in den andern, an Frauen und neuen Abenteuern mangelte es mir nie. Jahrelang dachte ich immer, ich wechselte meine Partnerinnen nur so häufig, weil ich es eben konnte. Doch der Grund war sie. Keine war wie sie. Keine brachte mich so sehr zum Lachen, dass ich grunzte. Keine brachte mein Herz so sehr zum Schlagen oder meine Augen so zum Blitzen, wie sie es tat. Ich dachte, dass ich das, was ich für sie fühlte, rasch wiederfinden würde. Wie falsch ich lag, merke ich erst jetzt, in diesem Auto, an diesem regnerischen Tag.
Von Weitem sehe ich das steinerne Gebilde. Hoch auf dem Hügel ragend, schon fast monströs. Die Fenster sehen aus wie Augen, die mich anstarren. Die Türe, wie ein hämisch lachender Mund. Den Klos in meinem Hals schlucke ich herunter, konzentriere mich auf die unebene Strasse vor mir.
Oft brachte sie mich mit ihrem Temperament auch zur Weissglut. Doch meine Liebe für sie liess mich ihr jedes Mal aufs neue verzeihen. Unzertrennlich. Bedingungslos. Unkaputtbar. Mit ihr genoss ich sogar die tristen, wütenden und hoffnungslosen Momente. Mit ihr erst lernte ich, wie es sich anfühlt zu leben.
Jahre vergingen und ich fand hier und da vermeintliche Seelenverwandte, dachte jedes Mal «sie ist die Eine». Doch wanderten meine Gedanken jedes Mal wieder zu ihr.
Über einem Glass Whisky gestand sie mir dann eines Abends, dass sie «damals» Gefühle für mich gehabt habe.
«Damals».
Solch ein relativer Begriff. Wie lange dauerte «damals»? Wieviel bedeutete «damals»? Was ist noch übrig von "damals"?
All das fragte ich mich, doch nicht sie. Sagte ihr nur, dass ich «damals» genauso empfand. Wir lachten bloss und redeten nie wieder darüber.
So verging die Zeit und ehe ich mich versah, befand ich mich in diesem Auto, in dem ich jetzt sitze. Die einzige Frau, die ich jemals aufrichtig und bedingungslos geliebt habe, ist glücklich. Glücklich ohne mich. So glücklich, dass sie beschlossen hat, zu heiraten.
Den Wagen parkiere ich auf dem kiesbegossenen Parkplatz, nehme mir noch einen Moment Zeit. Ich erinnere mich an ein Gespräch, dass wir vor Monaten hatten.
An diesem einen Abend nahmen wir die Musik nur noch als dumpfes Brummen in unseren vom Alkohol betäubten Ohren wahr, als sie sich zu mir in die gemietete Lounge begab. Nippend an etwas Hochprozentigem sah sie mich an, mit ihren rehbraunen Augen. Fast so, als Blicke sie in mich. Ermutigt von dem Whisky in meiner Hand sprach ich an, was mich so manche Nacht wachgehalten hatte:
«Ich frage mich oft, wo wir jetzt wären, hätte sich «damals» jemand von uns was getraut».
Sie schaute mich nur an und für einen Moment vermutete ich, dass sie mich gar nicht gehört hatte, war schon fast froh.
Ihr Gesicht nahm nachdenkliche Züge an. «Wenn du zurückgehen könntest…nach «damals»…» begann sie schliesslich, zögerte und blickte mich unsicher an. «Würdest du was ändern?» Nervös nahm sie einen Schluck aus ihrem Glas.
«Ich würde mir das, was wir beinahe hatten, nicht ein zweites Mal entgehen lassen. Ich würde alles dafür geben, dass es funktioniert. Nichts getan zu haben, ist die einzige Entscheidung in meinem Leben, die ich bereue. Denn immer, wenn ich dich mit ihm sehe freue ich mich zwar, da ich sehe, dass du glücklich bist. Gleichzeitig reisst es mir das Herz heraus, denn das wäre mein Platz gewesen. Den, den er jetzt belegt. Es fühlt sich an, als stünde ich im Regen vor einer Haustür. Einer Tür, die in ein warmes Zuhause führt. In unser Zuhause. Durch das Fenster neben der Tür fällt schwaches Licht und ich höre Menschen lachen und reden, die gemeinsame Zeit geniessen. Aber ich bin nicht dabei. Ich bin zu spät. Niemand vermisst mich. Ich fehle nicht. Mein Platz ist bereits belegt. Ich stehe draussen und spüre wie mir der kalte Regen auf den Kopf prasselt, den Rücken hinunterläuft. Ich friere und es ist meine Schuld, ganz allein meine. Es war ein Fehler, «damals» nicht einfach anzuklopfen, an dieser Tür. Also ja, verdammt, ich würde zurückgehen und alles ändern. Ich würde dir sagen, was ich für dich empfinde und wir würden es versuchen. Ich würde dir die Welt zu Füssen legen und dir jeden einzelnen Stern, den du Nachts so fasziniert am Himmel betrachtest, einzeln zu dir auf die Erde holen. Meine Sterne, mein Universum, fände ich in deinen Augen wieder, denn du wärst meine Welt und ich deine, bis wir zu einer verschmelzen würden, für ewig. Du bist das Teil, dass in mir fehlt, verantwortlich für die klaffende Leere in mir, wenn ich nachts in meinem Bett liege und durch mein Fenster in den Himmel starre, mein Universum dort zu finden versuche, weil du nicht neben mir liegst und ich dir nicht in die Augen blicken kann.»
Doch das sagte ich ihr nicht. Ein innerer Monolog, den sie niemals zu Ohren bekommen würde. Stattdessen sagte ich knapp:
«Nein, ich glaube nicht», raffte mich von meinem Sitz auf und schwankte zur Bar, wo ich mir den zigsten Drink bestellte, in dem ich meine Reue zu ertränken versuchte.
Die Erinnerung vertreibe ich aus meinem Gedächtnis, schnappe mir meine Jacke vom Beifahrersitz und steige aus. Einige andere Gäste sind schon da, als ich die wohl schwersten Schritte meines Lebens gehe. Ich stehe vor dieser grossen Tür, sehe sie lachend in seinem Arm, während mir der kalte Regen auf den Kopf prasselt und den Rücken hinunterläuft.