Danach
Ich war auf Entzug. Ich wurde erzogen, mir wurde entzogen: der Alkohol. Guter, bester Freund in vielen Lebenslagen, im Stehen, Sitzen, Liegen ¬– er war immer dabei.
Sie haben es mir ausgetrieben, sie haben mir gehörig den Kopf gewaschen – und das Hirn. Alkohol ist schlecht für dich, du bist süchtig, eine Süchtige kann nicht selbst entscheiden, wann es genug ist – sprich, eine Süchtige kann Gut und Böse nicht voneinander unterscheiden und will auch kein GENUG, will immer mehr, mehr, mehr, bis der Arzt kommt und der Krankenwagen. Als Betrunkener wird man im Krankenhaus nicht mit Samthandschuhen angefasst, sie benutzen nicht mal welche aus Baumwolle. Als Betrunkener ist man so ziemlich der Letzte in der Hackordnung, denn du hast es ja selbst verschuldet, du wolltest es so, jetzt kannst du die Suppe selbst auslöffeln, obwohl dir schon kotzübel ist, Gönnung, haben wir damals als Kinder gesagt, Gönnung! Noch schlechter werden nur gescheiterte Selbstmörder behandelt.
Am Tag meiner Entlassung kam ich nach Hause und wurde von Stille umfasst, ich war allein, das erste Mal seit dem Entzug, das erste Mal seit zwei Monaten. Jetzt fiel ich in ein Loch, das berühmte Loch; die Wohnung war mein Loch, sie verschlang mich wie eine Fleisch fressende Pflanze, kaute mich ordentlich durch, reicherte mich an mit Einsamkeit und Melancholie und spuckte mich dann und wann aus, damit ich für meinen Körper lebenswichtige Zutaten besorgte, denn sonst ging ich ihr ein und das wollte meine Fleisch fressende Pflanze verhindern, hatte sie doch ihren Spaß mit mir.
Das Schlimmste waren die Abende. Es war einsam ohne Alkohol. Ich hatte meinen Mitbewohner verloren, und wir hatten uns gut verstanden, oh ja.
Jetzt saß ich abends – allein – vor dem Fernseher und trank eine Tasse Kamillentee.
Vieles hatte sich geändert, es gab eine Reihe von Dingen, die man nüchtern unmöglich machen konnte. Ich konnte zum Beispiel nie wieder mit Elvis „Bridge over troubled Water“ grölen oder nachts bei meinem Exfreund anrufen. Das war schon traurig. Aber war es wirklich so endgülitig? Ich dachte darüber nach, mit meinem XXL-Teebecher in der Hand. Ich saß auf dem Sofa und ließ eine Seifenoper laufen. Mir war nach einem Drink, wenigstens ein Glas Rotwein. Ich durfte nicht. Aber ich wollte. Wollte ich wirklich? JA! Rückfällig werden so kurz nach dem Entzug? JA! Ich überlegte, wo ich nachts um elf Alkohol auftreiben konnte. Das Einfachste war der Pizzaservice, Flasche Chianti 9,90 Euro plus eine Alibipizza dazu, das war erschwinglich. Dann musste die Trockenzeit halt eine Pause einlegen, ich tat niemandem weh mit meiner Entscheidung, außer vielleicht meiner toten Mutter, die von oben alles beobachtete und jetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlug.
Ich griff nach dem Telefonhörer. Im selben Moment klingelte das Telefon. Ich ging ran.
„Hallo Ivy“, meldete sich eine Stimme, es war Bea, ein Mädchen aus der Klinik. „Du musst mir helfen.“
„Muss das jetzt sein?“, fragte ich, „Morgen ist auch noch ein Tag!“
„Jetzt“, presste sie hervor, sie war total betrunken, der Alkohol musste ihr schon aus den Ohren wieder rauslaufen. „Ich brauche Geld. Du musst mir 600 Euro leihen, die brauche ich jetzt sofort, sonst schneiden die Stella einen Finger ab.“
Stella war ihre fünfjährige Tochter, ein süßer Engel mit dunkelblonden Locken.
„Wer hat Stella? Gott, sag schon!“
„Ich sollte für die Stoff austragen, der Stoff ist mir aber gestohlen worden, wenn du verstehst, was ich meine. Die haben Stella und wenn ich das Geld nicht auftreibe, schneiden sie Stella die Finger ab, Stück für Stück.“
„Wieso haben die Stella?“
„Ich hab sie als Pfand da gelassen, bis ich das Geld habe“, für sie schien das völlig normal zu sein. „Hilfst du mir?“
Ich dachte an die Kleine. Eigentlich konnte ich Kinder nicht ausstehen.
„Okay, also wo treffen wir uns?“
Das Geld hob ich in meinem Stadtteil ab, ich wollte auf dem Kiez nicht an den Bankautomaten und für alle sichtbar mehrere Hundert Euro abheben.
Ich kam aus der U-Bahn und ließ mich vom Menschenstrom mitziehen, alle wollten zum Kiez, Hamburger, Touristen, Dealer, Jugendgangs, was weiß ich, und ich mittendrin. Nach zehn Minuten stand ich vor dem verabredeten Treffpunkt, der McDonalds Filiale an der Ecke gegenüber der Polizeiwache. Ich hatte mir schon gedacht, dass Bea mich warten lassen würde, und war extra etwas später gekommen, aber immer noch pünktlich. Ich stellte mich neben den Eingang, um die Tür im Auge zu behalten; ein paar der Nutten, die dort auf Freier warteten, guckten mich missbilligend an. Pech. Ich rauchte eine Zigarette und dann noch eine. Ich könnte in den Laden reingehen und mir ein Bier holen, dachte ich. Ich mochte kein Bier. Bier war bitter und kalt. Ich mochte halbtrocken und Zimmertemperatur. Bier und ich, wir kamen nicht zusammen. Da musste ich schon sehr verzweifelt sein. Warten. Ich rauchte noch eine. Seit einer Stunde stand ich da und fror, selbst die Nutten bekamen Mitleid mit mir. Ich rief im Fünf-Minutentakt bei Bea auf dem Handy an, niemand ging ran, klasse.
Dann rief ich bei Bea auf dem Festnetz an. Ein Typ ging ran.
„Hier ist Ivy, ich bin eine Freundin von Bea. Ich habe 600 Euro, die ich ihr geben muss und ich kann sie auf ihrem Handy nicht erreichen.“
„Bea liegt hier und pennt. Wodka und Valium, die krieg ich jetzt nicht wach,“
„Aber ihre Tochter ...“
„Stella? Die Kleine ist hier, den ganzen Abend schon. Was für 600 Euro überhaupt?“
„Danke“, sagte ich müde und legte auf.
So war das, wenn man breit war, die Welt war ein Alptraum. Ich leistete mir von meinen 600 Euro ein Taxi und war dankbar, dass ich heute trocken war.