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Danach

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01.05.2008
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Danach

Ich war auf Entzug. Ich wurde erzogen, mir wurde entzogen: der Alkohol. Guter, bester Freund in vielen Lebenslagen, im Stehen, Sitzen, Liegen ¬– er war immer dabei.
Sie haben es mir ausgetrieben, sie haben mir gehörig den Kopf gewaschen – und das Hirn. Alkohol ist schlecht für dich, du bist süchtig, eine Süchtige kann nicht selbst entscheiden, wann es genug ist – sprich, eine Süchtige kann Gut und Böse nicht voneinander unterscheiden und will auch kein GENUG, will immer mehr, mehr, mehr, bis der Arzt kommt und der Krankenwagen. Als Betrunkener wird man im Krankenhaus nicht mit Samthandschuhen angefasst, sie benutzen nicht mal welche aus Baumwolle. Als Betrunkener ist man so ziemlich der Letzte in der Hackordnung, denn du hast es ja selbst verschuldet, du wolltest es so, jetzt kannst du die Suppe selbst auslöffeln, obwohl dir schon kotzübel ist, Gönnung, haben wir damals als Kinder gesagt, Gönnung! Noch schlechter werden nur gescheiterte Selbstmörder behandelt.
Am Tag meiner Entlassung kam ich nach Hause und wurde von Stille umfasst, ich war allein, das erste Mal seit dem Entzug, das erste Mal seit zwei Monaten. Jetzt fiel ich in ein Loch, das berühmte Loch; die Wohnung war mein Loch, sie verschlang mich wie eine Fleisch fressende Pflanze, kaute mich ordentlich durch, reicherte mich an mit Einsamkeit und Melancholie und spuckte mich dann und wann aus, damit ich für meinen Körper lebenswichtige Zutaten besorgte, denn sonst ging ich ihr ein und das wollte meine Fleisch fressende Pflanze verhindern, hatte sie doch ihren Spaß mit mir.
Das Schlimmste waren die Abende. Es war einsam ohne Alkohol. Ich hatte meinen Mitbewohner verloren, und wir hatten uns gut verstanden, oh ja.
Jetzt saß ich abends – allein – vor dem Fernseher und trank eine Tasse Kamillentee.
Vieles hatte sich geändert, es gab eine Reihe von Dingen, die man nüchtern unmöglich machen konnte. Ich konnte zum Beispiel nie wieder mit Elvis „Bridge over troubled Water“ grölen oder nachts bei meinem Exfreund anrufen. Das war schon traurig. Aber war es wirklich so endgülitig? Ich dachte darüber nach, mit meinem XXL-Teebecher in der Hand. Ich saß auf dem Sofa und ließ eine Seifenoper laufen. Mir war nach einem Drink, wenigstens ein Glas Rotwein. Ich durfte nicht. Aber ich wollte. Wollte ich wirklich? JA! Rückfällig werden so kurz nach dem Entzug? JA! Ich überlegte, wo ich nachts um elf Alkohol auftreiben konnte. Das Einfachste war der Pizzaservice, Flasche Chianti 9,90 Euro plus eine Alibipizza dazu, das war erschwinglich. Dann musste die Trockenzeit halt eine Pause einlegen, ich tat niemandem weh mit meiner Entscheidung, außer vielleicht meiner toten Mutter, die von oben alles beobachtete und jetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlug.
Ich griff nach dem Telefonhörer. Im selben Moment klingelte das Telefon. Ich ging ran.
„Hallo Ivy“, meldete sich eine Stimme, es war Bea, ein Mädchen aus der Klinik. „Du musst mir helfen.“
„Muss das jetzt sein?“, fragte ich, „Morgen ist auch noch ein Tag!“
„Jetzt“, presste sie hervor, sie war total betrunken, der Alkohol musste ihr schon aus den Ohren wieder rauslaufen. „Ich brauche Geld. Du musst mir 600 Euro leihen, die brauche ich jetzt sofort, sonst schneiden die Stella einen Finger ab.“
Stella war ihre fünfjährige Tochter, ein süßer Engel mit dunkelblonden Locken.
„Wer hat Stella? Gott, sag schon!“
„Ich sollte für die Stoff austragen, der Stoff ist mir aber gestohlen worden, wenn du verstehst, was ich meine. Die haben Stella und wenn ich das Geld nicht auftreibe, schneiden sie Stella die Finger ab, Stück für Stück.“
„Wieso haben die Stella?“
„Ich hab sie als Pfand da gelassen, bis ich das Geld habe“, für sie schien das völlig normal zu sein. „Hilfst du mir?“
Ich dachte an die Kleine. Eigentlich konnte ich Kinder nicht ausstehen.
„Okay, also wo treffen wir uns?“

Das Geld hob ich in meinem Stadtteil ab, ich wollte auf dem Kiez nicht an den Bankautomaten und für alle sichtbar mehrere Hundert Euro abheben.
Ich kam aus der U-Bahn und ließ mich vom Menschenstrom mitziehen, alle wollten zum Kiez, Hamburger, Touristen, Dealer, Jugendgangs, was weiß ich, und ich mittendrin. Nach zehn Minuten stand ich vor dem verabredeten Treffpunkt, der McDonalds Filiale an der Ecke gegenüber der Polizeiwache. Ich hatte mir schon gedacht, dass Bea mich warten lassen würde, und war extra etwas später gekommen, aber immer noch pünktlich. Ich stellte mich neben den Eingang, um die Tür im Auge zu behalten; ein paar der Nutten, die dort auf Freier warteten, guckten mich missbilligend an. Pech. Ich rauchte eine Zigarette und dann noch eine. Ich könnte in den Laden reingehen und mir ein Bier holen, dachte ich. Ich mochte kein Bier. Bier war bitter und kalt. Ich mochte halbtrocken und Zimmertemperatur. Bier und ich, wir kamen nicht zusammen. Da musste ich schon sehr verzweifelt sein. Warten. Ich rauchte noch eine. Seit einer Stunde stand ich da und fror, selbst die Nutten bekamen Mitleid mit mir. Ich rief im Fünf-Minutentakt bei Bea auf dem Handy an, niemand ging ran, klasse.
Dann rief ich bei Bea auf dem Festnetz an. Ein Typ ging ran.
„Hier ist Ivy, ich bin eine Freundin von Bea. Ich habe 600 Euro, die ich ihr geben muss und ich kann sie auf ihrem Handy nicht erreichen.“
„Bea liegt hier und pennt. Wodka und Valium, die krieg ich jetzt nicht wach,“
„Aber ihre Tochter ...“
„Stella? Die Kleine ist hier, den ganzen Abend schon. Was für 600 Euro überhaupt?“
„Danke“, sagte ich müde und legte auf.
So war das, wenn man breit war, die Welt war ein Alptraum. Ich leistete mir von meinen 600 Euro ein Taxi und war dankbar, dass ich heute trocken war.

 

Hallo catlucy,

mit dieser Geschichte konnte ich wenig anfangen.
Alkohol scheint dein großes Thema zu sein. Deine Einstiegsgeschichte ist damit sehr sensibel und wortgewandt umgegangen, aber dieser Text hier scheint recht lieblos hingeknallt. Der erste Teil ist ein fader Neuaufguss, den ich speziell recht ungelenk und schwer nachvollziehbar finde. Der zweite Teil versucht einen gewissen Thrill reinzubringen, was aber auch nicht so recht gelingen will. Alles in allem wenig glaubwürdig und plump rübergebracht. Beispielsweise die Auflösung: Würde sie sich wirklich in der Form melden und einem Unbekannten sagen, sie hätte 600 Euro für die freundin?

Insgesamt wirklich schade, denn wie gesagt, dein Einstand auf kg.de hat mir wirklich sehr gefallen. Will meinen: das kannst du besser :)

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo Weltenläufer,

wow, das saß. Dabei hab ich mir eingeredet, die Geschichte sei eigentlich ganz gut, heißt, ich hab da viel Liebe und Arbeit reingesteckt. Aber das hat natürlich nicht immer etwas zu bedeuten. Dass der Anfang kritisiert wird, habe ich mir gedacht, der ist auf der Kippe. Aber die Wohnung als fleisch fressende Pflanze fand ich sehr schön. Nun denn.
Lieben Dank, dass Du es überhaupt gelesen und kritisiert hast! :-)

lg, catlucy

 

Hallo catlucy,
ich kenne Deine andere "Alkgeschichte" nicht.
Diese Geschichte lässt mich mit gemischten Gefühlen zurück.

Ich war auf Entzug. Ich wurde erzogen, mir wurde entzogen: der Alkohol. Guter, bester Freund in vielen Lebenslagen, im Stehen, Sitzen, Liegen ¬– er war immer dabei.
Den ersten Absatz finde ich klasse.
Im folgenden habe ich ein Problem mit dem Wort "Gönnung"- mir wird nicht ganz klar, was das überhaupt sein soll.
Irgendwie scheint in dieser Geschichte mit der Komposition etwas nicht zu stimmen, da du zum einen "Innenschau" und die "Vorgeschichte" lieferst, dann aber viel im "Jetzt" und an sehr konkreten Situationen geschildert wird. Insgesamt erschien es mir (insbesondere) der Bruch zu:
Ich dachte darüber nach, mit meinem XXL-Teebecher in der Hand. Ich saß auf dem Sofa und ließ eine Seifenoper laufen. Mir war nach einem Drink, wenigstens ein Glas Rotwein. Ich durfte nicht. Aber ich wollte. Wollte ich wirklich? JA! Rückfällig werden so kurz nach dem Entzug? JA! Ich überlegte, wo ich nachts um elf Alkohol auftreiben konnte. Das Einfachste war der Pizzaservice, Flasche Chianti 9,90 Euro plus eine Alibipizza dazu, das war erschwinglich.
besonders krass.
Mir erscheint es, als hättest Du zwei Erzähler. Der eine Standpunkt ist mehr allgemeiner Natur, der andere sehr konkret. Vielleicht könnte man das besser verschränken. (Z.b. Indem man den Telefonanruf nach dem ersten Absatz einsetzt). Auch ist die direkte mündliche Rede im unteren Teil sehr dominant, im ersten gar nicht vorhanden.
Und der Vergleich "Fleischfressende Pflanze=Wohnung" hinkt meiner Meinung nach ein wenig. Sobald man an einer solchen Pflanze klebt, ist man doch eigentlich tot? Mir ist da eher eine Katze die mit ihren Opfern ewig spielt, oder Efeu, der langsam aber sicher Wärme und Licht nimmt, in den Sinn gekommen.
Für mich mag die Geschichte nicht 100% zusammenpassen. Allerdings finde ich, dass man noch einiges aus der Geschichte machen könnte, da interessante Ansätze vorhanden sind und Du was stellenweise bewiesen wird, sehr gut mit Sprache umgehen kannst.
Viele liebe Grüße,
Bambule

 

Liebe Grüße an Euch beide und danke, dass ich den Text gelesen habt. Ich habe auch ein paar Schwierigkeiten gehabt damit. Woran es liegen kann, dass der Text so zerpflückt wirkt: Ich hatte ihn für einen Wettbewerb geschrieben und musste dann den Text von anfangs 5 auf 3 Seiten runterkürzen. Ohne die Kürzungen hatte er mir auch besser gefallen. Ich werde das ganze Ding nochmal überarbeiten, die Kürzungen rausnehmen und für den Wettbewerb etwas anderes schreiben.

 

also ich kann mich da der doch ziemlich negativer kritik nicht anschließen.
zum einen mochte ich die fressende Pflanze doch sehr, zum anderen schreibst du sehr schön, und auch das Thema gefällt mir.
verstehe ich den schluss richtig? die freundin wollte sie abzocken, oder nicht? war das kalkuliert?
das der erzähler plötzlich so krass ein drink will, finde ich gut. ich glaube so ist das auch. plötzlich will man einfach voll krass ein drink. und das ende war gut... normalerweise enden solche geschichten wie deine einfach. sie trinkt oder sie trinkt nicht. und dann kommt zum schluss nach einem ganzen Absatz so ein vernebelter Satz so von wegen:
"sie schaute in das glas und die leere durchfloss sie", und dann endet es einfach... weil man kein ende hat,
aber deine story wendet sich mit der anruf der freundin, und das herumstehen am strich, und hat auch irgendwo ein funken wahrheit drin, so mit diesem anruf, die dann der prot. zu einer erkenntnis führt,
auch der anfang wo du über das behandeln von alkipatienten redest finde ich sehr gelungen...
also da ist doch sehr viel gelungen ich...
die story gefiel mir

lg

 

wollte noch sagen, dass ich diese story besser als holly gefallen hat, was ich aber auch nicht schlecht fand. der titel ist vielleucht ein bisschen einfältig.

 

Hallo JuJu,
danke für Dein feedback - ja, die Freundin wollte sie abzocken. Und zum ersten Mal lässt sich Ivy nicht mehr abzocken, sie bleibt sie selbst, auch wenn sie gerade erst lernt, wer das überhaupt ist, sie selbst.

lg, catlucy

 

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