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Daneben stehen
"Auch Sozialfall?" Seine Worte trafen mich wie ein Faustschlag. War das die übliche Begrüßung zweier wildfremder Menschen? Ich versuchte, im Dämmerlicht der hereinbrechenden Nacht mein Gegenüber zu erkennen. Gleichzeitig suchte ich nach einer Antwort und brachte schließlich nur ein "Nein, eigentlich nicht." hervor. Die Gestalt in der Dunkelheit nickte kurz verständnisvoll und wandte sich dann wieder ab, den Blick nach unten gerichtet, die Hände auf das Brückengeländer gestützt. Ich hatte mich in ähnlicher Pose neben ihn gestellt. In der Dunkelheit hatte ich ein schlecht rasiertes, verlebtes Gesicht erkennen können. Sein Alter? Schwer zu schätzen, denn ich war mich sicher, es mit einem Alkoholiker zu tun zu haben.
Es dunkelte und die Straßen hatten sich geleert. Wer ein Zuhause hatte, war dorthin gegangen, um sich den Bauch vollzuschlagen.
"Schön oder?" Er zeigte mit ausgestrecktem Arm nach unten, dorthin wo der Fluss über ein Wehr in die Tiefe stürzte und trotz der Dunkelheit ein Stück Styropor zu erkennen war. Das Wasser hatte es ganz rund geschliffen und es tanzte auf den Wellen, gefangen gehalten vom Kehrwasser.
"Lässt sich nicht unterkriegen!" Nun hatte ich verstanden, was er mir zeigen wollte.
"Hmm", antwortete ich und fügte zur Aufmunterung hinzu:
"Wie wir."
"Ja, ja", antwortete er und lächelte zu mir herüber. Unsere Blicke trafen sich.
Wie kalt der Abend und wie ungewöhnlich die Situation auch sein mochten, es war mir egal. Der alkoholisierte Obdachlose mit der jungen Frau nachts alleine auf der Brücke, was würden die Leute wohl sagen... Nichts lag mir ferner, als diesen Gedanken in all seinen Konsequenzen weiterzudenken. Kein wenn, kein aber, kein "was könnte passieren". Statt dessen fühlte ich mich wohl in seiner Nähe.
"Und was treibt dich aus dem Haus?", fragte er mich schließlich nach einer weiteren Zeit des Schweigens.
Es gab nichts, auf das ich Rücksicht zu nehmen hatte. Ich musste keine Konsequenzen oder Auswirkungen auf mein normales Leben fürchten. Ich war frei, einfach frei.
"Mir ist klar geworden, dass ich ein Scheißleben führe!" Ich hatte ihm gesagt, was ich mich niemals zu sagen getraut hätte, meinen Kolleginnen oder Freundinnen gegenüber. Auch vor dem Badezimmerspiegel stehend, fest in die eigenen Augen blickend... undenkbar. Aber hier auf der Brücke, den Blick auf das Spiel der Wellen gerichtet, war mir die Wahrheit einfach so herausgerutscht.
"Eigentlich müsste ich dir nun sagen, dass du zu jung oder zu hübsch bist für so etwas." Ich spürte das Blut in meinen Kopf steigen, ob einer solchen Antwort. Es war dunkel, er hatte kein Recht soetwas zu sagen.
"Danke", stammelte ich, dann schwiegen wir uns wieder an. Sollte ich ihn mit "Du" anreden? Wieder einer der Gedanken aus der Welt meines richtigen Lebens, der an dieser Stelle nicht hätte bedeutungsloser sein können.
"Und du? Warum bist du heute hier?"
Er sah auf und zu mir herüber.
"Willst du das wirklich wissen?"
Mangels einer besseren Antwort schwieg ich, so lange bis das gedachte "eigentlich nicht" unausgesprochen ausgesprochen war.
"Meine Kumpanen saufen sich irgendwo da hinten zu. Weihnachten bei den Pennern, kannst du dir vorstellen, was das für ein Spaß ist? Es war mir einfach zu viel, verstehst du?"
Ich nickte. Auch mir war es einfach zu viel.
"Wenn du mir was von deinem Leben erzählen willst, ich bin ein guter Zuhörer. Gar nicht so blöde, wie du jetzt vielleicht denken magst. Und du hast Glück, ich bin gerade nüchtern."
Ich sah im Augenwinkel, wie er zu mir herübergrinste, wandte aber selbst nicht meinen Blick vom Wasser ab. Uns trennten dreißig Jahre, zwei Meter Sicherheitsabstand und noch so vieles andere.
"Ich führe ein wunderbares Leben. Für meine Mutter bin ich die liebevolle Tochter, im Büro die nette Kollegin. Ich habe ein kleines Auto, eine nett eingerichtete Wohnung, und mein Freund ..."
"Alles Quatsch!", unterbrach er mich, "Und warum bist du dann heute nicht zu Hause?"
Ich schwieg, diesmal aus Scham, ertappt worden zu sein. Er antwortete für mich:
"Du bist hier, weil du es zuhause nicht mehr aushältst. Irgendwas ist schief gegangen und hat dich aus der Normalität deines Lebens geworfen. So ein nettes kleines Mädel geht sonst nicht nachts alleine an den Fluss. Das kannst du deiner Großmutter erzählen. Also lüg' mich bitte nicht an, das haben wir nicht nötig."
"O.k."
"Und jetzt erzählst du mir, was wirklich los ist!"
"Das kann ich nicht!"
"Ist es wirklich so schlimm?"
Seine Stimme war mitleidvoll geworden, er sah zu mir herüber während ich auf das Wasser starrte.
"Ja und nein, eigentlich nicht, ach ich weiß nicht. Ich habe eigentlich keinen wirklichen Grund, unglücklich zu sein ..."
"Und warum bist du nicht zu Hause?"
"Meine Mutter... wir hatten eine Auseinandersetzung... ich glaube, wir haben uns noch nie so gestritten..."
Während wir vordergründig schwiegen, zogen die Ereignisse der letzten Tage an mir vorbei. Das "ich will doch nur dein Bestes" gegen das ich mit aller Kraft aufbegehrt hatte. Und die endlich ausgeprochene Wahrheit: Dass ich genug davon hätte, wie sehr sie mein Leben kontrolliere. Es war der schlimmste Streit, den wir jemals miteinander gehabt hatten. Aber ein echter Sieg war es nicht gewesen, denn sie hatte an Jahren zugenommen und an Kraft und Bosheit verloren.
Aber was würde er von alledem verstehen? Er mochte ein Vierteljahrhundert älter sein, war ein Mann und lebte in einer anderen Welt.
"Ich habe eine Tochter. Sie müsste jetzt in deinem Alter sein. Das Traurige ist, ich kenne sie kaum. Und jetzt ist es zu spät..."
"Warum?"
"Schau mich doch an, möchtest du so jemandem zum Vater haben?"
Ich schwieg. Doch es war nicht das verlegene Schweigen an Stelle eines offenen Neins. Statt dessen verlor ich mich in den Tiefen meiner eigenen Erinnerung. Aus ihr war mein Vater allzu früh verschwunden, hatte sich davongestohlen oder war gestohlen worden, was auf dasselbe hinaus lief. Zu spät bemerkte ich, dass ich meinen Gesprächspartner beleidigt hatte.
"Siehst du", stellte er trocken fest, "das meine ich."
"Nein, es ist nicht... ich musste nur an meinen eigenen Vater denken und daran, dass auch ich ihn kaum kenne. Er ist gestorben, als ich noch ein kleines Mädchen war."
"Kommt mir irgendwie bekannt vor", brummt er, "das hat sie bestimmt meiner kleinen Jacqueline auch erzählt. Um dann mit diesem geleckten Arschloch ins Bett zu steigen."
"Ich habe nie verstanden, warum sie nicht mehr geheiratet hat, es waren schwere Zeiten, zum Glück war es ein Unfall auf dem Weg zur Arbeit, die Versicherung musste zahlen..."
"Natürlich ging es nicht gut, er hat es auch nicht mit ihr ausgehalten. Und meine arme kleine Jacqueline..."
Keiner von uns setzte die Unterhaltung fort. Unter uns führte unbeeindruckt von alledem das kleine Styroporstück seinen Tanz auf. Mittlerweile war es komplett dunkel geworden. Ich fand zurück in die Realität, zurück zu meinem Gegenüber.
"Wenn du so alt wärst wie ich, was würdest du anders machen?"
"Oh je, Kleines. Bringt so einen versoffenen Kerl wie mich noch so richtig in Verlegenheit... anders machen... du stellst Fragen. Das Leben ist eine Einbahnstraße. Es gibt kein Zurück. Mit ihr würde ich mich nicht mehr einlassen, aber das hilft dir nichts."
Ich begann seine Stimme zu mögen. Sie hatte etwas Warmes, Väterliches. Wieder trieb ich auf den Bruchstücken der Erinnerung zurück in eine vermeintlich paradiesische Vergangenheit, während sich mein Gegenüber mühte, mir etwas Sinnvolles mit auf den Weg zu geben:
"Das sind die großen Fragen, Mädel. Wenn ich gewusst hätte, dass mich die Gosse erwartet... vielleicht hätte ich sie einfach erschlagen sollen... Das Kind mitnehmen und nach Afrika auswandern, keine Ahnung."
Ja es war schwer gewesen, natürlich verstand ich das, war ich doch alles, was ihr geblieben war. Und natürlich wollte sie das Beste für mich, unbestritten. Das Beste aus ihrem Blickwinkel, eine ordentliche Ausbildung, einen ordentlichen Mann. Das war auch der Punkt, an welchem wir wieder und wieder aneinander geraten waren. Meine bisherigen Freunde waren ihr nicht gut genug. Nicht dass sie diese Tatsache ausgesprochen hätte, nein es war diese unterschwellig fiese Art, wie sie es mich spüren ließ. Dieses implizite "du bist meine Tochter, du hast etwas Besseres verdient". Dass ich vor einigen Jahren ausgezogen war, hatte nur bedingt geholfen.
"Wie oft habe ich mich gefragt, warum es damals in die Brüche ging! Man sucht zuerst immer die Schuld bei sich selbst. Das ist deine Frage: Was könnte man anders machen? Vielleicht einfach gar nichts, weil wir nichts anders machen können. Mädel, hättest du nicht ein paar Jahre früher kommen können? Als ich mich noch nicht um meinen Verstand gesoffen hatte? Ich war gar nicht so schlecht in diesen Dingen. Aber heute? Sieh mich an..."
Ich sah in an. Viel war in der Dunkelheit nicht zu erkennen von ihm, eine nach vorne gelehnte Gestalt, verpackt in ein zusammengewürfeltes Sammelsurium von Kleidungsstücken. Mir fiel auf, wie kalt es geworden war. Irgendwie war es an der Zeit zu gehen. Ich hatte bekommen, wonach ich gesucht hatte oder auch nicht.
"Frohe Weihnachten. Ich wünsche dir noch einen schönen Abend."
Er ließ die Worte in einem antwortlosen Schweigen verhallen, das mir erst ihren Zynismus verdeutlichte.
"Ich dir auch", brummte er schließlich und sah zu mir herüber. Ich wandte mich ab und ging. Als ich mich nach kurzer Zeit noch einmal umdrehte, sah ich wie er in unveränderter Stellung am Brückengeländer lehnte.
Ich war eine Stunde lang durch die Stadt gelaufen, bis mir endlich wieder warm geworden war. Bewegung hatte sonst immer wie ein Allheilmittel gewirkt, um mit meinen Gedanken ins Reine zu kommen, doch nicht so an diesem Abend. Ich schloss die Haustür auf und stieg die Treppe zum Keller hinunter. Aus meinem Verschlag holte ich zwei Flaschen Rotwein und trug sie hoch in meine Wohnung. Nachdem ich die Stiefel ausgezogen, Handschuhe, Mütze und Mantel abgelegt hatte, stellte ich die beiden Weinflaschen auf meinen Esstisch. Die Wärme der Wohnung hieß mich willkommen.
Ich holte aus der Küche den Korkenzieher und ein Rotweinglas. Italienischer Chianti, teuer, hoffentlich gut. Eigentlich ein geeignetes Geschenk. Unwillkürlich musste ich an meine Bekanntschaft auf der Brücke denken. Ob er immer noch an der selben Stelle stand? Würde er dieses Geschenk zu schätzen wissen? Ich öffnete eine der beiden Flaschen, um zu kosten. Ein seltsamer Gedanke, einem Alkoholiker eine Flasche Wein zu schenken. Aber die Idee hätte etwas.
Das Telefon läutete. Ich ließ es läuten, wohlwissend, wer am anderen Ende der Leitung war. Es klingelte dreimal, viermal. Trotzig nahm ich einen großen Schluck Chianti. Zehnmal, elfmal. Es war ihre typische Hartnäckigkeit, die ich mit einem weiteren Schluck quittierte. Dann endlich Stille. Ich hob ab und legte den Hörer daneben. Sie würde es in Kürze nochmals versuchen, das wusste ich. Sie sollte zu spüren bekommen, dass ich zuhause war.
Der Rotwein wärmte mich von innen heraus, ob er so ein Geschenk zu schätzen wüsste? Die Vorstellung, ihn einfach aus der Flasche in sich hineinzuschütten, nur des Alkoholgehaltes wegen, hatte etwas Barbarisches. Aber er würde sich freuen, wenn ich mit der Flasche auftauchen würde. Wieder drehten sich meine Gedanken im Kreis. War es eine gute oder eine idiotische Idee? Die Wärme des Raumes machte müde, es war unverkennbar. Nur noch ein Glas, dann würde ich die zweite ungeöffnete Flasche nehmen, mich wieder anziehen und auf den Weg machen. Nur noch ein Glas, zur Stärkung vorweg. Und das Licht in meiner Wohnung würde ich brennen lassen.