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Darlehen
Böhm saß auf seinem Sofa und starrte auf den stummen Fernsehbildschirm. Als es klingelte, fuhr er zusammen. Er sah auf seine Armbanduhr. Eigentlich erwartete er keinen Besuch. Er stand auf, ging zur Tür und öffnete. Vor ihm stand ein Mann in einem gut geschnittenen, schwarzen Anzug und mit einer Aktentasche in der Hand. Wie alt der Mann war, konnte Böhm nicht genau sagen. Er sah jung aus. Einzig der Ausdruck in seinen Augen machte ihn etwas älter. Er war groß, ziemlich dünn, beinahe dürr, hatte schmale Schultern und lange Arme.
„Guten Tag, Herr Böhm!“, sagte der Mann. Er hielt ihm die Hand hin und lächelte freundlich. Dabei entblößte er eine Reihe auffällig weißer Zähne. Böhm ergriff die Hand des Fremden, bevor er wusste, was er tat und er war erstaunt über den festen Händedruck.
„Guten Tag“, sagte er. „Was kann ich für Sie tun?“
„Mein Name ist Reinstark. Ich würde mit Ihnen gerne etwas Geschäftliches besprechen, Herr Böhm.“
Böhm runzelte die Stirn. „Jetzt?“, fragte er und zog die Augenbrauen hoch. „Entschuldigung, aber es ist wirklich schon recht spät für ein geschäftliches Gespräch, meinen Sie nicht? Rufen Sie mich nächste Woche an, dann können wir immer noch miteinander sprechen.“ Er überlegte einen Augenblick. „Woher haben Sie überhaupt meine Adresse?“
„Sie steht in unserer Kartei, Herr Böhm.“
Böhm lächelte freudlos. „Aha, na, wie gesagt, momentan ist es wirklich sehr unpassend. Probieren Sie es nächste Woche.“ Er nickte Reinstark knapp zu, trat einen Schritt zurück und wollte die Haustür schließen.
„Verständlich“, sagte Reinstark. „Sie kommen ja auch gerade von Ihrem Arzt. Müssen sich vermutlich erst einmal sammeln.“
Böhm hielt inne und sah Reinstark verdutzt an.
„Was haben Sie gesagt? Wie meinen Sie das?“
„Na, dass Sie bei Ihrem Arzt waren. Vor drei Stunden. Sie haben Ihre Diagnose erhalten.“
Böhm schluckte. Seine Hand wanderte zum Türrahmen.
„Bedauerlicherweise eine wirklich unschöne Diagnose, nicht wahr?“ Reinstark hatte aufgehört zu lächeln. Er sah Böhm mit einem Ausdruck distanzierten Bedauerns an.
„Woher wollen Sie das wissen?“
„Das gehört zu meinem Geschäft“, erklärte Reinstark. Das Grinsen hatte sich zurück in sein Gesicht geschlichen. Er machte eine vorsichtige Geste mit der Hand und zeigte ins Innere des Hauses.
„Was halten Sie davon, wenn wir unsere Unterhaltung drinnen fortsetzen? Dann erkläre ich Ihnen sehr gerne und in aller Ruhe, worum es geht.“
Böhm zögerte. Schließlich trat er zur Seite und ließ Reinstark herein.
Denn es stimmte. Vor nicht ganz drei Stunden hatte Böhms behandelnder Arzt nur einen kurzen Blick auf die Unterlagen geworfen, bevor er sich zurückgelehnt und Böhm ernst angesehen hatte. Dann hatte er geseufzt und mit seiner tiefen Stimme gesagt: „Wissen Sie, auch nach all den Jahren gibt es keinen guten oder einfachen Weg dafür. Daher werde ich es kurz halten. Sie haben Krebs, Herr Böhm. Bauchspeicheldrüsenkrebs, um genau zu sein.“
Danach hatten sie geschwiegen. Nur das Ticken der Uhr an der Wand war zu hören gewesen. Irgendwann hatte Doktor Gutmann wieder zu sprechen begonnen. Er hatte erklärt, dass sich der Krebs bereits in einem fortgeschrittenen Stadium befände, das es notwendig mache, so schnell wie möglich mit einer Strahlentherapie zu beginnen. Für kommenden Montag hatten sie deshalb einen ersten Termin vereinbart. Böhm hatte alles dumpf abgenickt, was Gutmann erläutert hatte. Am Ende, er hatte bereits seine Jacke wieder angezogen und stand in der Tür, wollte er es wissen. Er hatte gefragt und Doktor Gutmann hatte ehrlich geantwortet.
„Unheilbar, stimmt´s?“ Reinstark hatte sein Vertretergrinsen abgewischt und eine geschäftsmäßige Miene aufgesetzt. „Man hat Ihnen zwar empfohlen, mit einer Strahlentherapie zu beginnen, aber dass es mit Ihnen zu Ende geht, das steht außer Frage. Sicher, ganz so hat man es Ihnen natürlich nicht gesagt. Das tut man ja nie. Aber zwischen den Zeilen? Ob in drei Monaten oder in neun, es ist vorbei.“
Böhm schwieg. „Sie haben mit meinem Arzt gesprochen.“, sagte er schließlich. „Sie haben meine Akte gelesen und Sie haben sich warum auch immer miteinander abgesprochen, um mir Angst zu machen. Niemand sonst weiß etwas davon. Ich rufe Doktor Gutmann an.“ Er griff nach seinem Handy in der Hosentasche.
„Tun Sie das nicht!“, sagte Reinstark ruhig. Aber ein drohender Unterton in seiner Stimme ließ Böhm in der Bewegung innehalten. Er sah Reinstark an. In seinen Augen, die nun so gar nicht mehr zu dem jungen Gesicht passen mochten, lag etwas Altes und Lauerndes. Böhm wandte den Blick ab und ließ das Handy, wo es war.
„Ihr Arzt und ich haben nicht über Sie gesprochen“, sagte Reinstark. „Doktor Gutmann hat mich tatsächlich noch nie gesehen. Aber er ist ein guter Mann und ein guter Arzt, der etwas von seinem Job versteht. Er hat Recht mit dem, was er gesagt hat, Böhm. Der Tumor hat gestreut. In Ihrem Körper befinden sich bereits überall Metastasen. Sie haben Strahlentherapie hin, Chemo her, keine Chance. So sieht es nun einmal leider aus.“
Böhm schüttelte den Kopf und schwieg. „Es ist ungerecht!“, brach es aus ihm heraus. „Ich habe gesund gelebt! Ich habe Sport getrieben, wenig Alkohol getrunken. Jede Vorsorgeuntersuchung gemacht, die es gibt. Ich, … ich habe alles getan! Und aus dem Nichts …?“ Er machte eine Pause und atmete durch. „Die Welt ist nicht gerecht“, fügte er hinzu. „Mir egal, wer Sie eigentlich sind und was zum Teufel Sie von mir wollen, aber so sehe ich das.“
Reinstark sah ihn unbewegt an. Dann beugte er sich zur Seite und griff nach seiner Aktentasche auf dem Boden.
„Es liegt nicht an mir, das zu bewerten. Ich bin hier, weil ihr Name in unserer Kartei steht.“ Er holte eine Mappe mit Unterlagen hervor. Eine Seite davon reichte er Böhm, während er konzentriert weitere Papiere durchsah. Böhm sah auf das Blatt. Sein Name stand dort zusammen mit einer Art Kundennummer, seinem Geburtsdatum und noch einigen Chiffren und Zahlenkombinationen, die er nicht einordnen konnte.
„In was für einer Kartei soll mein Name hinterlegt sein? Ich habe mich nie bei Ihnen oder sonst wem angemeldet!“
„Das ist richtig“, entgegnete Reinstark zerstreut.
„Wie kommen Sie dann dazu, meinen Namen in irgendeiner Art Kartei zu führen?“ Böhm wurde ungehalten. Reinstark blätterte weiter in seinen Unterlagen und murmelte: „Das darf ich Ihnen nicht sagen, Geschäftsgeheimnis.“ Schließlich sah er auf. „Reden wir nicht drum herum, Böhm. Sie wollen nicht sterben, richtig? Jedenfalls nicht jetzt, nicht so.“ Reinstark schüttelte den Kopf. „Die Aussicht auf ein paar wenige Monate voller Schmerz, Übelkeit und Leid sind nicht gerade berauschend. Nein, Sie wollen weiterleben. Und hier kommen ich und die altehrwürdige Gesellschaft, die ich vertrete, ins Spiel. Wir bieten unseren Vertragskunden einen speziellen Service in solchen Fällen.“
„Was soll das heißen? Behaupten Sie allen Ernstes, dass Sie oder ihre Firma verhindern können, dass ich an diesem verfluchten Krebs zugrunde gehe? Habe ich Sie richtig verstanden?“
Reinstark lächelte freundlich und nickte. „Ganz genau. Wir bieten Ihnen ein Leben.“
„Sagen Sie, wollen Sie mich eigentlich verarschen?“ Böhm war kein vulgärer Mann, aber das hier ging zu weit. „Ich weiß nicht, wie sie an meine Krankenakte gekommen sind, aber versuchen Sie nicht, mich für dumm zu verkaufen! Verschwinden Sie!“
Reinstark schwieg und ließ die Papiere, die er zwischen seinen Händen gehalten hatte, sinken. Das Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden. Er schlug die Beine übereinander und sah Böhm lange an.
„Sie haben Angst“, sagte er schließlich kühl. „Ich verstehe das. Das haben die allermeisten Menschen, denen ich gegenübersitze. Es ist keine einfache Situation, in der Sie sich befinden. Aber ich empfehle Ihnen, den Mund zu halten und mir zuzuhören.“
Böhm schwieg. Er hatte das Gefühl, in den Augen Reinstarks zu versinken. Das Lodern hielt seinen Blick gefangen. Er begann zu schwitzen. Bemerkte, wie sein Herz schneller schlug und wie ihm die Luft wegblieb. Als Reinstark wieder zu lächeln begann und gut gelaunt ansetzte, mit seinem Vortrag fortzufahren, ging das Gefühl vorbei. Keuchend schnappte Böhm nach Luft.
„Ich will Ihnen nichts vormachen, unser Angebot basiert auf dem Prinzip Geben und Nehmen. Das haben Sie sich wahrscheinlich schon gedacht, nicht wahr? Also, wir geben Ihnen ein Leben. Nicht das schlechteste Angebot, wenn Sie mich fragen. Sollten Sie sich in den kommenden Monaten nicht vor den nächsten Bus werfen, ist das eine ziemliche langfristige Angelegenheit. Bei Ihrer gesunden Lebensführung?“ Reinstark grinste einnehmend.
„Wir nehmen im Gegenzug aber auch etwas von Ihnen, Böhm. Ihr Hörvermögen wird eingeschränkt, vielleicht verlieren Sie ein paar ihrer Zähne?“ Böhm deutete auf sein strahlend weißes Lächeln. „Eine Neurodermitis bricht aus, Sie verlieren ihren Sinn fürs Gleichgewicht oder werden inkontinent? Irgendetwas in der Art, darauf haben wir keinen Einfluss. Lassen Sie es mich so sagen. Am Ende zahlt man als Vertragsunterzeichner doch immer drauf. So läuft das eben.“ Böhm setzte an, um etwas zu entgegnen, doch Reinstark hob einen Finger und er schwieg.
„Sie erhalten ein Leiden, eine Einschränkung. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Das ist jedenfalls die eine Sache. Aber das ist noch nicht alles. Sehen Sie, Böhm, normalerweise würden Sie sterben. Irgendeine Macht hat das so entschieden. Hat aus Gründen entschieden, dass ihr ehemals gesunder Körper nun voller Metastasen ist, die sie von innen zerfressen.“
„Gott?“, unterbrach Böhm leise.
Reinstarks Augen blitzten und er deutete ein kaum wahrzunehmendes Schulterzucken an. „Ich bin nicht religiös“, sagte er schmunzelnd und fuhr fort. „Wenn Sie nun also weiterleben, dann liegt da etwas im Argen. Sie spielen nicht nach den Regeln, eine Schieflage entsteht, Sie verstehen? Diese Schieflage muss behoben werden, sonst gerät alles aus den Fugen. Es ist natürlich deutlich komplexer, aber ich denke, das Grundproblem sollten Sie nachvollziehen können.“ Reinstark machte eine Pause und lehnte sich zurück. „Stellen Sie es sich also als eine Art Darlehen vor, das wir gewähren. Nun ist unser Darlehen das Leben. Wie wollen Sie das jemals zurückzahlen, sie wollen ja schließlich nicht krepieren? Ergo braucht es ein weiteres Leben.“
Böhm war fassungslos ob des Unsinns, der ihm hier erzählt wurden. Er schüttelte stumm den Kopf, während Reinstark aufgeräumt weiter plauderte.
„Nun denken Sie vielleicht: Ach, nichts einfacher als das! Soll doch irgendwer am anderen Ende der Welt sterben, was schert´s mich? Aber ganz so einfach ist das leider nicht. Das ganze System basiert im Wesentlichen auf Familienbande. Zugegeben, vielleicht etwas angestaubt dieser Tage. Aber so ist es nun mal in unseren Policen festgelegt. Es muss jemand aus der Verwandtschaft sein. Eine Person, die Sie kennen, zu der sie eine gewisse Bindung haben.“ Reinstark machte eine Pause und schien zu überlegen. „Sie haben Kinder, richtig? Zwei Töchter?“
„Das kann alles nicht ihr Ernst sein“, flüsterte Böhm. „Sie sind ja wahnsinnig.“
Reinstark schüttelte mit dem Kopf. „Ich unterbreite Ihnen hier nur die Möglichkeiten. Eine Entscheidung treffen Sie selbst.“
Böhm reichte es. Er richtete sich auf. „Verschwinden Sie aus meinem Haus und belästigen Sie wen anders mit diesem Irrsinn!“, sagte er mit aller Kraft, die er aufbringen konnte. Reinstark sah ihn ausdruckslos an. Dann schnippte er mit seinen Fingern. Eine plötzliche Welle unglaublicher Schmerzen fuhr durch Böhms Körper. Die Wucht, die ihn völlig unvorbereitet traf, ließ ihn auf das Sofa zurückfallen. Seine Hände wanderten zu seinen Eingeweiden, wo der Schmerz besonders stark wütete. Tränen liefen ihm die Wangen hinab, er bekam keine Luft mehr und sank langsam zur Seite. Er wollte etwas sagen, wollte, dass Reinstark einen Rettungswagen rief, aber er brachte außer einem wimmernden Stöhnen nichts über die Lippen. Eine zweite Welle noch stärkerer Schmerzen ließ ihn die Augen verdrehen und laut aufschreien. Böhm war sich sicher, dass er sterben würde. Dann hörte der Schmerz auf. So schnell und zerstörerisch wie er gekommen war, verschwand er auch wieder. Böhm atmete schwer. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Unsicher richtete er sich auf. Er fürchtete, jede Sekunde von einer neuen Welle erfasst zu werden.
„Schrecklich, nicht wahr?“ Reinstark hatte noch immer die Beine übereinandergeschlagen und sah ihn mitleidig an. „Zur Wahrheit gehört natürlich, dass Sie mit starken Schmerzmitteln betäubt würden, wenn es dann so weit ist. Aber leider helfen auch die irgendwann nicht mehr. Und dann erwartet Sie das, was sie gerade empfunden haben. Schmerzen, die einen in den Wahnsinn treiben können. Nicht wenige Menschen machen dem im Vorfeld ein Ende. Und ganz ehrlich, wer sollte es Ihnen verdenken?“
„Wie … wie haben Sie das gemacht?“
Reinstark antwortete nicht. Seinen Augen loderten. „Nachdem Sie nun verstanden haben, worum es hier geht, können wir vielleicht mit dem Geschäftlichen fortfahren, was meinen Sie, Böhm?“
Böhm schob das Formular zurück über den Tisch. Reinstark nahm es in die Hand und begutachtete lange den Namen, den Böhm aufgeschrieben hatte. Schließlich blickte er auf. Das breite Grinsen war zurück. „Wunderbar!“, sagte er. „Dann haben wir ja alles geregelt.“ Er nahm den Vertrag, legte ihn behutsam in eine Mappe, verstaute alles ordentlich in seiner Aktentasche und stand auf.
„Das war´s?“, fragte Böhm. „Wie geht es jetzt weiter?“
„Gehen Sie zum Arzt. Lassen Sie sich untersuchen. Der Krebs ist nicht mehr länger ein Problem. Den Rest wird die Zeit zeigen.“
Eine halbe Stunde später saß Böhm noch immer wie betäubt auf seinem Sofa und fragte sich, ob er geträumt hatte. Doch die Visitenkarte auf dem Tisch bildete er sich nicht ein. Reinstark stand dort drauf. Und eine Adresse. Sonst nichts.
Böhm hatte in seinem bisherigen Leben noch nie Probleme mit Migräne gehabt. Seit einem erneuten Besuch bei seinem Arzt vor einem Monat, der Gutmann völlig verständnislos zurückgelassen hatte, überfielen ihn die Schmerzen zuverlässig vier oder fünfmal die Woche. Die Beschwerden waren nie übermäßig stark, aber unangenehm. Was solls?, dachte er. Was sind schon Kopfschmerzen?
Heute war er bislang verschont geblieben. Zufrieden saß er am Esstisch seiner Tochter und nahm einen Schluck Rotwein. Sie hatte ihn zum Essen eingeladen. In den letzten Wochen hatten Rebecca und er kaum etwas voneinander gehört und er war froh, sie wiederzusehen. Er genoss es, Zeit, mit ihr zu verbringen. Seit der Trennung von ihrem Mann hatte sich das enge Verhältnis zwischen Ihnen noch mal mehr angenähert.
Rebecca deutete auf ein Bild an der Wand. „Hast du gesehen, Papa? Ich habe es rahmen lassen. Wir alle zusammen in unserem alten Garten.“
Böhm grinste. „Wie alt warst du da? Vielleicht zehn Jahre?“
Rebecca nickte. „Ja, ungefähr. Und Kathrin muss so sechs gewesen sein.“
„Ein schönes Bild.“
„Hast du in letzter Zeit etwas von ihr gehört?“, fragte Rebecca.
Böhm schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er. „Es ist lange her. Das letzte Mal habe ich vor drei oder vier Monaten mit ihr gesprochen.“
Rebecca nickte. „Wir haben vor einer Woche telefoniert.“ Sie machte eine Pause und spielte mit dem Finger am Rand ihres Glases. „Es geht ihr nicht gut, Papa. Sie hat mir nicht gesagt, was los ist, aber sie war fahrig, wirkte aufgekratzt. Sie hat auch viel geweint. Ich weiß nicht, ich dachte vielleicht, dass …“
Böhm bemerkte, dass sich seine Kiefermuskulatur anspannte. „Ich habe versucht, sie zu erreichen, Rebecca. Aber sie ignoriert jeden meiner Anrufe. Ich weiß nicht, was ich noch machen soll. Wenn Sie nicht mit mir sprechen möchte, kann ich sie nicht zwingen. Sie ist erwachsen und ich bin nicht in der Position, meine Hilfe aufzuzwingen.“
Rebecca schwieg.
„Es … ich bin mir sicher, dass es nicht so schlimm ist, wie es am Telefon klang. Du kennst doch deine Schwester. Seit Jahren macht sie mal dies, mal macht sie das. Ich bin mir nicht mal sicher, wo sie momentan wohnt. Und über ihr Studium will ich gar nicht erst sprechen.“
Rebecca sah ihren Vater an.
„Ich werde versuchen, Sie zu erreichen, in Ordnung?“, sagte Böhm.
Rebecca nickte. „Danke, Papa“, sagte sie. Eine Weile schwiegen sie. Draußen regnete es und die Tropfen prasselten gemütlich gegen die Fensterscheiben.
„Ich soll dich von Thomas grüßen“, sagte Rebecca.
Böhm nickte und nahm einen Schluck aus seinem Glas.
„Ihr habt also wieder Kontakt?“, fragte er schließlich.
Rebecca nickte. „Seit einigen Wochen.“
Böhm sagte nichts.
„Es ist auch für ihn nicht einfach, Papa.“
„Bestimmt“, sagte Böhm.
„Ich will Thomas nicht in Schutz nehmen, aber er versucht es wirklich. Er arbeitet daran. Wir beide arbeiten daran, Papa.“
„Ich begreife nicht, wie du an ihm festhalten kannst, Rebecca. Nach allem, was er dir angetan hat.“
„Ich verstehe, dass du dir Sorgen machst, aber es ist gut. Wir gehen unsere Probleme an und haben uns professionelle Hilfe geholt. Thomas macht außerdem eine Therapie. Er trinkt keinen Alkohol mehr.“
Böhm schnaubte, aber Rebecca fuhr unbeirrt fort.
„Wir gehen zu einer Beratungsstelle für verheiratete Paare. Wenn es trotz allem nicht funktioniert, ja, dann ist es so. Aber ich werde unsere Ehe nicht einfach so hinschmeißen. Und ich wäre sehr froh, wenn ich dich dabei an meiner Seite hätte, verstehst du?“
Böhm sah seine Tochter an. Du wirst mich an deiner Seite haben, Rebecca, dachte er. Wenn es so weit ist. Plötzlich fuhr es in seinen Kopf. Unwillkürlich fasste er sich an die Stirn. Der Schmerz war blitzartig gekommen.
„Was ist?“ Rebecca sah ihren Vater besorgt an.
„Nur Kopfschmerzen, alles in Ordnung.“
„Kopfschmerzen? Das hast du doch früher nie gehabt!“
„Migräne. Seit einiger Zeit habe ich mitunter Migräneattacken. Aber es ist nicht weiter schlimm. Was soll ich sagen, man wird eben älter. Da gehören kleinere Wehwehchen dazu.“ Lächelnd beugte er sich vor und küsste Rebecca auf die Stirn.
Nachdem er wieder zu Hause angekommen war, zog er sich die Schuhe aus und wollte ins Bad. Noch auf der Treppe nach oben, überfielen ihn die Kopfschmerzen erneut mit solcher Wucht, dass er taumelte und sich auf die Stufen setzen musste. Dieses Mal blieben die Schmerzen.
Eine Woche später saß Böhm in seinem Büro und blätterte in einem Prospekt. Das Telefon klingelte und er griff nach dem Hörer. „Böhm“, sagte er und legte den Prospekt beiseite. Dann hörte er zu. Wurde blass. Und legte auf.
„Wir hatten einen Vertrag!“, schrie Böhm.
„Absolut“, entgegnete Reinstark gelassen. „Und würden Sie behaupten, dass wir unseren Teil der Vereinbarung nicht eingehalten haben? So kerngesund, wie sie hier vor mir stehen?“
„Meine Tochter liegt im Koma! Sie … wir hatten eine klare Übereinkunft. Es war nicht ihr Name! Es ging überhaupt nie um Rebecca!“
Reinstark nickte. „Bedauerlich ja“, sagte er. „Wirklich äußerst bedauerlich. Aber das sind nun einmal Dinge, die geschehen. Dass ihre Tochter nun ausgerechnet am Tag des vertraglich festgelegten Todes in das Fahrzeug ihres Schwiegersohns steigt, nun, das ist sicher unglücklich. Aber damit haben wir nichts zu tun.“ Reinstark hob die Hände und seufzte.
„Machen Sie das rückgängig!“ Böhms Fingernägel krallten sich in die Haut seiner Fäuste.
„Rückgängig?“ Reinstark lächelte und schüttelte den Kopf. „Wie stellen Sie sich das vor, Böhm? Soll ich etwa die Gesetze von Zeit und Raum aushebeln? Das ist selbstverständlich nicht möglich. Was geschehen ist, ist nun einmal geschehen. Zumal die Wahl ihres Schwiegersohns vertraglich ohnehin eine ziemliche Grauzone war. Allerdings ...“ Reinstark beugte sich zu seinem Schreibtisch hinunter und zog eine Schublade auf. Böhm meinte, flackerndes Licht aus der Schublade fallen und Reinstarks Gesichtszüge erhellen zu sehen. Dabei fiel ihm auf, dass Reinstark anders aussah als noch vor einigen Wochen. Er war nicht mehr dünn, sondern wohlgenährt. Seine Haut wirkte rosig und belebt, als ob er soeben aus einem langen und entspannten Urlaub heimgekehrt wäre. Reinstark schloss die Schublade wieder und das Licht verschwand.
„Was wir natürlich machen könnten, wäre, einen neuen Vertrag aufzusetzen.“ Reinstark legte einen Umschlag auf den Tisch und entnahm einige Papiere daraus.
„Einen Vertrag für ihre Tochter Rebecca. Alles, was es braucht, ist ein weiterer Name, Böhm. Sie kennen die Regeln.“ Reinstark machte eine Pause und runzelte die Stirn. „Wenn ich mir allerdings hier so ihren Familienstammbaum ansehe, sieht es recht dünn aus, nicht wahr?“ Er machte ein unglückliches Gesicht. „Viel Auswahl scheint es da nicht mehr zu geben. Nun, Sie könnten natürlich ihren eigenen Namen nehmen, das wäre eine wirklich edle Geste, meinen Sie nicht?“ Er lachte schallend. „Aber“, sagte er und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Ich will Ihnen da nicht reinreden. Das steht mir auch gar nicht zu.“
„Fahren Sie zur Hölle!“,murmelte Böhm. Dann schnappte er nach dem Vertrag, setzte sich auf den Stuhl gegenüber von Reinstark und überlegte. Und überlegte.
Böhm humpelte den Eingangsbereich des Krankenhauses entlang. Seit ein paar Wochen war sein linkes Bein steif und die Knie schmerzten bei jeder Bewegung. Er hatte sich einen Stock besorgt und stützte sich bei jedem Schritt, den er tat, darauf. Er drückte auf den Knopf des Aufzuges und wartete. Die Schwester, die ihn im Eingangsbereich begrüßt hatte, stand mit einer Kollegin im Mitarbeiterzimmer am Ende des Flurs. Sie konnten ihn nicht sehen, aber er konnte hören, was sie miteinander redeten.
„Der Herr Böhm ist wieder da. Ich sag dir, mir bricht es das Herz, wenn ich diesen armen Mann sehe. Weißt du, dass seine Tochter vor einem halben Jahr zusammen mit ihrem Mann einen schweren Autounfall hatte?“
„Wie?“
„Die Ältere! Lag bei uns auf Intensiv.“
„Nein! Das ist ja schrecklich!“
„Mmh, der Ehemann ist bei dem Unfall verstorben und sie sitzt seitdem im Rollstuhl. Sah erst so aus, als würde sie es auch nicht schaffen. Soweit ich weiß, kümmert Herr Böhm sich jetzt um sie.“
„Wie schlimm, und jetzt auch noch seine andere Tochter! Was für ein Unglück!“
„Will ich mir gar nicht vorstellen, wie er das bloß alles aushält?“
Die Aufzugtüren öffneten sich und Böhm stieg ein. Er lehnte sich gegen die Wand. Eine Migräne verfolgte ihn seit dem Aufstehen. Vom Spiegel blickte ihm ein ausgemergeltes Gesicht entgegen. Er war alt und dürr geworden. Die letzten Monate hatten an ihm gezehrt. Auf Station zwei stieg er aus. Eine Schwester kam herbeigeeilt.
„Herr Böhm!“, sagte sie. „Gut, dass Sie da sind, kommen Sie schnell!“
Etwas in seinem Magen verkrampfte sich. Er hatte gewusst, dass der Tag unweigerlich kommen würde, aber er hatte dennoch gehofft. Irgendwie gehofft. Die Schwester ging voraus und er versuchte trotz der Schmerzen in seinem Bein mit ihr Schritt zu halten. Vor ein paar Tagen war seine Kathrin schon so schwach gewesen, dass sie kaum miteinander hatten sprechen können. Er hatte Angst, als sie das Zimmer betraten. Kathrin saß aufrecht in ihrem Bett. Sie hatte sich die Sauerstoffmaske abgenommen und strahlte ihren Vater mit Tränen in den Augen an.
„Es geht mir wieder besser, Papa! Es geht mir viel besser!“, sagte sie und Böhm sah, dass seiner Tochter beinahe alle Zähne ausgefallen waren.