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Das Über-ICH
Die Luft steht. Unbeweglich, schwer und ölig hängt sie über der Stadt. Trägt den Gestank tausender Verbrennungsmotoren, schwitzender Menschen, Plastiks und Metalls. Sie drückt in die Kanalisation unter den flimmernden Strassen. Presst Fäkalgeruch nach oben. Richt nach Ozon, Teer und irgendwo Gebratenem.
Autos schieben sich träge durch die Hitzewand. Hinterlassen bei längerem Stand an Ampeln Reifenabdrücke im schwammig gewordenem Asphalt.
Hier und da ertönt eine Hupe, ein einzelner Hund, eine Sirene - vom Dopplereffekt verzerrt. Weit entfernt dröhnen die Luftverwirbelungen einer privaten Flugmaschine.
Menschen, die es nicht vermeiden können, quälen sich durch die Hitze. Zu Besprechungen, Jobs, Wohnungen.
Die Sonne hängt genau über der Stadt. Die Laden- und Häuserfronten bieten wenig Schatten.
Die Haut klebt. Die Kleidung scheuert lästig und ist nass. Kaugummiflecken glänzen grau und Unrat schmilzt zu einer kompakten Masse.
Über vertrocknet wirkenden Haufen dunklen Kots - von Hunden oder Menschen - summen träge einige Insekten.
In den zahlreichen Fenstern der Hochhäuser spiegelt sich blau ein wolkenloser Himmel.
Seifarth steht hinter einem davon. Die schmalen Spalten der Jalousie lassen lange Streifen aus Licht den dunklen Raum durchdringen. Träge Staubpartikel tanzen darin.
Der Raum ist kühl. Neben dem Fenster wimmert leise eine Klimaanlage. Seifarth hat Kopfweh. Er wendet den Kopf von der Aussicht, sieht auf seinen Schreibtisch. Dicke Stapel bedruckten Papiers stehen ordentlich aufgereiht neben einem schwarzen Tastentelefon im Halbdunkel des Raumes. Er setzt sich in den hochlehnigen Bürostuhl. Dreht sich zur überladenen Arbeitsfläche, massiert seine Schläfen und zupft dann sein Jackett zurecht.
"Wie viele...", krächzt er. Räuspert sich, flüstert nahezu:" Wie viele bisher?"
Vor dem Schreibtisch, vom Schattenspiel der Jalousie getigert, sitz ein anderer Mann. Trägt ebenfalls einen dunklen Anzug. Seine randlose Brille fängt einen Lichtstreifen ein, zeigt nichts als spiegelndes Glas.
Ein dunkler Schemen mit blitzenden Augen.
"Einhundert Prozent.", antwortet er.
"ALLE?", fast ein Schrei. Dann wieder ruhig: "Kann es am Test liegen? Herrgott. Es können doch unmöglich alle betroffen sein!"
"Das haben wir als erstes bedacht. Wir haben die Tests wiederholt. Einige meiner Techniker meldeten sich freiwillig.", der Mann bewegt sich, die Brille blitzt, er fährt kurz unsicher mit der Zungenspitze über die Unterlippe. "Auch hier: Hundert Prozent."
"Das ist doch lächerlich! Was sagten ihre Probanden dazu?"
"Die Subjekte stritten es ab. Und die Möglichkeit, dass sie von ihrem Austausch gar nichts wissen, liegt nahe!"
"Oder dass der Test gar nichts beweist! Ist er denn absolut sicher? Ihre eigenen Techniker! Wahllos heimlich getestete Führungspersönlichkeiten - alle positiv. Das kann doch nicht stimmen, Beck!"
Der angesprochene Mann windet sich unbehaglich auf seinem Stuhl.
"Der Test ist absolut fehlerfrei. Direktor Seifarth, uns bleibt keine andere Wahl. Wir müssen der Wahrheit ins Auge blicken. Alle unserer bisher getesteten Spitzenleute stehen unter fremden Einfluss!"
Stille.
Die Klimaanlage summt unregelmäßig weiter.
Seifarth widersteht der impulsiven Handlung an den Nägeln zu kauen.
Beck beugt sich leicht vor. "Irrtum ausgeschlossen!" Er betont seine Aussage.
"Haben sie ihre Techniker einem Lügentest unterworfen?"
"Ja - daher unsere Annahme, dass sie ihre Fremdsteuerung gar nicht bewusst wahrnehmen. Sich nicht erinnern können wie und wer Ihnen das eingepflanzt hat. Gute Arbeit, alles in allem. Ich vermute die anderen benutzen ein ähnliches Verfahren wie wir."
"Die heimlich Getesteten wissen nichts von ihrer Observation?"
"Nein."
"Und die positiv getesteten Techniker?"
"Beseitigt.", Unruhig, verlegen. Beck lehnt sich zurück. Scheint sich im Schatten verstecken zu wollen.
Seifarth nickt.
"Alle?"
"Nein - einen haben wir unter Arrest. Wir hoffen mehr zu erfahren. Wir halten ihn unter Sedativa."
Seifarth nickt erneut.
"Dieser verdammte Test," murmelt er.
Beck schweigt. Verschränkt die Arme.
"Und alles ist absolut sicher? Es könnte..."
"Ja. Glauben Sie mir. Ich wünschte ebenfalls, es wäre anders. Aber wir haben nahezu 10 Jahre an diesem", eine kurze Pause, "Automat", wieder eine kurze Pause, als überlege er ein besseres Laienwort," gearbeitet. Die Ergebnisse sind zuverlässig."
"Wenn also ein fremdes Bewusstsein das eigentliche Ich unterdrückt, und den Körper steuert - dann erkennen wir das?"
"So ungefähr. Ja."
"Früher war Industriespionage viel einfacher". Seifarth seufzt.
"Bevor ich das den Alten vorlegen kann", Seifarth deutet auf die Papierstapel "noch einmal ganz kurz!"
Beck nickt. Die Brille blitzt im Dunklen erneut auf. Er beugt sich wieder vor. Sieht seinen Vorgesetzten direkt an.
"Im wesentlichen suchten wir nach einer Methode bei uns eingeschleuste Konkurrenten zu finden. Wir haben vor über zehn Jahren damit begonnen leitende Angestellte fremder Firmen einem kompliziertem Verfahren zu unterwerfen, um sie für uns spionieren lassen - ohne dass sich dessen bewusst waren. Wenn wir das können, können dies auch die anderen. Darum suchten wir nach einer Möglichkeit herauszufinden, heimlich zu prüfen, wessen Körper ein Über-Ich aufgepfropft bekommen hatte. Mit 99,99997 Prozenttiger Wahrscheinlichkeit können wir nun erkennen ob der Körper nur ein Wirtskörper für ein Fremdbewusstsein darstellt."
Seifarth erwidert Becks Blick.
"Ich sage dies nur sehr ungern, aber - testen Sie die Alten!"
"Die Vorstände?", Beck scheint ehrlich entsetzt.
"Die Vorstände!"
"Dies ist absolut vertraulich!"
Seifarth hat die Hände auf den großen Tisch gestemmt. Sucht zu jedem einzelnen Blickkontakt.
Nervöses Räuspern, Stühle rücken, Papier rascheln. Um den runden Tisch sitzen acht ältere Männer. Anzüge aus teurem, dunklen Stoff, modisch geschnitten. Vor Ihnen liegen dunkle Mappen aus Kunstleder, einige Blätter sehen daraus hervor.
Neben Seifarth steht in niedergeschlagen wirkender Haltung Beck. Seine Hände klammern sich an den Videobeamer. Nesteln nervös daran herum. Tasten weiter zu der grauen kleinen Fernbedienung.
In den Decken eingelassene, versteckte Lampen beleuchten dezent den fensterlosen Raum. Von irgendwoher ertönt ein monotones Summen, knapp überhalb der Wahrnehmungsschwelle. Ein elektronisches Störsendergerät. Übertragungen nach draußen oder Mitschnitte werden unterbunden.
"Danke für Ihr Kommen!"
"Sparen Sie sich das, Seifarth. Sie sagten es sei wichtig für den Konzern. Dr. Beck neben ihnen verheißt nichts Gutes." Ein älterer Mann. Graumeliertes Haar.
"Wie alles aus der Abteilung Fremdaquise." Unbehagliches Lachen.
"Dr. Leis - ich versichere Ihnen", Seifarth spricht eindringlich, "Ihnen allen dass wir hier etwas Großes haben!"
Er nickt Beck zu.
"Dr. Beck!"
Seifarth setzt sich, während Beck nervös seine Hände zusammenlegt.
"Dr. Leis, Direktor Grams, Direktor Lorenczyk, Direktor Hinomura,...", er begrüßt die Vorstände, schwitzt.
"Direktor Seifarth konnte ihnen den letzten 4 Jahren regelmäßig Datenmaterial unterbreiten, das uns in die Lage versetzte, Produkte ohne nennenswerten Aufwand an Forschungsmitteln am Markt zu platzieren - vor unseren Konkurrenten."
Er nestelt an der Fernbedienung. Dimmt das Licht herunter. Bläulich flackert die Leinwand vor dem Videobeamer.
"Ja - unsere Rechtsanwälte hatten allerhand zu tun." Dr. Leis. Ein leises und kurzes Lachen.
"Unsere Schläfer..." Direkter Hinomura.
"Allerdings. Bereits seit geraumer Zeit suchten wir gleichzeitig nach einer Methode uns selbst vor Einschleusungen zu schützen."
Beck leckt sich nervös die Lippen.
"Was wollen Sie uns sagen - das wir selber Läuse im Pelz haben? Dann richten Sie sie wieder gerade. Polen Sie sie wieder um, Herrgott." Direktor Grams.
"So einfach ist das nicht, fürchte ich."
Der Videobeamer summt. Grafiken färben die Leinwand.
"Der Prozess ist unumkehrbar. Aber das ist nicht der Grund warum sie heute hier sind. Sie sollten sich das folgende Video ansehen."
Irgendwo im Raum knackt ein Lautsprecher. Auf der Leinwand sieht man einen Mann mittleren Alters im Technikerkittel.
Er sitzt in eine Maschine geschnallt. Dünne Schläuche führen von seinen Armen in den Bauch der Anlage. Sie scheinen sich zu bewegen. Flüssigkeiten zu transportieren. Sein Kopf ist gespickt mit haarfeinen, Unterarmlangen farbig codierten Nadeln mit nahezu unsichtbaren Drähten.
Die Augen sind geschlossen. Die Lider zucken. Aus dem Mund läuft Speichel.
"Der Techniker wurde als Schläfer enttarnt. Wir haben einen Automat, der dies bewerkstelligen kann. Dieser Apparat hier aber sollte das fremde Bewusstsein isolieren und von eigentlichen Körper-Ich lösen..", erklärt Dr. Beck aus dem Dunkeln neben der Leinwand.
Eine körperlose Stimme bedrängt den Techniker:
"Wer sind sie?"
"Das wissen sie genau. Ich bin Carl Anderson. Techniker. Himmel, schnallen Sie mich von diesem Ding los - es tut höllisch weh!"
"Wer sind sie?"
"Carl Anderson! Carl Anderson! Es schmerzt!"
"Sie sind nicht Carl Anderson. Carl Anderson schläft. Er kann gar nicht antworten! Wer sind sie?"
"Was? Was? Ich BIN Carl Anderson! Ich bin Carl Anderson!...."
Dr. Beck unterbricht kurz. Spult vor. Erklärt.
"Die psychologische Dissoziation wurde fortgesetzt. Das Über-Ich sollte letztlich vom eigentlich Ich getrennt, isoliert, werden, - um es beispielsweise löschen zu können. Herr Anderson wurde dazu über viele Tage mit verschiedensten Halluzinogenen, bewusstseinsverändernden Substanzen und Enzymen behandelt - die genaue Zusammensetzung finden Sie in der Auflistung vor Ihnen. Sie sehen jetzt gleich die letzten Sequenzen, das Fremd-Ich wurde vom Wirtskörper getrennt, während das eigentliche Ich erwachen konnte..."
Der Techniker wirft sich in seinen elektronischen Fesseln hin und her. Längere Bartstoppeln lassen das ausgemergelte Gesicht blass und abgespannt wirken.
"Wer sind sie?"
"Carl Anderson!" Und gleich darauf verursacht der Mann tierische und laute Schreie. Wie ein gereizter Pavian. Unmenschlich und erschreckend. Er scheint sich wieder in den Griff zu bekommen. Seine Kopf baumelt müde und will auf die Brust sinken, wird von den langen Nadeln gehindert.
"Hören Sie: Ich bin Carl Anderson! Ich steuere diesen Körper", er wird von den eigenen schnatternden und wütenden Schreien unterbrochen, zuckt hin und her, bekommt die Kontrolle zurück: "ICH steuere diesen Körper, SIE den Ihren! Wir sind gleich! In den letzten Tage ist etwas", wieder die wilden unkontrollierten Zuckungen und das tierische Brüllen, "ist etwas geschehen. Ich habe mich erinnert. Das kollektive Erinnern unserer Spezies! Die Maschine hier hat die Verankerungen gelöst. Ich kann mich hier nicht mehr lange halten. Wir haben diese Körper vor über Drei Millionen Jahre übernommen! WIR sind die Menschen. Ein parasitäres Bewusstsein. Eingebettet in die Körper dieser humanoiden Wesen. Denken Sie nach! Astralwanderung, das instinktive Trennen von Geist und Körper in unserer Kultur, die Seele, Über-Ich und Unter-Ich; die Erkenntnis, dass unserer Körper täglich eigenständig agiert und erst nach den Handlungen unser ICH verständigt, etwas getan zu haben - belegbar mit den Messungen der Hirnströme; Schizophrenie, Widergeburt - die Menschheit sind wir. Eine hochentwickelte körperlose Existenz in den Körpern dieser", und wieder ein Ausbruch wilden Schreiens und Tobens, "ich werde schwächer. Vernichten Sie diese Maschine. Sie rüttelt an unserer Herrschaft über die Wirtskörper."
Ganz plötzlich verstummt Techniker. Dann schüttelt er sich wild und reißt seinen Kopf nach vorn. Immer wieder. Dabei stößt er wilde Schmerzensschrei aus.
Das Bild wird dunkel. Das Licht im Raum dimmt herauf.
"Was soll das, Beck?", schreit Direktor Grams.
"Meine Herren, es stimmt", flüstert leise und resigniert Seifarth.
"Sehen Sie in Ihre Mappen. Wir haben sämtliche Mitarbeiter, einschließlich Ihnen und mich, überprüft. Dazu tausende Menschen auf der Straße - Alle werden vom Test als fremdbefallen erkannt."