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Das überflüssige Pfund (überarbeitet)
Es war geradezu unheimlich...
Der Mensch setzte sich an die Saftbar, trocknete sich mit einem Handtuch den Schweiß ab, der überaus reichlich durch die Poren der Stirn drang. Schnaufend, beinahe jauchzend ließ er die Baumwolle über Nacken und Schenkel gleiten.
Das überflüssige Pfund verkrümelte sich derweil in den Bauchansatz und hoffte, nicht entdeckt zu werden. Sein Dasein war nur noch eine Flucht. Seit einem Jahr durchlebte es die reinste Hölle. Eine Hölle, in der Obst, blanchiertes, fast noch rohes Gemüse, alle Arten von Körnern, Molkedrinks, Salat und Brottrunk die Hauptrolle spielten.
Es war ein wunderschöner Samstagmorgen, als das Unheil seinen auf nahm und die Freundin seines Menschen die grandiose Idee hatte, das süße Leben durch exzessive Sporteinlagen und gesunde Ernährung zu malträtieren.
...
»Also Gisela, du kannst doch einfach mal mit mir mitkommen. Nur für ’ne halbe Stunde. Ich lauf auch ganz langsam.«
»Na ja, ich weiß nicht. Meine Knochen sind dafür bestimmt viel zu schwer. Isst du dein Nutellabrötchen noch?«
»Sag mal, willst du mir erzählen, dass du dir gefällst? So? Also...«
»Wie meinstn das jetzt?«
»Du bist ganz schön korpul... Dick, du bist richtig dick geworden.«
»Wir sprechen uns wieder, wenn du eine Geburt hinter dir hast.«
»Dein Sohn ist achtzehn.«
»Kann ich mir nicht einfach einen breiteren Spiegel kaufen?«
»Ist dein Mann noch scharf auf dich?«
»Wann soll’s losgehen?«
Zuerst war es Gudrun, danach Holger. Eine Woche später waren Rosi, Renate, Uschi und Karsten verschwunden. Anfangs wusste niemand wohin sie verschwanden, bis das überflüssige Pfund eine schreckliche Befürchtung äußerte.
»Das liegt am Joggen.«
»Was?« fragte Hannes, von hundertprozentigem Unwissen erfüllt.
»Tschokkn? Ist das ’ne neue Schokolade? Kenn ich nicht. Schmeckt die?« Achim, der vorwiegend die Reiterhosen bildete, verstand wie immer alles falsch.
Auch die restlichen Pfunde kratzten sich an ihren metaphorischen Köpfen und blickten einander ratlos an. Das überflüssige Pfund führte seine Befürchtungen weiter aus.
»Unser Mensch treibt Sport!«
Ein Raunen schlotterte sich von der Hüfte, über den Bauch, bis zu den Schenkeln und strandete im Po.
»Und außerdem gibt es schon seit Wochen keine Chips oder lecker Fleisch zu essen. Die Jungs vom Gaumen haben schon Beschwerde eingereicht und die Kumpel vom Magendarmtrakt, müssen ihre Arbeitsweise auf alternative Energiequellen umstellen.«
Nun strömte von allen Fettablagerungen besorgtes Gemurmel.
»Ihr wisst, dass Rosi eine lebensfrohe Specklage war. Wenn einer ein Problem hatte, konnte man sich an ihrer Fettschicht ausweinen.«
Zustimmendes Geflüster drang aus allen Ecken.
»Rosi wurde weggelaufen. Sie wird nie wieder kommen, wenn das so weitergeht. Und was noch viel schlimmer ist...« Das überflüssige Pfund ließ seinen imaginären Kopf sinken und Besorgnis erfüllte den Ton seiner Stimme. »Wenn das so weitergeht, wird keiner mehr übrig bleiben. Wir alle werden nach und nach verschwinden.«
...
Die Zeiten waren vorbei, in denen der Wein und das Bier in Strömen floss, die Knabbereien kein Ende zu nehmen schienen und die größte Anstrengung darin bestand, das Bett und ab und zu die Toilette zu erreichen. Herrliche Jahre des Nichtstuns, reiner Freude und Faulheit lagen nun hinter dem Pfund aber die Zeiten wurden immer beschwerlicher. Nachdem alle übrigen Pfunde verschwunden waren, verging kaum ein Tag, ohne dass es sich Gedanken darum machen musste, wie es überleben kann. Jeden Morgen wanderte es in den hinteren Hüftbereich um nicht im Spiegel bemerkt zu werden. Zum Frühstück verlagerte es sich in den Bauchansatz, immer in der Hoffnung unentdeckt zu bleiben und dass der Mensch vielleicht ein wenig Honig in das Kleiemüsli macht. Manchmal war es besonders Ekel erregend, denn wenn eine kleine Schüssel mit Haferflocken und Magerjoghurt gefüllt wurde, war der Tag schon zu Anfang gelaufen. Leider setzte sich dieser Stress zum Mittag und Abendbrot fort. Nur noch wenige lichte Momente waren geblieben, etwa wenn der Mensch zum Essen oder ins Kino eingeladen wurde. Vielleicht mal ein wenig Popcorn – ungezuckert und natürlich ohne Butter. Aber schon am nächsten Tag meldete sich das schlechte Gewissen und es wurde gefastet und Unmengen stilles Wasser beschleunigten den Entschlackungseffekt – kombiniert mit einer zusätzlichen Spinningeinheit oder Nordic Walking.
»Na, alles klar?« Die Bedienung an der Saftbar erkundigte sich mit mäßigem, jedoch vertraglich festgelegtem Interesse nach dem Befinden des Menschen, während er ein Glas abtrocknete. Er versuchte auch das vertragliche Lächeln unterzubringen, was allerdings nicht sehr gut gelang.
»Mir geht’s hervorragend. So ein Workout ist zwar anstrengend, aber man fühlt sich einfach fantastisch.«
Der Barkeeper lehnte sich vor, stützte sich mit dem Ellenbogen auf den Tresen und sah dem Menschen tief in die Augen.
»Das ist toll«, beteuerte er. »Aber es interessiert mich ehrlich gesagt nicht im Geringsten.«
»Hach, ich bin so voller Endorphine, ich bin viel zu glücklich, um Ihnen böse zu sein.« Der Mensch grinste und goss sich Saft in ein Glas.
»Schön, dann schlage ich Ihnen vor, dass Sie ihren Saft austrinken und duschen gehen, denn Ihr Geruch ist äußerst ekelhaft. Sie können ja morgen wiederkommen und Ihre restlichen Pfunde abtrainieren.« Der Mensch lächelte.
Das überflüssige Pfund dachte es höre nicht richtig. Sprach der Typ eben von Pfund in der Mehrzahl? Es musste sich gleich mal umschauen, ob einer seiner verlorenen Freunde wieder eingetroffen ist. Es bewegte sich vom Bauch zu den Schenkeln über den Po, hoch zu den Hüften und steuerte auf die Brust zu.
Der Mensch trank derweil seinen Saft aus und lächelte den übellaunigen Barkeeper an.
Das Glas sauste am Kopf des Bartenders vorbei und krachte splitternd in die Vitrine. In diesem Moment blieb das überflüssige Pfund im Hals stecken. Es hatte sich während dieser Attacke im Fettgewebe verklemmt und konnte sich nicht mehr fortbewegen.
Der Mixer ließ das Trockentuch und das Glas fallen. Sein Mund stand offen und seine Augen starrten auf den Hals des Menschen. Der Anblick, der sich ihm bot, hätte wahrscheinlich jeden in ein glotzendes, vielleicht auch sabberndes Etwas verwandelt.
Denn wenn jemandem urplötzlich ein halbes Kilo unter dem Kinn hängt, ist das mit Sicherheit ein Fall für den Jahrmarkt.
»D... d... da... Hals... dick...« Ein gluckerndes Gurgeln ging dem Fall voraus und endete in einem kristallenen Knirschen, als der Barkeeper beschloss ohnmächtig zu werden.
Das überflüssige Pfund versuchte sich währenddessen noch immer aus dieser misslichen Lage zu befreien. Es rüttelte und rang sich herum bis ein gellender Schrei das Fitnessstudio erschütterte. Der Mensch hatte sein Gesicht in einer der Scherben der zerbrochenen Spiegel entdeckt. Nun erkannte das überflüssige Pfund, dass es aufgespürt worden war.
Jetzt ist alles aus, dachte es angsterfüllt. Nun werde auch ich abtrainiert werden und niemals meine Freunde wieder sehen, waren seine einzigen Gedanken.
Einige Tage später.
Alles kam anders. Das überflüssige Pfund hatte sich so sehr im Hals des Menschen verkrampft, dass es mehrere Tage brauchte, um sich zu befreien. Der Mensch kam mit dieser Situation nicht zurecht. Jedwede sportive Betätigung (am Ende war die Verzweiflung so groß, dass er ernsthaft in Erwägung zog, Synchronschwimmen als Ausdauersport zu betreiben), alle Brigitte- und Bild der Frau-Diäten, halfen nichts – das Pfund war im wahrsten Sinne ein überflüssiges und da gesunde Ernährung teuer erkauft werden musste, fiel die Fettabsaugung flach.
Der Mann war ebenso wenig vom dicken Hals des Menschen angetan.
»Igitt, mit so etwas Hässlichem will ich nichts mehr zu tun haben. Ich liebe dich zwar und du hast einen tollen Charakter aber ich kann dich nicht mehr ausstehen. Dein Hals ist so abartig. Tut mir leid aber für mich wiegen die äußeren Werte mehr. Mach’s gut.«
Das waren seine letzten Worte, bevor er seiner zwanzigjährigen Italienerin an den Po fasste und sie mitsamt den Koffern aus der Haustür schob.
Melancholie paarte sich mit Schokokeksen. Das gebrochene Herz ging einen Pakt mit Erdnussflips und deutschem Tafelwein ein. Tränen wurden durch Bier ersetzt und die schleichende Depression wurde mit Steak, Schnitzel, Kartoffelsalat, Spiegeleiern, Currywurst und Döner mit Zwiebeln, Knoblauch und viel Scharf bekämpft.
Der Mensch hatte sich nun schon seit drei Wochen nicht mehr im Fitnessstudio sehen lassen. Jogging war nur noch angesagt, wenn der Druck in der Blase bis zur letztmöglichen Sekunde aufrechterhalten wurde. Der restliche Tag wurde mit Videos, Eiskrem, Pizza und sämtlichem Junkfood garniert, das die nähere Umgebung zu bieten hatte.
Mit Hilfe von Rosi, Holger, Achim und Uschi, gelang es dem überflüssigen Pfund, sich aus dem Hals zu befreien. Es war wunderbar, alle waren wieder zurückgekehrt und feierten eine lange währende Party.
Ein Jahr später mussten sich die Pfunde über die Bedrohung einer fetten Überbevölkerung Gedanken machen.