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Das alltägliche Leben
„Isabella, du bist ¡completamente loco! Du bist total verrückt, du kannst ihn nicht heiraten!“
Ja, so kannte ich Maria, wie sie aufgebracht vor mir stand, mit den Händen gestikulierend. Es war der Geburtstag meines Vaters, vor wenigen Augenblicken hatte er unseren Gästen mitgeteilt, dass ich Miguel heiraten werde. Wir hatten getanzt, doch irgendwie konnte selbst der fröhliche Rhythmus spanischer Musik meine gedrückte Stimmung nicht verbessern. Unter einem Vorwand war ich in das Haus gegangen, Maria folgte mir in mein ehemaliges Kinderzimmer.
„Was hast du gegen ihn?“
„¡Vaya pregunta! - Welch Frage! Er ist langweilig, ¡muy aburrido! Er passt nicht zu dir, deinen Ideen und Idealen. Du bist eine Autorin, willst du ihm ein Leben lang beim Autopolieren zusehen?“
Ich musste lachen. ¡Muy aburrido! - Maria rollte das ‚r’ so intensiv, als ob sie alle Langweiler der Welt zersägen wollte.
„Maria - er ist treu, er ist zuverlässig. Miguel steht mit beiden Beinen fest auf der Erde. Ich muss ihn heiraten und will es auch.“
„Aber du hattest José, warst vor einigen Wochen, ¡solo hace unas semanas! mit ihm in Asturien, um eure Zukunft zu planen!“
Wann war das gewesen? Wie schnell kann eine Welt durch eine andere ersetzt werden? Was hatte die Vergangenheit mit dem Heute zu tun? Die Vergangenheit hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin, jemand, der Miguel heiratet.
„Gut, Maria - du denkst so an Asturien, wie wir das Land früher alle zusammen erlebt haben. Ich werde dir sagen, welche Erfahrungen ich an diesem eigentlich schönen Ort gemacht habe. Du weißt, ich liebe die alte Bauernkate meiner Großmutter, die grauen Mauersteine, die Steindächer, auf denen feiner Nebel einen feuchten Glanz hinterlässt. Dies schien uns der richtige Ort zu sein, um unsere Ideen zu entwickeln, unserem sozialen Engagement, wie es mein Partner ausdrückte, ein ‚politisches Fundament’ zu geben. Wir schliefen lange, tranken Wein und lachten über los trasgus, die asturischen Kobolde, die wohl an der Unordnung in unserem Häuschen schuld waren.
Dann geschah es immer öfter - du weißt, José kann äußerst akribisch sein: Er wollte nicht die Organisation unserer Projekte besprechen, er wollte Dinge an sich erfassen. ‚Schau dich um’, pflegte er zu sagen, ‚wo finde ich Wahrheit? Welchen Erkenntnissen kann man vertrauen?’ ‚Illusionen sind kein Floß’ war eine seiner Standardaussagen, er meinte, sie taugten nicht als ‚Überlebenshilfe im Fluss des kritisch betrachteten Lebens’.
‚Gott ist eine Erfindung der Menschen, die Projektion ihrer Ängste und Hoffnungen. Nur die Logik, außerdem die Wissenschaft, kann uns weiterbringen’. ‚Wie denn’, fragte ich ihn, ‚du weißt doch, dass selbst in einem in sich schlüssigen System immer unbewiesene Aussagen enthalten sind, ein Metasystem ist zum weiteren Verständnis nötig’. Um etwas zu sticheln fügte ich hinzu: ‚Und in diesem ist Gott verborgen, oder es führt zu ihm, das ›donc Dieu non existe‹ ist auch deshalb nicht bewiesen’.
Er versuchte mit Hilfe verlässlicher Gesetzmäßigkeiten Möglichkeiten für Vorhersagen zu haben, somit eine ordnende Struktur für Erkenntnisse zu schaffen. Dieses Bestreben war natürlich zum Scheitern verurteilt. Effekte, welche statistischen Gegebenheiten folgen, passten nicht zum Bild kausalmechanischen Denkens. Die Unbestimmbarkeit und Diskontinuität von Quanteneffekten verbot die Frage nach dem, ‚was wirklich ist’. Ich überlegte, ob das menschliche Bedürfnis auf das ›Warum‹ eine Antwort zu erhoffen, letztlich eine abwegige Entwicklung darstellt. Unbeeindruckt davon entwarf José analog zur Physik die Idee von einer ‚quantenmechanischen Art des Denkens’: Wenn wir über etwas nachdenken, wird dann dadurch das Objekt verändert? Erscheint es anders als es ohne unser Nachdenken wäre? Welche Vorstellungen befinden sich zwischen unseren letztlich sprunghaften Gedanken? Letztendlich ging unsere Diskussion wieder um das Problem, unter welchen Umständen sich unser Denken vollzieht, inwieweit dieser Vorgang von äußeren Gegebenheiten bestimmt wird.
Wir waren beide total niedergeschlagen, als wir mit allen Konsequenzen akzeptieren mussten, was uns schon lange ahnungsvoll bewusst war: Wir Suchenden kommen der Wahrheit nicht näher, empirisch bestimmbare Wirklichkeit gibt es letztlich nicht. Uns ist lediglich eine Antwort auf das, was wir gefragt haben, vergönnt. Fragen wir das Richtige? Können wir das überhaupt? Er vermutete, dass jeder, der fragt, seine eigene Wahrheit zur Antwort bekommt, abhängig von seinen persönlichen Umständen. Wir hatten die Unschuld des ›es ist‹ verloren, während wir vom Baum der Erkenntnis aßen. Schließlich sagte ich ‚wir müssen aufhören, nach dem Wesen der letzten Dinge zu fragen, für wahr annehmen, was sich im alltäglichen Leben bewährt’. José sah mich erstaunt an, als ob er gerade die dreißig Silberlinge bei mir gefunden hätte.
Die Erkenntnis, ohne Gewissheit leben zu müssen, zerstörte ihn selbst, seine Ideale. Einfach ‚nur glauben’, so nannte er dies, war ihm verwehrt. Es gibt nichts Verlässliches, wie konnte er sich selbst ausnehmen. Schon immer hatte José mit manischer Besessenheit den Drang gehabt, etwas zu bewirken. ‚Das einzig Sichere ist Veränderung und Zweifel’, höre ich ihn heute noch sagen. Wenn diese Tatsache feststeht, dann wollte er wenigstens die Ursache der Veränderung sein, ihren Verlauf bestimmen. Doch welche Veränderung dient der Wahrheit, dem Fortschritt? Er sagte: ‚Ich würde mein Leben dafür geben, um ewig nach Erkenntnis streben zu können’. Mir kam es jedenfalls so vor, als ob Philosophie immer wieder aufs Neue entdeckt, aber dass sie nichts grundlegend Neues entdeckt. Trotzdem musste ich über die paradoxe Bemerkung schmunzeln, aber er schaute mich nur traurig an.
Auf diese Weise diskutierten wir an vielen Tagen. Oft waren wir uns auch einig. Leider hatte ich die deutliche Ahnung, dass wir uns immer weiter von einander entfernten, der gemeinsame Weg zu einem von mir und José erstrebten Ziel schien immer unmöglicher. Unsere Gemeinsamkeiten verschwanden ganz allmählich, wie die uns umgebenden Täler, wenn sie sich abends mit Nebel füllten, bis sie grau zugedeckt in der Nacht verschwanden. Natürlich gab es auch Lichtblicke. Manchmal gingen wir schweigend, einfach zufrieden, durch die blühenden Wiesen der Berghänge.
Eines Abends, ganz nebenbei, sagte José ‚Gewalt ist keine Illusion’, im selben Moment wusste ich, alles ist vorbei. Worte können Beziehungen in Schutt und Asche legen, Vertrauen auslöschen, als hätte es nie existiert. Ohne ein Wort zu wechseln legten wir uns schlafen, am nächsten Morgen war er gegangen. Zwei Wochen später explodierte eine Bombe in Barcelona. Er hatte schon lange gewisse Kontakte, meine Vermutungen darüber, die nagenden Zweifel, begruben den Rest meiner Liebe.
Maria umarmte mich, sie weinte leise. Kaum verständlich fragte sie: „Was wirst du jetzt tun?“
Ich stand auf und blickte meiner Freundin in die Augen, spürte meine, ihre, unsere Tränen. Wir weinten beide, wenn auch nur ein wenig, während ich ihr antwortete:
La vida cotidiana -
limpiar las ventanas
trabajar y orar, más o menos
conducir el coche o
extraviar las llaves
olvidar
la muerte
Das alltägliche Leben -
die Fenster putzen
arbeiten und beten, mehr oder weniger
das Auto steuern oder
die Schlüssel verlegen
vergessen
den Tod