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Das alltägliche Leben

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18.04.2002
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Das alltägliche Leben

„Isabella, du bist ¡completamente loco! Du bist total verrückt, du kannst ihn nicht heiraten!“
Ja, so kannte ich Maria, wie sie aufgebracht vor mir stand, mit den Händen gestikulierend. Es war der Geburtstag meines Vaters, vor wenigen Augenblicken hatte er unseren Gästen mitgeteilt, dass ich Miguel heiraten werde. Wir hatten getanzt, doch irgendwie konnte selbst der fröhliche Rhythmus spanischer Musik meine gedrückte Stimmung nicht verbessern. Unter einem Vorwand war ich in das Haus gegangen, Maria folgte mir in mein ehemaliges Kinderzimmer.
„Was hast du gegen ihn?“
„¡Vaya pregunta! - Welch Frage! Er ist langweilig, ¡muy aburrido! Er passt nicht zu dir, deinen Ideen und Idealen. Du bist eine Autorin, willst du ihm ein Leben lang beim Autopolieren zusehen?“
Ich musste lachen. ¡Muy aburrido! - Maria rollte das ‚r’ so intensiv, als ob sie alle Langweiler der Welt zersägen wollte.
„Maria - er ist treu, er ist zuverlässig. Miguel steht mit beiden Beinen fest auf der Erde. Ich muss ihn heiraten und will es auch.“
„Aber du hattest José, warst vor einigen Wochen, ¡solo hace unas semanas! mit ihm in Asturien, um eure Zukunft zu planen!“
Wann war das gewesen? Wie schnell kann eine Welt durch eine andere ersetzt werden? Was hatte die Vergangenheit mit dem Heute zu tun? Die Vergangenheit hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin, jemand, der Miguel heiratet.
„Gut, Maria - du denkst so an Asturien, wie wir das Land früher alle zusammen erlebt haben. Ich werde dir sagen, welche Erfahrungen ich an diesem eigentlich schönen Ort gemacht habe. Du weißt, ich liebe die alte Bauernkate meiner Großmutter, die grauen Mauersteine, die Steindächer, auf denen feiner Nebel einen feuchten Glanz hinterlässt. Dies schien uns der richtige Ort zu sein, um unsere Ideen zu entwickeln, unserem sozialen Engagement, wie es mein Partner ausdrückte, ein ‚politisches Fundament’ zu geben. Wir schliefen lange, tranken Wein und lachten über los trasgus, die asturischen Kobolde, die wohl an der Unordnung in unserem Häuschen schuld waren.
Dann geschah es immer öfter - du weißt, José kann äußerst akribisch sein: Er wollte nicht die Organisation unserer Projekte besprechen, er wollte Dinge an sich erfassen. ‚Schau dich um’, pflegte er zu sagen, ‚wo finde ich Wahrheit? Welchen Erkenntnissen kann man vertrauen?’ ‚Illusionen sind kein Floß’ war eine seiner Standardaussagen, er meinte, sie taugten nicht als ‚Überlebenshilfe im Fluss des kritisch betrachteten Lebens’.

‚Gott ist eine Erfindung der Menschen, die Projektion ihrer Ängste und Hoffnungen. Nur die Logik, außerdem die Wissenschaft, kann uns weiterbringen’. ‚Wie denn’, fragte ich ihn, ‚du weißt doch, dass selbst in einem in sich schlüssigen System immer unbewiesene Aussagen enthalten sind, ein Metasystem ist zum weiteren Verständnis nötig’. Um etwas zu sticheln fügte ich hinzu: ‚Und in diesem ist Gott verborgen, oder es führt zu ihm, das ›donc Dieu non existe‹ ist auch deshalb nicht bewiesen’.
Er versuchte mit Hilfe verlässlicher Gesetzmäßigkeiten Möglichkeiten für Vorhersagen zu haben, somit eine ordnende Struktur für Erkenntnisse zu schaffen. Dieses Bestreben war natürlich zum Scheitern verurteilt. Effekte, welche statistischen Gegebenheiten folgen, passten nicht zum Bild kausalmechanischen Denkens. Die Unbestimmbarkeit und Diskontinuität von Quanteneffekten verbot die Frage nach dem, ‚was wirklich ist’. Ich überlegte, ob das menschliche Bedürfnis auf das ›Warum‹ eine Antwort zu erhoffen, letztlich eine abwegige Entwicklung darstellt. Unbeeindruckt davon entwarf José analog zur Physik die Idee von einer ‚quantenmechanischen Art des Denkens’: Wenn wir über etwas nachdenken, wird dann dadurch das Objekt verändert? Erscheint es anders als es ohne unser Nachdenken wäre? Welche Vorstellungen befinden sich zwischen unseren letztlich sprunghaften Gedanken? Letztendlich ging unsere Diskussion wieder um das Problem, unter welchen Umständen sich unser Denken vollzieht, inwieweit dieser Vorgang von äußeren Gegebenheiten bestimmt wird.
Wir waren beide total niedergeschlagen, als wir mit allen Konsequenzen akzeptieren mussten, was uns schon lange ahnungsvoll bewusst war: Wir Suchenden kommen der Wahrheit nicht näher, empirisch bestimmbare Wirklichkeit gibt es letztlich nicht. Uns ist lediglich eine Antwort auf das, was wir gefragt haben, vergönnt. Fragen wir das Richtige? Können wir das überhaupt? Er vermutete, dass jeder, der fragt, seine eigene Wahrheit zur Antwort bekommt, abhängig von seinen persönlichen Umständen. Wir hatten die Unschuld des ›es ist‹ verloren, während wir vom Baum der Erkenntnis aßen. Schließlich sagte ich ‚wir müssen aufhören, nach dem Wesen der letzten Dinge zu fragen, für wahr annehmen, was sich im alltäglichen Leben bewährt’. José sah mich erstaunt an, als ob er gerade die dreißig Silberlinge bei mir gefunden hätte.

Die Erkenntnis, ohne Gewissheit leben zu müssen, zerstörte ihn selbst, seine Ideale. Einfach ‚nur glauben’, so nannte er dies, war ihm verwehrt. Es gibt nichts Verlässliches, wie konnte er sich selbst ausnehmen. Schon immer hatte José mit manischer Besessenheit den Drang gehabt, etwas zu bewirken. ‚Das einzig Sichere ist Veränderung und Zweifel’, höre ich ihn heute noch sagen. Wenn diese Tatsache feststeht, dann wollte er wenigstens die Ursache der Veränderung sein, ihren Verlauf bestimmen. Doch welche Veränderung dient der Wahrheit, dem Fortschritt? Er sagte: ‚Ich würde mein Leben dafür geben, um ewig nach Erkenntnis streben zu können’. Mir kam es jedenfalls so vor, als ob Philosophie immer wieder aufs Neue entdeckt, aber dass sie nichts grundlegend Neues entdeckt. Trotzdem musste ich über die paradoxe Bemerkung schmunzeln, aber er schaute mich nur traurig an.
Auf diese Weise diskutierten wir an vielen Tagen. Oft waren wir uns auch einig. Leider hatte ich die deutliche Ahnung, dass wir uns immer weiter von einander entfernten, der gemeinsame Weg zu einem von mir und José erstrebten Ziel schien immer unmöglicher. Unsere Gemeinsamkeiten verschwanden ganz allmählich, wie die uns umgebenden Täler, wenn sie sich abends mit Nebel füllten, bis sie grau zugedeckt in der Nacht verschwanden. Natürlich gab es auch Lichtblicke. Manchmal gingen wir schweigend, einfach zufrieden, durch die blühenden Wiesen der Berghänge.
Eines Abends, ganz nebenbei, sagte José ‚Gewalt ist keine Illusion’, im selben Moment wusste ich, alles ist vorbei. Worte können Beziehungen in Schutt und Asche legen, Vertrauen auslöschen, als hätte es nie existiert. Ohne ein Wort zu wechseln legten wir uns schlafen, am nächsten Morgen war er gegangen. Zwei Wochen später explodierte eine Bombe in Barcelona. Er hatte schon lange gewisse Kontakte, meine Vermutungen darüber, die nagenden Zweifel, begruben den Rest meiner Liebe.
Maria umarmte mich, sie weinte leise. Kaum verständlich fragte sie: „Was wirst du jetzt tun?“
Ich stand auf und blickte meiner Freundin in die Augen, spürte meine, ihre, unsere Tränen. Wir weinten beide, wenn auch nur ein wenig, während ich ihr antwortete:

La vida cotidiana -
limpiar las ventanas
trabajar y orar, más o menos
conducir el coche o
extraviar las llaves
olvidar
la muerte

Das alltägliche Leben -
die Fenster putzen
arbeiten und beten, mehr oder weniger
das Auto steuern oder
die Schlüssel verlegen
vergessen
den Tod

 

Man kann fast alle Dinge mit der Quantentheorie erklären, vieles macht Sinn. Was aber wenn Protonen und Elektronen unbestimmbar bleiben?

Viele Dinge kann man nicht mit der Quantentheorie erklären, vor allem keine Qualitativen Systemeigenschaften. (D.h, ein sehr kompliziertes System, mit dem ich kommunizieren kann, könnte zum Beispiel behaupten, es wäre sich seiner selbst bewusst. Diese Eigenschaft, des sich selbst bewusst seins, ist aber nur für dieses System selbst Wirklichkeit, aber nicht für mich. Ich kann lediglich dieser Behauptung glauben schenken und sie als Arbeitshypothese benutzen, um das System zu untersuchen und gewissen charakteristische Eigenschaften mit diesem zu verbinden.)
Wenn man die Quantentheorie zum "Verstehen" benutzt, dann gibt es so etwas wie ein "Proton", ein "Elektron", oder ein "Photon" nicht.

Man hat lediglich ein "System", über welches man "Informationen" erhält, die immer unvollständig sind und bestimmte durch Experimente ermittelte Eigenschaften verbindet man dann mit der Vorstellung dieser Dinge. Ein "Photon" ist demnach ein Konzept und Teil einer Theorie, aber nicht Teil der Natur, da man Theorie und Natur nicht miteinander verwechseln darf.

Das nur als kleine Anmerkung, zu der Geschichte sage ich noch etwas Woltochinon, muss jetzt aber erstmal weg.

Tschüss und schönes Wochenende, André

 
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Hallo braindead,

wenn du meinen Interpretationsansatz

Wie verhalten sich Sprache und Wirklichkeit zueinander?
Kann ich auch auf die Quantenmechanik zurückgreifen?
Wie definiere ich die Realität in der Quantenmechanik?
Welchen Bezug finde ich dieser Geschichte?

zu meiner Aussage

Man kann fast alle Dinge mit der Quantentheorie erklären, vieles macht Sinn. Was aber wenn Protonen und Elektronen unbestimmbar bleiben?
________________________________________
beziehst wirst du verstehen, dass es mir nicht um physikalische Mechanismen und Theorien gegangen ist. Vielmehr ist es die Sprachphilosophie, die mich beschäftigt hat.
Protonen und Elektronen sind sprachlich methaphorisch eingesetzt worden.

Lieben Gruß
Goldene Dame

 

Woltochinon auch dir wollte ich noch antworten, aber die Lesung gestern und meine Familie haben mich in Atem gehalten. Ich melde mich noch einmal.
Ganz lieben Gruß und immer zu verstehen:D
Goldene Dame

 

Hallo Woltochinon,
Du beantwortest meine Frage :)

Der Grund ist: Ich bin der Ansicht, dass wir nicht so frei sind, wie wir oft denken. Unsere Geisteshaltung (Sichtweise von Dingen) ist von Emotionen und historisch-philosophischen Entwicklungen bestimmt. Es wäre schön, wenn man sich dies mehr bewusst macht. Auch gedankliche Entwicklungen können sich verselbständigen.
Dem kann ich zustimmen. Ich denke aber die Menschheit an sich überfordert ist. Wer ist denn in Lage sein Bewusstsein zu öffnen Dinge zuzulassen und neu zu überdenken? Gesellschafftlich gesehen empfinde ich meine Wünsche diesbezüglich als Utopie. Dennoch sehe ich deutliche Veränderungen. Meist entwickeln sich Strömungen über Jahre hinweg, die ein Mensch als einzelner nicht erlebt. Wohin unser Weg uns führen wird? Vielleicht erleben es meine Kindeskinder.

Hier kommt die unterschiedliche Emotionalität der Protagonisten zum Tragen, fand ich echt toll, dass Du diesen wichtigen Punkt erwähnst (na, Deine Geschichten sind ja auch psychologisch ausgefeilt).
Meine Texte leben von Emotionen, Ein Leben als Pragmatikerin wäre für mich unvollstellbar. Dennoch
gönne ich mir ab und zu eine pragmatische Pause.
Ich danke Dir herzlich für Deine Gedanken, weil sie mir zeigen, dass man meine Intensionen erkennen kann. Bis zur nächsten Insel ist aber noch ein weiter Weg.
Ich gebe dir den Dank zurück, nichts ist schöner als denselben Gedanken zu teilen. Alles Gute bis zur nächsten Insel.
Goldene Dame

 
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Hallo braindead,

Du schreibst:
Wenn man die Quantentheorie zum "Verstehen" benutzt, ...

... hat (man) lediglich ein "System", über welches man "Informationen" erhält, die immer unvollständig sind ...

Aus diesem Grund ist José bei seiner Suche nach Wahrheit von der Naturwissenschaft enttäuscht. Er will nun über das Denken selbst, nicht über die Gegenstände des Denkens Klarheit gewinnen.

LG,

bis hoffentlich später,

tschüß... Woltochinon

Hallo Goldene Dame,

Zitat:
Gesellschafftlich gesehen empfinde ich meine Wünsche diesbezüglich als Utopie

Geht mir auch so...

Vielen Dank,

liebe Grüße,

tschüß... Woltochinon

Hallo T.
Ich füg die Liste hier ein, damit´s kein Aufputsch-Beitrag wird.


Anmerkungen:

„Trasgus“ - Kobolde, die auch Streiche spielen, vor allem, wenn man sie schlecht ernährt. Trasgus sind keine folkloristische Anspielung, sondern ihre Erwähnung zeigt, dass dieser ernste, rationale Mensch sogar lachen kann - wenn er sich auf irrationales, tradiertes einlässt. Mit der Rationalität verlässt er seine ursprüngliche gedankliche Heimat.

das >donc Dieu non existe< - Anspielung auf Diderot/ Euler- „donc Dieu existe; répondez!“


Ortega y Gasset: Weg vom cartesianischen Denken (ich denke, also bin ich) Denken nicht von Person, sondern auch den Umständen abhängig. Ursache - Wirkungsprinzip des cartesianischen Denkens aufgehoben.

Die Aufhebung von Ursache - Wirkung durch Quantenphysik verbindet der Protagonist in seiner Theorie des `Quantenmechanischen Denkens´. (Tunneleffekt, verschränkte Quanten, wären weitere einbeziehbare Fakten für seine Theorie).


Die Namen:

Maria: Trösterin, Allerweltsname in Spanien, Isabella spricht also zu der gesamten (Um-)welt.

Isabella: 1474- 1504, span. Königin. Neuanfang eines neuzeitlichen, spanischen Staatswesen, Mauren vertrieben (fremde Religion = das Denken von José). Pragmatismus ohne Liebe (heiratet aus Vernunftgründen). Liebe braucht Elemente des Idealismus. (Allerdings blühte unter Isabella auch die Inquisition auf).

José: Vorname Ortega y Gasset`s. Kritisiert die Isolation des denkenden Subjekts, gegen cartesianisches Weltbild. „Ich bin ich und meine Umstände“.

Miguel: Autor des Don Quixote, Gesellschaftskritik, es lohnt sich nicht, gegen Windmühlenflügel zu kämpfen. Vielleicht ist die Normalität von Miguel gar nicht so dumm und unkritisch.

Die Story zeigt die von der Philosophie abhängige gesellschaftliche Entwicklung seit der Aufklärung, die Möglichkeit der Hoffnungslosigkeit und des gesellschaftsfähigen Pragmatismus: Wahr annehmen, was sich im alltäglichem Leben bewährt.
José ist auch Pragmatiker (nachdem ihn Empirismus, Frage nach dem `Denken´ und Skeptizismus nicht voran bringen), aber fehlgeleitet in Gewalt, sich selbst zum Macht-Habenden ernennend.

Philosophische Standpunkte:
… pflegte er zu sagen, `wo finde ich Wahrheit? Welchen Erkenntnissen kann ich vertrauen?´ `Illusionen sind kein Floß´ war eine seiner Standardaussagen, er meinte, sie taugten nicht als `Überlebenshilfe im Fluss des kritisch betrachteten Lebens´.

`Gott ist eine Erfindung der Menschen, eine Projektion ihrer Ängste und Hoffnungen.

Ablehnung von Metaphysik.


Nur die Logik und die Wissenschaft können uns weiterbringen´. `Wie denn´, fragte ich ihn, `du weißt doch, dass es selbst in einem in sich schlüssigen System immer unbewiesene Aussagen geben wird, ein Metasystem ist zum weiteren Verständnis nötig´. Um etwas zu sticheln fügte ich hinzu: `Und in diesem verbirgt sich Gott, oder es führt zu ihm, das >donc Dieu non existe< ist auch deshalb nicht bewiesen´.

Glaube an mathematische Systeme wird durch Gödel widerlegt.


Dann versuchte er mit Hilfe verlässlicher Gesetzmäßigkeiten die Möglichkeit für Vorhersagen zu haben, somit eine ordnende Struktur für Erkenntnisse zu schaffen. Dieses Bestreben war natürlich zum Scheitern verurteilt. Effekte, die auf statistischen Gegebenheiten beruhten, passten nicht in das Bild kausalmechanischen Denkens, die Unbestimmbarkeit und Diskontinuität von Quanteneffekten verbot die Frage nach dem, `was wirklich ist´.

Empirismus funktioniert nicht.


Unbeeindruckt davon entwarf José dann analog zur Physik die Idee von einer `quantenmechanischen Art des Denkens´: Wenn wir über etwas nachdenken, ändert sich dann das Objekt? Erscheint es anders als es ohne unser Nachdenken wäre? Welche Vorstellungen befinden sich zwischen unseren letztlich sprunghaften Gedanken? Schließlich ging es wieder um das Problem, unter welchen Umständen sich unser Denken vollzieht,

Stellt (ähnlich Kant) nicht die Frage nach Handlungen, sondern nach dem Denken als Lösungsweg; warum wir nach dem >Warum< fragen.


… unter welchen Umständen sich unser Denken vollzieht, inwieweit es von äußeren Gegebenheiten bestimmt ist.

Ortega: Im Gegensatz zu Descartes kein unabhängig denkendes `Ich´.


Wir waren beide total niedergeschlagen, als wir mit allen Konsequenzen akzeptieren mussten, was uns schon lange ahnungsvoll bewusst war: Wir Suchenden kommen der Wahrheit nicht näher, eine empirisch bestimmbare Wirklichkeit gibt es letztlich nicht. Uns ist nur eine Antwort auf das, was wir gefragt haben, vergönnt. Fragen wir das Richtige? Können wir das überhaupt?

Skeptizismus (klassisch).

Er vermutete, dass jeder, der fragt, seine eigene Wahrheit als Antwort erhält, abhängig von seinen persönlichen Umständen.

Ortega (Yo soy yo y mi circumstancia).


Als ich schließlich sagte `wir müssen aufhören, nach dem Wesen der letzten Dinge zu fragen, als wahr annehmen, was sich im alltäglichem Leben bewährt´, da sah er mich an, als ob er gerade die dreißig Silberlinge bei mir gefunden hätte.

Pragmatismus.


Doch eines Abends, so ganz nebenbei, sagte José `Gewalt ist keine Illusion´, und ich wusste, alles ist vorbei. Worte können Beziehungen in Schutt und Asche legen, Vertrauen auslöschen, als hätte es nie existiert. Ohne noch ein Wort zu wechseln legten wir uns schlafen, am nächsten Morgen war er gegangen. Zwei Wochen später explodierte die Bombe in Barcelona.

Bei José schlägt der Pragmatismus, irregeleitet, in Gewalt um. Hier schließt sich der Kreis zum politischen Bezug vom Anfang.


Religiöse Anspielungen: Zwiespalt zwischen kultureller Verwurzelung in der Religion und ihrer Ablehnung durch logisch - naturwissenschaftliches Denken.
Baum der Erkenntnis - >es ist<: Nichts wird als gegeben akzeptiert, sondern alles hinterfragt und seziert.
`Dreißig´ Silberlinge: Jesus wird an die Römer für dreißig Silberlinge verraten. José erhebt den Anspruch, dass Isabella ihm folgen soll. Sie weiß, er fühlt sich von ihr verraten, weil sie seinen Weg nicht anerkennen will.

Meine, ihre, unsere Tränen: Leid, Mitleid, Verbunden durch Leid (Maria, `Allewelt´ und das Individuum durch Leid verbunden).

Das Gedicht:

Die Aussagen bekommen durch den letzten Satz einen anderen Stellenwert. Man kann das Gedicht `normal´ von oben nach unten lesen, einfach als Alltagsgeschehen. Oder gewissermaßen rückwärts, vom letzen Satz ausgehend.

Das alltägliche Leben besteht aus den typischen Tätigkeiten, aber auch aus der Entscheidung, wie viel Gott und wie viel Arbeit das Leben ausmachen. (Ora et labora - Benediktiner).
Man kann das Leben selbst in die Hand nehmen, oder die Schlüssel verlegen (Chance des Wiederfindens), verdrängt den Tod.
Fenster putzen = Immer wiederkehrender, alltäglicher Kampf (um das Überleben, Erkenntnis).

Maria folgt einem resignativen Pragmatismus, hier schließt sich der Kreis zu der (pragmatischen) Heirat.

 

Hallo Woltochinon,
das ist ja mal eine Geschichte, in die du außer Philosophie auch ein bisschen Poesie einfließen lässt. Z. B. " die Steindächer, auf denen der Nebel einen feuchten Glanz hinterlässt." gefällt mir sehr gut! Ich war allerdings enttäuscht, als es so plötzlich in abstrakte Gespräche umschlug und hätte lieber mehr Details über deine Paar mit so unterschiedlichen Ansichten erfahren. Was für Projekte haben sie gemeinsam durchgezogen?
"`Schau dich um´, pflegte er zu sagen, `wo finde ich Wahrheit? Welchen Erkenntnissen kann ich vertrauen?´ `Illusionen sind kein Floß´ war eine seiner Standardaussagen, er meinte, sie taugten nicht als `Überlebenshilfe im Fluss des kritisch betrachteten Lebens´."
Das sind äußerst interessante Überlegungen. Aber in eine Geschichte würde ich gerne erfahren, wo er sich umschaut, welche Illusionen er meint. Dann könnte ich dir leichter folgen und es wäre unterhaltsamer, die Philosophie wäre mit Leben gefüllt. Auch als er zum Terroristen wird, glaube ich zu ahnen, was du meinst, aber es geht mir zu schnell! Ich hätte die Geschichte viel länger gemacht und direkter erzählt, keine Rückblende in einem Gespräch. Dann wäre es spannender, allerdings ist es dann schwierig, das Gespräch mit der Freundin einzuflechten. Und überhaupt, ist das eher mein Stil zu schreiben, wohl nicht deiner!

Toll finde ich dagegen, dass du beide Meinungen nebeneinander stehen lässt. Ich bin sicher, dass du kein Terrorist bist, aber könnte nicht sagen, auch welcher Seite du stehst. Klasse!
lieben Gruß
tamara

 

Hi Woltochinon,

ui, ui, also wenn ich Isabelle gewesen wäre und müsste mit meinem Mann Jose solche Gespräche führen, dann währe ich wohl auch abgehauen ;)
Deine Gespräche sind der Wirklichkeit wohl etwas weit entrückt, lassen sie doch eher an eine philosophische Diskussion in der Schule, Uni, oder sonst was denken, als an ein Gespräch unter zwei Liebenden.
Wenn man jedoch davon absieht, weiß deine Geschichte durchaus zu gefallen. Trotz der zerklüfteten Sätze kann man dem Text mühelos folgen und versteht die Ansatzpunkt beider Charaktere. Aber deine kg ist irgendwie „kalt“. Du versuchst zwar an einigen Stellen etwas Leben hineinzubringen (Nebel auf den Dächern etc), aber es reicht nicht ganz. Zu sporadisch und gezwungen wirken diese Formulierungen.
Fehler und Stilbrüche konnte ich keine entdecken. Und somit bleibt unter dem Strich eine gute, wenn auch nicht ganz begeisternde Geschichte.

Liebe Grüße...
morti

 

@morti: Ich diskutiere mit meinem Mann auch über Quantenmechanik, das Wesen der Seele und ähnliches. Warum sollten Paare das nicht tun? Isabell muss es bestimmt nicht, sie will es eher, so wie ich es verstehen! Aber vielleicht vermisst du auch nur das Drumherum, das Leben, in dem die Gespräche entstehen? Und vielleicht haben sich die beiden ja in der Uni kennengelernt. He, Woltochinon, das könntest du auch noch einbauen!
lG
tamara

 

Hi Woltochinon,

eine Menge Antworten hast du schon bekommen. :)
Ich habe sie nicht gelesen. Nur das Wort Quantenmechanik flog mir beim runterfahren entgegen.
Ich habe nicht vor deine KG unter diesen Aspekten zu entschlüsseln.
Ich sage dir ganz einfach meine Meinung. :shy:

Zuerst dachte ich: Was hat denn jetzt Joses Lebensphilosophie mit der geplanten Hochzeit zu tun?

Doch dann war klar.
Deine Prot, wollte nur ein ganz normales Leben führen.
Sicherheit, Häuschen, Kinder, etwas Glück, viel Zufriedenheit und ein wenig Tristess.
Also ein stinknormales Leben, mit einem stinknormalen Mann.

Und genau so, hat mir deine KG gefallen :)

lieben Gruß, coleratio

 

@tamara
Dein armer Mann ;) , nein, Spaß beiseite. Natürlich sind auch das normale Gesprächsthemen und auch ich habe mich mit meiner Freundin schon in solche Gespräche verwickelt. Was ich bemängelt habe ist die Kälte, die in der Unterhaltung liegt. Du hast also schon recht, wenn du sagst, dass das Drumherum fehlt.

Liebe Grüße...
morti

 

Hallo tamara,

„Was für Projekte haben sie gemeinsam durchgezogen?
`Schau dich um´, pflegte er zu sagen, `wo finde ich Wahrheit? Welchen Erkenntnissen kann ich vertrauen?´“

An diesen beiden Stellen habe ich eine kleine Änderung gemacht, um den Leser mit seiner Fantasie nicht allein zu lassen, es gibt ja schon genug Stellen, bei denen er den faden alleine fortführen muss. Danke für den Hinweis!
Bei „welche Illusionen er meint“ denke ich schon, dass man das im Verlauf der Geschichte merkt, du deutest das ja an.

„was du meinst, aber es geht mir zu schnell!“ - Du weiß ja, für mich ist diese Länge schon ein Roman. Da man über jede der angesprochenen Theorien ein Buch schreiben könnte, muss ich halt den informierten Leser voraussetzen. Aber ich denke, auch wenn man Einzelheiten nicht kennt, ist der Grundtenor zu erkennen, eine Verzweiflung, die zu einer ungünstigen Aktion führt (auch bei Isabelle).

„Ich bin sicher, dass du kein Terrorist bist, aber könnte nicht sagen, auch welcher Seite du stehst. Klasse!“

Ich stehe immer auf der Seite der Gerechten...

Vielen Dank für deinen netten Kommentar.

L G,

tschüß... Woltochinon

 

Hallo morti,

„Deine Gespräche sind der Wirklichkeit wohl etwas weit entrückt, lassen sie doch eher an eine philosophische Diskussion in der Schule, Uni, oder sonst was denken, als an ein Gespräch unter zwei Liebenden.“

Sicher - meine Geschichte ist kein Abbild von `Verbotene Liebe´ oder Ähnlichem. Manche Beziehung hält, weil das Paar gemeinsam für Schalke 04 schwärmt, eine andere weil man gemeinsam die Kinder großzieht, bei José und Isabella sind es halt die gemeinsamen politischen Ideale (soll bei vielen 68ern so gewesen sein).

„Aber deine kg ist irgendwie „kalt“.“

Für meine schriftstellerischen Verhältnisse ist sie ‚heiß’. Ich musste mich schon überwinden, die beiden Freundinnen zusammen weinen zu lassen. Wenn ich nicht selbst erlebt hätte, wie emotional Spanierinnen bzw. Mexikanerinnen sein können...
Ich scheine ein anderes (altmodisches?) Verständnis von Kurzgeschichten zu haben: Was die Handlung nicht voranbringt, wird nur angedeutet (schließlich „schlafen“, „trinken“ und „lachen“ sie, sind „niedergeschlagen“). Nur - das ist alles Psychologie, gut für einen Hintergrund (Motivation) aber es geht halt mal um den Einfluss des Intellektuellen auf unsere Handlungen.

Hihi - dann bin ich froh, dass dir es trotzdem unterm Strich noch gut gefallen hat.

Vielen Dank für deinen Kommentar,

tschüß... Woltochinon

@ tamara

Bevor ich dein Posting gelesen hatte, habe ich bei den Änderungen auch die Uni erwähnt.

Hallo coleratio,

„Deine Prot, wollte nur ein ganz normales Leben führen.“

Nein, ursprünglich nicht. Sie wollte nur nicht denselben, extremen, Weg gehen, wie ihr Freund. Die Gespräche der Beiden führen über verschiedene historische Philosophiestufen zum Pragmatismus, den José aber anders auslegt, als die Frau.

Freut mich, wenn es dir auch ohne Analyse (einigermaßen?) gefallen hat,

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 

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