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Das alte Geschichtenbuch
Im Winter, wenn wir oft tagelang in unserem Haus in Schweden eingeschneit waren, kam Großvater zuweilen abends zu mir ans Bett und erzählte mir spannende Geschichten aus seiner Kindheit. Mutti sagte dann immer, wenn sie zum Gute Nacht sagen in mein Zimmer kam, dass Großvater wohl ein wenig übertreibe um die Geschichten aufregender zu machen, aber ich glaubte Großvater jedes Wort, ließ mich nicht beirren und bis heute bin ich überzeugt das mehr Dinge geschehen können als wir zumeist sehen.
So war das auch eines Nachmittags, an dem mir so schrecklich langweilig wurde, dass ich zu Großvater ging und ihn um eine Geschichte bat.
Wie jedes Mal zog er daraufhin bedächtig seine Pfeife aus dem Mundwinkel, schaukelte ein wenig mit seinem Schaukelstuhl und murmelte: “Nun denn, nun denn mein Junge....als ich noch so alt war wie du, natürlich ein richtiger Lausejunge und nicht mal halb so brav wie du, geschah eines schönen Tages im Sommer folgendes........“
Es war kurz nach meinem neunten Geburtstag gewesen, und mein bester Freund Micha und ich sollten ins Dorf gehen, um einzukaufen, auf dem Weg dahin mussten wir jedes Mal durch ein kleines Waldstück, wo wir Kinder oft verstecken spielten. Ganz hinten am anderen Ende dieses Waldstückes war eine alte Hütte, in der früher einmal ein alter, mürrischer Mann gelebt hatte, von dem es hieß, er sei ein Zauberer und würde jeden verzauberte der in die Nähe seiner Hütte käme.
Dieser Mann war schon lange ausgezogen, doch Vati sagte, es könne vielleicht doch noch ein Rest Zauberspuk vorhanden sein und wir sollten nicht zu nah an die Hütte treten.
Wahrscheinlich wollte er uns damit nur abhalten im morschen Gebälk herum zu klettern und meine kleine Schwester Lilli hatte seitdem auch solche Angst, dass sie einen riesigen Bogen um die Hütte machte, doch Micha und ich ließen uns nicht so schnell von Vatis Gruselgeschichten abschrecken, und so machten wir an diesem Nachmittag eine Wette.
Es fing damit an, dass Micha zu mir sagte, ich traute mich im Leben nicht die alte Hütte zu betreten, das konnte ich natürlich nicht auf mir sitzen lassen und so wetteten wir um zwei Kronen, dass ich es schaffen würde die Hütte zu betreten.
Ein wenig unheimlich war mir dann schon bei der ganzen Sache, schließlich wusste ich nicht, wieviel von Vatis Worten stimmte und so schlich ich erst einmal vorsichtig bis zur Tür und guckte durch den Spalt der dunklen Holzbalken. Drinnen schien alles leer zu sein, wer sollte auch schon dagewesen sein, also öffnete ich die Tür und trat in den Raum. Es war leicht dämmrig und stank nach alten Sachen, die monatelang hier im Feuchten gelegen haben mussten.
Triumphierend sah ich nach draußen und winkte Micha zu, der einige Schritte weit fort stand und bereits mißmutig das Kronenstück aus der Hosentasche zog, doch auch er war ein wenig gespannt auf das Haus.
Die morschen Dielen knarrten unter unseren Füßen als wir vorsichtig den Raum durchquerten und die Treppe hinauf ins Obergeschoß schlichen.
Der obere Teil der Hütte bestand eigentlich nur aus einem winzigen Dachboden, der allerdings vollgestopft war mit allen möglichen Sachen, einem Schaukelstuhl, alten Koffern und einer schweren rostigen Truhe, die sofort unsere Aufmerksamkeit auf sich zog.
In ihr befand sich etwas, was uns noch monatelang nach unserem Fund beschäftigte.
Zwischen alten, muffigen Kleidern, die Mutti bestimmt alle im hohen Bogen hinausgeworfen hätte, wäre sie hiergewesen, befand sich ein riesiges Buch, das so schwer war, dass ich es nur mit Mühe alleine aus der Truhe heben konnte.
„“Was meinst du, ob es ein Zauberbuch ist?“, fragte mich Micha, während wir eifrig damit beschäftigt waren die dicke Staubschicht auf dem Umschlag wegzuwischen.
„Ich weiß nicht“ antwortete ich, war aber genauso gespannt wie Micha.
Zu unserer Verwunderung stand nichts auf dem Umschlag, und so öffneten wir es um hinein zu sehen.
Da fing das Buch plötzlich an zu zittern und Micha und ich sprangen erschrocken zur Seite.
„Ich hab dir doch gleich gesagt, das ist ein Zauberbuch“, keuchte Micha, „ Los, lass uns verschwinden, wer weiß, was noch passiert.“
Ich war der selben Meinung wie mein Freund, und wir wären wohl auch so schnell es geht nach draußen gerannt, hätte sich das Buch nicht mit einem Ruck alleine aufgeschlagen und zu sprechen angefangen.
Wir erstarrten vor Schreck und konnten uns nicht rühren, aber das Buch fing an uns auszulachen. Es war eine warme, alte und ein wenig rauhe Stimme, doch sie klang keineswegs unfreundlich und so begann sich mein Herzklopfen ein wenig zu mildern.
„Wer bist du?“, stammelte Micha, und ich spürte wie sich seine, in meinen Arm gekrallte Hand, ein wenig löste.
Und ob man´s glaubt oder nicht, das Buch antwortete in einem leisen spöttische Ton.
„Zur Frage steht doch eigentlich, wer seid ihr, und was hat euch bewegt mich, das alte Geschichtenbuch, aufzuschlagen?“
„Wir wollten dich nicht stören“, versuchte ich zu vermitteln, schließlich wusste ich nicht, wie man mit einem sprechenden Buch umzugehen hatte.
„Oh nein, ihr stört nicht“, brummte das Buch und brachte ein weiteres leises Lachen hervor, es schien ganz so als würde es sich amüsieren.
„Ich bin seit knappen 264 Jahren nicht mehr aufgeschlagen worden, da schadet euer Besuch nicht, sonder bringt Abwechslung.“
Micha und ich entspannten uns ein wenig, so schlimm schien das ganze jetzt doch nicht zu sein, höchstens spannend, und das war toll.
„Warum kannst du sprechen?“ fragte Micha leise und lehnte sich gespannt nach vorne.
„Tja, warum nicht?“, stellte das Buch die Gegenfrage, „alle alten Geschichtenbücher können reden, sonst könnten sie doch keine Geschichten erzählen, und dann wäre der ganze Sinn verloren und keiner würde uns aufschlagen!“
„Aber Bücher sind doch geschrieben, damit man sie lese kann,“ meinte ich.
„Das mag schon sein“, brummte das Buch, „aber das sind die Bücher, die ihr Menschen schreibt, in ihnen stehen meist nur eine Geschichte, vielleicht auch zwei, aber wir, die Geschichtenbücher, können unendlich viele Geschichten erzählen und aufnehmen, das soll mal einer nachmachen!“
„Aber wozu denn?“ fragte Micha, und diesmal dauerte es eine Weile bis das Geschichtenbuch antwortete.
„Das ist eine sehr lange Geschichte, mein Junge, aber um es kurz zu sagen: Geschichten sind etwas sehr wichtiges, jeder braucht Geschichten, jeder hat Geschichten. Aber damit auch wirklich alle diese Geschichten hören können, darum ziehen wir Geschichtenbücher durch die Lande und erzählen Geschichten von Menschen, Zwergen, Elfen, Feen, Drachen und Zauberern, oder allen anderen Geschöpfen, die es gibt. Wir passen auf, dass die Erzählungen nicht verloren gehen, und sorgen dafür, dass auch Erwachsene und Kinder, die nicht lesen können, von ihnen erfahren.
Viele Menschen meinen, sie haben keine Zeit für Geschichten, oder sie nehmen sich keine, aber das sind nur Ausreden. Geschichten sind etwas Wunderbares, das solltet ihr beiden auf keinen Fall vergessen.
Micha und ich guckten uns staunend an. „Aber Zwerge und Riesen und so etwas gibt es doch gar nicht“, meinte Micha abschätzig, „das sind doch nur Märchen und ausgedachtes Zeug, sagt mein großer Bruder auch immer.“
Ein lautes Brausen ertönte den Raum, und das Buch begann wild mit den Blättern zu schlagen, es schien so als sei es schrecklich wütend und würde gleich durchs Zimmer schweben.
„Schon schlimm genug, dass dein Bruder so denkt, aber du als zehnjähriges Kind solltest es eigentlich besser wissen,“ knurrte das Buch zornig und hörte auf mit den Blättern zu schlagen.
„Die erwachsenen Leute eures Volkes denken sich solch einen Schwachsinn aus und geben es dann an euch weiter, schrecklich.“
„Natürlich gibt es das alles, und es ist nicht bloß ausgedacht, nur weil einer eures Volkes einmal davon träumte, aber wenn man so schrecklich blind in der Weltgeschichte umherläuft, ist es kein Wunder, dass ihr nichts mehr bemerkt.“
Micha und ich waren stumm geworden, wir guckten uns unsicher an und schließlich sah ich aus dem kleinen Luckenfenster in den Himmel und erschrak. Der Himmel war bereits dunkel, und ein weiterer Blick auf meine Armbanduhr zeigte mir, dass es bereits kurz nach fünf Uhr war.
„Wir müssen gehen“, sagte ich, „aber dürfen wir wiederkommen?“
Das Geschichtenbuch klappte mit dem Deckel als wollte es uns zunicken. „Ja, ja kommt nur wieder, und bringt das nächste Mal ein wenig mehr Zeit mit, damit ich euch einer dieser Geschichten erzählen kann, die ihr nicht glaubt.“
Das Buch klappte endgültig zu und Micha legte es vorsichtig in die Truhe zurück und bedeckte es mit einer Jacke, die herumlag.
Dann rannten wir eilig die Treppe hinunter und nach Hause. Vorher aber schworen wir uns noch niemandem von unserer Entdeckung zu erzählen.
Mutti war schrecklich böse, als ich mit Spinngeweben behangen und dreckig von oben bis unten in der Küche stand. Ich wusste sie hatte sich Sorgen gemacht, und ich war ein wenig betrübt darüber, dass ich ihr den Grund für mein spätes Kommen nicht erzählen konnte.
„Wo ihr euch nur immer herumtreibt“, schimpfte sie leise vor sich hin, während sie mir den dreckigen Pullover über den Kopf zog und Badewasser in die Wanne laufen ließ.
Aber als ich abends im Bett lag, kam sie trotzdem zu mir, drückte mir einen Kuss auf die Stirn und nahm mich in den Arm, und ein seltsam warmes Gefühl durchströmte mich und ich schlang die Arme um ihren Hals. Auch ich war froh wieder Daheim zu sein, auch wenn ich die Nacht nicht einschlafen konnte, weil ich an das Buch denken musste.
Gleich am nächsten Tag liefen Micha und ich wieder zu alten Hütte und sprachen mit den Buch, und es erzählte uns spannende, schöne und alltägliche Geschichten aus allerlei Welten.
Ich fing an das Buch zu lieben, es wurde neben Micha zu einem sehr lieben Freund, soweit man ein Buch als Freund haben kann, und ich wollte nie, dass diese schönen Stunden zu Ende gingen.
Wir liefen oft zur alten Hütte, und selbst im Winter, wenn es schrecklich stürmte, erfanden wir Ausreden um von zu Hause zu entkommen und uns in die Welt der Geschichten zu begeben.
Aber eines schönen Tages im Frühling war das Buch fort, wir wühlten die alte Truhe durch, in der wir es gefunden hatten, und da wehte uns ein Zettel entgegen. Er sah aus wie eine Seite des Geschichtenbuches, und auf ihm stand: „GESCHICHTEN SIND FÜR ALLE DA, ich ziehe weiter......“
Großvaters Pfeife war ausgegangen, und draußen wurde es bereits wieder dunkel. Wir hatten die Zeit völlig vergessen, und ich war noch ganz aufgeregt von der Geschichte.
„Weißt du deshalb immer so viele Geschichten, Großvater?“, fragte ich ihn nach einer Weile.
„Ja, ja mein Junge,“ antwortete er, „Und deshalb erzähl ich sie dir auch so gern.“
Der Sturm rüttelte draußen an den Fensterläden, und ich war froh, hier drinnen am warmen Ofen zu sitzen, aber noch mehr froh war ich, dass es Geschichtenbücher gab, und das Großvater eines gekannt hatte und nun seine Geschichten an mich weiter gab.