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Das andere Leben

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29.06.2018
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Das andere Leben

Die erste Zigarette, noch im Bett sitzend, war kein Genuss auf der pelzigen Zunge, das war sie noch nie gewesen, und das Kopfkissen war von den Rotweinrändern an seinen Mundwinkeln verfärbt. Den Bezug hätte seine Frau längst gewechselt, hätte sie im letzten Winter nicht den Mann gewechselt. Sie lebte jetzt in in einer Gegend, die sie früher auf einer Radtour im Scherz als "bessere Gegend" bezeichneten, zusammen mit dem "besseren Mann" und mit ihren drei Töchtern.

Gestern sollte er sie abholen, die Jüngste hatte ihre Mutter gebeten, ein Foto von sich mit dem neuen Prinzessinenkostüm zu schicken und ihm auszurichten, so früh wie möglich zu kommen. Aber als das Finale in die Verlängerung ging, öffnete sein Kumpel vor Aufregung die mitgebrachte Flasche Vodka. Nach der Siegerehrung kamen sie ins Reden über alte Zeiten, in denen die Zukunft noch leuchtend war, und er holte er den Karton Rotwein, der seit Weihnachten im Regal stand, hervor. Es war ein Geschenk seines ehemaligen Partners, der die Kunden jetzt allein betreute. Dieser hatte zunächst immer seltener und nun auch schon vier Monate gar nicht mehr angerufen, um sich zu erkundigen, wie es ihm ginge und wann er wohl zurückkehren würde. Möglicherweise hatte er auch probiert, aber das Telefon war gekündigt, indem er die Rechnungen nicht mehr bezahlte, und das war's dann. Wer etwas von ihm wollte, und das waren nicht mehr viele, konnte ja klingeln.

Auf dem Umschlag, den der Briefträger nur gegen Unterschrift da lassen wollte, schimmerte von innen das Wort "Räumungsklage" durch. Die zerknüllten Taschentücher auf dem Boden neben seinem Bett und der Geruch, der sich aus der kleinen Küchenzeile mit dem der Aschenbecher vermengte, die leeren Flaschen und das Sirren des PCs, die Schuldgefühle und die Angst vor der Zukunft - es würde nicht mehr lange so weitergehen können, dessen war er sich ganz sicher.

Er fühlte sich wie eine Ratte, der ein Wissenschaftler dabei zusieht, wie sie sich den Weg durch das Labyrinth zu ihrem Futter und dem Ausgang sucht, aber einen Ausgang konnte er nicht finden. Er zündete eine weitere Zigarette an, machte einen starken Kaffee, startete dann wie jeden Tag das nächste Level und bewegte die kommenden Stunden seinen Avatar durch das "Alternative Life 3.5".

 

Hi MarcCaesar
Schöne kleine, traurige Kurzgeschichte die du geschrieben hast:P

Geruch der Aschenbechen
Ich glaube Aschenbecher?
Den Bezug hätte seine Frau längst gewechselt, aber sie hatte im letzten Winter den Mann gewechselt.
Das gefällt mir sehr gut! Ich fände es noch besser, wenn du: "hätte sie im letzten Winter nicht den Mann gewechselt", schreiben würdest. Das liegt für mich an diesem "hätte-hätte-Fahrradkette" Humor;) Aber das musst du natürlich nicht so sehen wie ich. Das ist ja schließlich alles keine Demokratie hier!!!
zusammen mit dem neuen Mann, den sie für sich auch besser fand, und mit ihren drei Töchtern.
Der Satz kommt mit sehr umständlich vor. Ich weiß nicht recht. Ich würde es fast wagen, einfach: "Zusammen mit dem neuen besseren Mann", zu schreiben und dafür den Teilsatz danach komplett wegzulassen. Oder vielleicht "besserer Mann" auch in Anführungszeichen, so wie du "bessere Gegend" in Anführungszeichen gesetzt hattest, als Gegenüberstellung sozusagen und dann das mit den drei Töchtern.
Gestern hätte er sie abholen sollen, die Jüngste schien sich wirklich darauf zu freuen.
Vielleicht verdeutlichst du dem Leser anhand einer Verbildlichung, wie sehr das Mädchen sich gefreut hatte? :D Zum Beispiel: "Gestern hätte er sie abholen sollen. Zehn verpasste Anrufe der Jüngsten: Sie hätte es wohl sehr gefreut." Oder so was in der Art. Fantasie lass mich nicht im Stich!
Die zerknüllten Taschentücher auf dem Boden neben seinem Bett und der Geruch
Wie gesagt: Bis auf den Schreibfehler mit den Aschenbechern finde ich die Atmosphäre super. Ich kann mir das richtig gut vorstellen, dass ich einfach nicht in dieser Wohnung sein will.
und das Sirren des PCs
Möglicherweise Meckern auf hohem Niveau, aber ist Sirren das richtige Wort für einen PC? Surren vielleicht? Hab eben gegoogelt und es gibt das Wort "sirren" wirklich :D Wusste es nicht genau und habe es tatsächlich noch nie gehört. Vielleicht wolltest du ja genau das Wort, dann stör ich nicht weiter. Aber mir kam es beim Lesen (im Zusammenhang mit PC) fragwürdig vor.
in denen sie noch alles vor sich hatten und die Zukunft leuchtend war
die Schuldgefühle und die Angst vor der Zukunft
Schöne Gegenüberstellung der beiden Zukunftsperspektiven. Einmal die Erinnerung an die Zukunft im Vollsuff mit einem Freund nach dem (Fußball?)Spiel und einmal dann alleine in seiner verranzten Wohnung. Passt.
es würde nicht mehr lange so weitergehen können, dessen war er sich ganz sicher.
Ouh, bei diesem Satz graut es mir. Da hätte ich aber gerne auch noch irgendwas. Wieso geht es bald nicht mehr so weiter? Wegen dem Alkohol? Rauch? Familien-Freunde-Vernachlässigungs-Depressionen? Job? Ich bin ja immer ein Fan von Ekelkram, Rotz und Blut in solch düsteren Geschichten. So zum Beispiel: "es würde nicht mehr lange so weitergehen können, und er betete dafür, dass die roten Rotweinflecken auf dem Kissen auch nur Rotweinflecken waren" Weißt du was ich meine? :)
Und zu dem Ratten-Wissenschaftler-Vergleich hatte @AWM ja schon was gesagt. Dem schließe ich mich an. Andersherum wäre es besser, finde ich.
Eigentlich eine schön depressive Geschichte, die du da geschrieben hast. Muss man sich auch eben erst einmal hineinversetzen können. Hat mir aber gefallen.
Nimm das nicht so übel, dass ich so viel kritisiert habe. Umso kürzer die Geschichte ist, umso leichter fällt es einem meistens, Zeit darauf zu investieren, nach Schwachstellen zu suchen:D Habe deine Geschichte mindestens zwöf mal durchgelesen, bevor ich meinen Kommentar abgegeben habe.
Bis zum nächsten mal:P LG HerrSperling

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber @AWM,
sorry, dass ich mich jetzt erst melde, das ist sonst gar nicht meine Art. Ganz herzlichen Dank für Deine Anregungen und Ermutigungen, einige Punkte habe ich direkt umgesetzt und oben korrigiert. Ich bleibe dran....

Hallo @HerrSperling,

Habe deine Geschichte mindestens zwöf mal durchgelesen, bevor ich meinen Kommentar abgegeben habe
Huch... und boah... da bin ich ja ganz demütig (nicht wie Markus Söder, sondern wirklich) - gaaaaaanz doll DANKE dafür - und für die vielen Anregungen, habe die kleine Geschichte gerade noch einmal überarbeitet, sie hat jetzt gewonnen :-)

Ein schönes Wochenende Euch beiden und herzliche Grüße

MarcCaesar

 

Hallo @MarcCaesar,

ich habe diesen Text nicht mit Spannung gelesen, er fühlte sich eher an wie ein Fenster, durch das ich einen Blick auf das Leben eines anderen erhaschen konnte. Und am Ende dachte ich mir: Interessant! Und nicht mehr.

Die erste Zigarette, noch im Bett sitzend, war kein Genuss auf der pelzigen Zunge, das war sie noch nie gewesen, und die Rotweinränder an seinen Mundwinkeln hatten das Kopfkissen verfärbt.
Ein sehr cooler erster Satz!

Den Bezug hätte seine Frau längst gewechselt, hätte sie im letzten Winter nicht den Mann gewechselt.
Ein noch coolerer zweiter Satz! Nur fällt mir an dieser Stelle zum ersten Mal dein eher inflationärer Gebrauch der Worte hätte und hatte auf. Letzteres finde ich dabei schlimmer als ersteres. Das zieht sich durch den ganzen Text.

Dieser hatte zunächst immer seltener und nun auch schon vier Monate gar nicht mehr angerufen, um sich zu erkundigen, wie es ihm ginge und wann er wohl zurückkehren würde. Vielleicht hatte er auch angerufen, aber das Telefon war gekündigt, indem er die Rechnungen nicht mehr bezahlte, und das war's dann.
Hatte angerufen klingt nicht sonderlich gut, vorallem nicht in doppelter Ausführung.

gebten
gebeten

Er fühlte sich wie eine Ratte, der ein Wissenschaftler dabei zusieht, wie sie sich den Weg durch das Labyrinth zu ihrem Futter und dem Ausgang sucht, aber einen Ausgang konnte er nicht finden.
Das Leben ist eine Suppe und ich bin eine Gabel. :lol:

Er zündete eine weitere Zigarette an, machte einen starken Kaffee, startete dann wie jeden Tag das nächste Level und bewegte die kommenden Stunden seinen Avatar durch das "Alternative Life 3.5".
Ein leicht unbefriedigendes Ende, da kein Konflikt gelöst wird. Der Protagonist lenkt sich bloß davon ab, indem er sich in eine alternative Realität flüchtet. Aber ich verstehe zumindest, wovon der Text handelt. Es fehlt aber noch etwas, das den Leser in Mitleidenschaft zieht, vielleicht sogar schockiert, empört. Das will dein Text ja scheinbar, also pack die Lupe aus und halt drauf, bis es brennt! Da geht mehr!

Liebe Grüße,
N. Ostrich

 

Guten Morgen @N. Ostrich,

Und am Ende dachte ich mir: Interessant! Und nicht mehr.

Danke - aber genau so war es gemeint, eher als Skizze denn als "richtige" Geschichte mit Spannungsbogen und Handlung.

dein eher inflationärer Gebrauch der Worte hätte und hatte

Da hast Du ganz sicher recht mit, bin eben schon einmal durchgegangen und werde es mir daraufhin noch einmal ansehen.

Dir auch ein schönes Wochenende

LG MarcCaesar

 

Hi @MarcCeasar,

-- "Die erste Zigarette, noch im Bett sitzend, war kein Genuss"
- Wie, die Zigarette sitzt im Bett?!?

Sonst finde ich das ganz angenehm geschrieben - außer vielleicht der Reim "gewechselt"/"gewechselt", was aber bei einer Korrektur nach dem Vorschlag von @HerrSperling schon viel runder aussehen würde.

Ach so, und dieser Satz:
-- "es würde nicht mehr lange so weitergehen können"
- drückt angesichts der Räumungsklage eigentlich eine Selbstverständlichkeit aus ...

Eine vage Kritik hätte ich zum Aufbau. Irgendwie erscheint mir das nicht so richtig packend, nicht klar geführt. Mir scheint, dass man die Reihenfolge der vier Absätze fast beliebig durchmischen könnte, und jedes Mal wäre das Ergebnis in unauffälliger Weise akzeptabel. Das muss kein Mangel sein und kann auch einfach mit der Kürze zusammenhängen, aber ich vermute trotzdem, dass da irgendwo der Grund dafür verborgen liegt, warum mich die Geschichten nicht so richtig reinzieht.

Besten Gruß
erdbeerschorsch

 

Danke @erdbeerschorsch,

Ach so, und dieser Satz:
-- "es würde nicht mehr lange so weitergehen können"
- drückt angesichts der Räumungsklage eigentlich eine Selbstverständlichkeit aus ...

Das muss ich kurz erklären: Der Satz mit der Räumungsklage ist auf Grund der Anregung durch @HerrSperling hineingekommen, er kannte diesen noch nicht, als er gepostet hat.

Sonst finde ich das ganz angenehm geschrieben - außer vielleicht der Reim "gewechselt"/"gewechselt", was aber bei einer Korrektur nach dem Vorschlag von @HerrSperling schon viel runder aussehen würde.

Das habe ich ja bereits geändert, hast Du vielleicht noch eine ältere Version gelesen?

Den Bezug hätte seine Frau längst gewechselt, hätte sie im letzten Winter nicht den Mann gewechselt
... heißt er nun.

Danke, dass Du meine Geschichte gelesen hast, auch wenn sie Dich nicht "gepackt" hat und vor allem für Deine Anmerkungen.

Liebe Grüße, MarcCaesar

 

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