Das Anwesen
DAS ANWESEN
Bernhard Wolpert, Angestellter eines Frankfurter Softwarehauses, erhielt eines Tages einen Brief des Münchner Notars Dr. Bauer mit der Mitteilung, daß sein Großonkel, Walter Baumann, verstorben sei. Baumann hatte im Alter von vierundachtzig Jahren einen Schlaganfall erlitten. Er hatte kein Testament hinterlassen. Nachforschungen hatten ergeben, daß Wolpert sein einziger lebender Verwandter und damit Alleinerbe seines Vermögens von achteinhalb Millionen Deutschen Mark war.
Wolpert hielt den Brief zunächst für einen Scherz, griff jedoch zum Telefon und wählte die im Briefkopf angegebene Nummer. Es meldete sich eine Sekretärin, die zu Dr. Bauer durchstellte. Der Jurist schien der Stimme nach Mitte der Fünzig zu sein und sprach ein präzises Deutsch. Er spulte eine Reihe juristischer Fachbegriffe ab und bat Wolpert anschließend darum, eine Bankverbindung zu nennen. Außerdem teilte er Wolpert mit, ihm eine Reihe von Dokumenten zur Unterzeichnung zuzusenden. Dann legte er auf.
Wolpert saß etwas benommen da. Einige Tage später traf der Betrag auf seinem Konto ein. In der folgenden Zeit studierte Wolpert die Anzeigenteile der Zeitungen in der Hoffnung, auf ein lohnendes Immobilienangebot zu stoßen. Bereits nach wenigen Tagen wurde er fündig. Eine Frankfurter Bank bot eine Villa aus der Gründerzeit an, am Stadtrand gelegen. Wolpert ließ sich telefonisch die Adresse geben und fuhr zu einer Ortsbesichtigung.
Die Villa war ein im Jugendstil erbautes Backsteingebäude, inmitten eines parkähnlichen Gartens mit alten Bäumen gelegen. Der Garten war auf allen Seiten durch eine Backsteinmauer abgegrenzt, auf deren Krone sich schmiedeeiserne Spitzen befanden. Wolpert öffnete das schmiedeeiserne Tor und ging über einen mit Platten ausgelegten Weg zum Portal der Villa. Es war nicht verschlossen, und Wolpert trat ein.
Ein schmieriger Mann in einem blaugrauen Kittel tauchte aus dem Nichts auf. Sein Atem stank nach Alkohol, und seine elfenbeinfarbene Glatze stand in seltsamem Kontrast zu den schwarzen Bartstoppeln in seinem Gesicht. "Sie wünschen?" fragte er nuschelnd.
Offensichtlich hatte der Mann sein künstliches Gebiß nicht eingesetzt. Wolpert erklärte ihm sein Anliegen. Der Schmierige stellte sich daraufhin als Frank Wel1er vor, der das Anwesen im Auftrag der Bank bewachte. Wie sich herausstellte, kannte Weller sich mit der Geschichte des Hauses bestens aus. Während er Wolpert durch die Räume führte, erzählte er ihm, was er wußte. Das Anwesen hatte der Kaufmannsfamilie Marquardt gehört. Emil Marquardt hatte in den zwanziger Jahren durch Spekulationen ein großes Vermögen gemacht. Er war kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges gestorben und hatte seine um viele Jahre jüngere Frau Else allein in dem großen Haus zurückgelassen. Die hatte fünfzig Jahre, allein mit einigen Dienern, in dem Haus verbracht und hatte es erst vor wenigen Wochen, auf Betreiben der Bank, bei der sie hoch verschuldet war, gezwungenermaßen verlassen. Sie war ins Altersheim gebracht worden und dort bereits nach wenigen Wochen, im Alter von über neunzig Jahren, verstorben.
"Wenn Sie mich fragen" nuschelte Weller, "dann war das eine Hundsgemeinheit von der Bank. Die hätten doch wirklich die paar Jahre, die sie noch gehabt hätte, warten können. Die alte Frau Marquardt ist an gebrochenem Herzen gestorben. Aber so geht's nun mal, wenn Geld mit im Spiel ist. - So, das ist der Salon." Er öffnete eine geschnitzte Tür und ließ Wolpert ein. Der Salon war, wie alle Räume des Hauses, beinah drei Meter hoch und noch zu einem großen Teil möbliert. Die Möbel befanden sich unter schützenden Planen; als Wolpert einige der Planen anhob, konnte er feststellen, daß die Möbel zwar etwas verschlissen, aber noch intakt waren.
"Wenn jemand fünfzig Jahre ein Haus bewohnt hat, eins wie dieses hier", ließ sich Weller vernehmen, "dann wird er zu einem Teil des Hauses. Fünfzig Jahre lassen sich nicht so einfach ausradieren."
Es folgten einige genuschelte Bemerkungen, die Wolpert nicht verstand. Es war offensichtlich, daß Weller die alte Frau Marquardt persönlich gekannt hatte und ihr sehr verbunden gewesen war.
Wolpert verabschiedete sich. Die Villa war ganz nach seinem Geschmack und, nahm man einige Reparaturen vor und modernisierte die sanitären Anlagen, gewiß ein Ort, an dem es sich hervorragend leben ließ. Der Kaufpreis, den die Bank forderte, war weitaus niedriger, als er erwartet hatte. Offensichtlich war man dort froh, überhaupt einen Käufer für die Immobilie zu finden, die schwer zu vermitteln war. Nach wenigen Tagen war der Kauf perfekt und Wolpert Eigentümer des Hauses.
Mit einem Innenarchitekten vereinbarte er einen Termin; die Einrichtung würde nicht so bleiben können, wie sie war. Selbstverständlich würde er bemüht sein, so wenig wie möglich zu ändern, doch einiges war zu verschlissen, um weiterhin genutzt zu werden. Einziehen würde er allerdings sofort; einige Tage würde er es in dem Haus aushalten, so wie es war. Er richtete sich eines der Schlafzimmer im zweiten Stock und den Salon einigermaßen her. An den Salon grenzte eine Bibliothek, in deren Regalen sich einige Hundert Bände Literatur, zum Teil aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, befanden.
Am Abend des ersten Tages in seinem neuen Haus begab sich Wolpert in die Bibliothek, um seine Bücherschätze in Augenschein zu nehmen. Er griff wahllos einige der Bände heraus und machte es sich in einem Lehnstuhl bequem. Nachdem er eine gute Stunde gelesen hatte, blickte er irritiert auf. Er hatte das unangenehme Gefühl, nicht allein zu sein.
Er sah sich nach allen Seiten um, schüttelte den Kopf, irritiert durch seine Anwandlung, und las weiter. Nach einer weiteren Viertelstunde klappte er das Buch zu und stand auf. Spielten ihm seine Nerven in diesem alten Gemäuer einen Streich? Er würde doch wohl nicht in seinem Alter noch Angst vor Geistern bekommen?! Er machte ein paar Schritte durch den Raum und blieb vor der Wand stehen, an die der Salon grenzte. Sie war hellblau tapeziert. Was es auch sein mochte, das ihn irritierte, es schien von dieser Wand auszugehen. Mit den Knöcheln der Hand klopfte er dagegen und legte sein Ohr daran. Dann schalt er sich einen abergläubischen Narren und ging in den zweiten Stock, zu Bett.
Als am nächsten Morgen heller Sonnenschein durchs Fenster fiel, waren die
Ängste vom Vorabend wie fortgewischt. Er machte ein paar Besorgungen in der Stadt, unter anderem kaufte er eine Schlagbohrmaschine für die bevorstehenden Arbeiten.
Als es dunkel wurde, saß er wieder mit einem Stapel Bücher in der Bibliothek. Er war längere Zeit in seine Lektüre vertieft, und erst als die Uhr elf schlug, sah er auf. Da war es wieder, dieses unbestimmte Gefühl, nicht allein zu sein. Eine Weile versuchte er, fast schon ärgerlich über sich selbst, dies Gefühl zu unterdrücken. Dann begann er, wie am Vorabend, die hellblaue Wand zu sondieren. Da war die Tür zum Salon. Er öffnete sie, doch dahinter war nur der voller alter Möbel stehende Raum, in den jetzt ein Streifen Licht fiel. Seltsam, wenn die Tür offenstand, wurde ihm gleich ein Stück wohler, so, als hätte die Verbindung zwischen Bibliothek und Salon, die jetzt geschaffen war, die Furcht gemildert. Er litt doch nicht etwa an Klaustrophobie? Nein, es mußte etwas sein zwischen Bibliothek und Salon, etwas, das erst voll zur Geltung kam, wenn man die beiden Räume trennte. Ihm fiel ein, daß er in der Bibliothek einen Grundriß des Hauses gesehen hatte. Den studierte er jetzt eingehend, vermochte jedoch keinen wie auch immer gearteten Hinweis zu entdecken. Er trat in die Verbindungstür, befand sich gewissermaßen in der Wand, mit der es eine geheimnisvolle Bewandtnis hatte, und verspürte ein deutliches GefühI von etwas Unheilvollem.
Entschlossen nahm er die Schlagbohrmaschine und trieb, von der Salonseite her, ein Loch in die Backsteinwand. Die Wand war dick, und es dauerte lange, bis er hindurch war. Er blies den Bohrstaub aus dem Loch, formte mit beiden Händen einen Zylinder und sah hindurch. Er entdeckte nicht etwa die hell erleuchtete Bibliothek, sondern ein nur durch eine Kerze erhelltes Gemach, in dem sich eine alte Frau befand. Sie schlurfte in Filzpantoffeln durch den Raum, blieb stehen und sah durch das Bohrloch dem Beobachter ins Auge. In jäher Angst rannte Wolpert hinaus, in den zweiten Stock, in sein Schlafzimmer.
Wie konnte es sein, daß sich zwischen Bibliothek und Salon, die ersichtlich nur durch eine Wand getrennt waren, noch ein Raum befand? Ein Raum, der sich obendrein in keiner Weise mit dem Grundriß in Einklang bringen ließ, den er in der Bibliothek entdeckt hatte. Was war das für ein Gemach 'zwischen den Räumen', das keinen Platz beanspruchte, und in dem offensichtlich doch eine alte Frau wohnte?
Gerne wäre er jetzt gegangen, ohnehin hatte er sich bereits entschlossen, das Anwesen wieder zu verkaufen. In einem solchen Geisterhaus hielt es ihn nicht länger. Doch traute er sich jetzt, bei Nacht, nicht durch das Treppenhaus. Lieber wollte er hier oben bis zum nächsten Morgen warten und das Haus dann verlassen. Hatten ihm vielleicht seine überreizten Nerven nur einen Streich gespielt? Nein, zu deutlich hatte sich ihm das Erlebte eingeprägt, als daß es Einbildung sein konnte. Schließlich schlief er erschöpft ein.
Als er am nächsten Morgen erwachte, fiel wieder heller Sonnenschein ins Zimmer. Aus dem ganzen Haus waren Geräusche der Geschäftigkeit zu hören. Als er hinunterging, kam ihm eine etwa vierzigjährige Frau in einem strengen, graugemusterten Kostüm und weißer Bluse entgegen, die sich kerzengerade hielt und ihn ernst musterte.
"Wer sind Sie" fragte ihn die Frau, "und wer hat Sie überhaupt eingelassen? - Harald!", wandte sie sich an einen Diener in grauschwarzer Livree, "rufen Sie die Polizei."
"Was soll die Komödie?!" platzte Wolpert heraus. Doch als er ans Fenster trat und entdeckte, daß die mächtige Linde vor dem Haus ein gutes Stück kleiner war als am Vortag, und als er außerdem den Bugatti gewahrte, der vor dem Haus parkte, wurde ihm klar, daß dies keine Komödie war. Else Marquardt hatte ihr Haus nie verlassen, und er hatte sie aus ihrem Verlies befreit. Nun herrschte sie wieder über ihr Anwesen, genau wie vor fünfzig Jahren.