Das apokalyptische Ende einer unendlichen Zeitschleife
Das apokalyptische Ende einer unendlichen Zeitschleife
Der Wind fegt die ersten Blätter durch die Gassen und Strassen von Paris. Der Himmel ist bewölkt und nach einigen Wochen unerträglicher Hitze wird es merklich kühler und angenehmer draußen.
Ich war in der Rue de Rivoli einkaufen gewesen und gehe langsam über die Brücke Pont Neuf. Links von mir, im Dunst der nachlassenden Sommerhitze ragen die Zwillingstürme der Notre Dame über die Dächer der Ile de Cité, rechts kann man den Eiffelturm schlank über den Dächern und Baumwipfeln sehen, und die Abenddämmerung spiegelte sich in den kräuselnden Wellen der Seine. Langsam stapfe ich die Rue Dauphine hinunter zum Cafe Buci. Um mich herum wuseln Autos, Touristen, Einheimische und Ex-Patriots wie ich, und manchmal kommt es mir vor, als ob Paris ein riesiger plattgedrückter Bienenstock ist.
Ich frag mich, wie ich später über meinen Aufenthalt in Paris denken werde. Erste Frage: werde ich noch hier sein, also längerfristig in Paris wohnen (durchaus möglich). Zweite Frage: wenn ich wieder nach Deutschland zurückkehren sollte, werde ich das Gefühl haben, Paris ausreichend genossen zu haben (wahrscheinlich nicht)?
Ich bestelle mir ein Bier, obwohl ich weiß, dass das Bier hier im Buci mit Abstand das teuerste Bier in Paris ist. Ich bin durstig, habe aber keine Lust, noch zusätzlich eine ‚Caraff D’eau zu bestellen, denn Wasser langweilt mich. Der Kellner spricht leidlich Englisch und reicht mir die Rechnung (8,70€). Ich zahle gleich, denn im Buci kann es eine Weile dauern, bis der Kellner wiederkommt, und ich möchte unabhängig sein – frei zu gehen, wann immer ich will. Links und rechts von mir sitzen Einheimische oder Touristen, Zeitung lesend oder Paris-Führer studierend. Ich schaue mir eine Weile die Menschenströme an, die am Cafe vorbeiflanieren. Paris ist seit Jahrzehnten, vielleicht sogar Jahrhunderten, ein Ziel von Touristen aus aller Welt. Wie viele Touristen mögen hier schon am Café Buci vorbeigezogen sein – wie viele werden in der Zukunft noch hier vorbeiziehen?
Vor mir nimmt eine große Familie Platz, die mit vielen Kameras bestückt ist. Während sie ihren Kaffee trinken, was alles in allem 15 Minuten dauert, machen sie insgesamt fast 20 Fotos, da jeder einmal mit im Bild sein soll, und zur Sicherheit machen sie gleich mehre Aufnahmen von der selben Zusammenstellung.
Ich habe während meiner gesamten Zeit hier noch fast keine Fotos gemacht. Was nehme ich mit in die Zukunft, welche Erinnerungen werde ich haben? Welche Beweise, wie zum Beispiel Fotos oder Eintrittskarten werde ich haben? Aus vergangenen Urlauben habe ich gelernt, dass ich sehr gerne Fotos oder Reisetagebücher anschaue, da ich ein sehr schlechtes Langzeitgedächtnis für Details habe. Bisher habe ich nichts dergleichen in Paris gesammelt oder aufgehoben. Warum stelle ich mir solche Erinnerungen nicht zusammen? Warum führe ich nicht Buch darüber, was ich in Paris erlebe? Warum schreibe ich mir nicht zumindest ein paar von den Stationen, die ich sehe, auf? Ich handele. Von der Bar hole ich mir einen Block Papier und einen Kugelschreiber, wie ihn die Kellner hier haben. Von jetzt an werde ich mir aufschreiben, was ich in Paris gemacht und gesehen habe und ich werde gleich jetzt damit anfangen. Aber zuerst bestelle ich mich noch ein neues Bier, da ich sehr durstig bin.
Während das Bier gezapft wird, was erstaunlich lange dauert, denke ich darüber nach, was mich in 30 Jahren vielleicht mal interessieren könnte. Was würde ich mir gerne durchlesen, noch mal ‚erleben’ wollen?
Was wäre, denke ich plötzlich, wenn es in 30 Jahre eine Zeitmaschine gäbe? Ich wäre 61 Jahre alt und würde sicherlich gerne einige Stationen in meinem Leben besuchen! Allerdings würde es nicht viel helfen, wenn ich zum Beispiel nicht erinnern würde, wann genau ich im Buci gewesen bin, denn ich bin zwar oft hier, aber eben nicht immer. Im Anflug einer Inspiration schreibe ich auf den Pappdeckel des Notizblocks: „Im Falle, das Zeitreisen später möglich sind: 14. Juli 2003, 21:15h, le Buci, 52, Rue Dauphine, Paris: Unbedingt aufsuchen!”
Ich lasse mir vom Kellner einer Schere geben und schneide den Pappdeckel auf die Größe einer Kreditkarte, um die Notiz für die nächsten 30 Jahre in meiner Brieftasche aufbewahren zu können. Auch wenn ich keine Ahnung habe, ob es in 30 Jahren noch Brieftaschen geben wird.
Nachdenklich blicke ich wieder auf die Familie vor mir, die gerade die Rechnung bezahlt und sich in das nächste Pariser Abenteuer stürzen wird. Der Kellner bringt mir unaufgefordert ein weiteres Bier. Ein weiterer Grund, warum ich gerne in diesem Cafe bin.
Wenn ich diesen Pappdeckel wirklich für die nächsten 30 Jahre mit mir herumtragen werde und Zeitreisen später möglich sein sollten, dann müsste mein 2033-Ich bereits hier sein. Vorausgesetzt, ich lebe dann noch und ich kann mir zu dem Zeitpunkt Zeitreisen leisten, wer weiß, wie teuer so etwas sein wird? Höchstwahrscheinlich beobachtet mich mein 2033-ich in diesem Moment? Ich schaue mich vorsichtig um und versuche in den Schwärmen von Menschen ein bekanntes Gesicht zu identifizieren. Ein Gesicht, das mir ähnlich sieht, nur 30 Jahre älter. Nach ein paar Minuten gebe ich auf und bestelle noch einen Schnaps zum Bier.
Es wird spät und merklich kühler. Der Wind faucht durch die Rue Dauphine und die Touristenschwärme nehmen ab. Ich bin immer noch fasziniert von dem Gedanken, dass mein 2033-Ich womöglich hier sein könnte, nur wenig Meter entfernt. Ich schaue mir die Gesichter im Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite an, kann aber kein bekanntes Gesicht erkennen.
Wahrscheinlich würde man meinem 2033-Ich nicht erlauben, nahe an mich heranzukommen. Vermutlich habe ich mich bereits vor über einer Stunde beobachtet, als ich diesen Gedanken noch gar nicht hatte. Als Sicherheitsmaßnahme, dass ich mich nicht selbst sehen würde, denn das könnte, da bin ich mir sicher, das Zeitkontinuum durcheinanderbringen. Das ist zumindest das, was ich aus diversen Science-Fiction Filmen gelernt habe. Ob das stimmt, das weiß wohl keiner so genau. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, was ein Zeitkontinuum sein soll und was passieren könnte, wenn es durcheinander gebracht wird...
Ich überlege, ob man wohl wenigstens eine Notiz hinterlassen könnte, nach dem Motto: ‘ich war da’. Aber auch das wäre wohl gefährlich, denn dann wüsste ich, dass Zeitreisen möglich sind, viele Jahre bevor sie erfunden werden.
Mittlerweile ist es draußen dunkel, das Café Buci hat die Markisen vollständig ausgefahren und die Heizstrahler angeschaltet. Die Gesichter der Touristen an den umliegenden Tischen werden in ein helles Rot getaucht, der pfeifende Herbstwind hat etwas abgenommen und ich bestelle mir noch ein Bier, das zusammen mit einem Schnaps geliefert wird.
Mein 2033-Ich könnte mir theoretisch auch schon den ganzen Tag durch die Stadt gefolgt sein, denke ich. Ich werde auch in 30 Jahren noch wissen, wo ich gewohnt habe, werde zumindest die Ecke wiedererkennen und sicherlich auch die Geduld haben, mich für ein paar Stunden auf die Lauer zu legen. Wann ich in der Regel aufstehe in diesen Tagen werde ich nicht vergessen können: ich verschlafe an freien Tagen normalerweise den Vormittag, bin frühestens um 11 Uhr wach. Das sind nur wenig Stunden rund um die Mittagszeit, die ich an der Haustür Wache stehen müsste um mich selbst nicht zu verpassen.
Ich versuche mich noch mal zu konzentrieren – könnte mir jemand heute den ganzen Tag über gefolgt sein? Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Wann achtet man schon darauf? Ich nehme mir vor, in den nächsten Tagen verschärft darauf zu achten. Sollte ich tatsächlich die Gelegenheit haben, mein 2033-Ich zu treffen, ich hätte so viele Fragen, ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte! Was werde ich erreichen, oder noch wichtiger: wen werde ich heiraten? (Ich bin schon seit einiger Zeit Single und frage mich langsam, wo meine zukünftige auftauchen wird, so ganz aus dem Nichts – obwohl, so wird’s wahrscheinlich sein; sie wird irgendwann scheinbar aus dem Nichts auftauchen! Wie viele Kinder werde ich haben? Wie wird es meinen Eltern, Geschwistern und Freunden gehen, wenn ich erst mal 61 Jahre alt bin?
Ein weiterer Schluck Bier lässt mich aus meinen Tagträumen wieder an die Oberfläche zurückkehren. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Zeitreisende mit der Vergangenheit in Kontakt treten. Es wäre zu fatal für das Zeitkontinuum (glaube ich zumindest).
Das viele Bier zwingt mich dazu, für einen Moment den Tisch zu verlassen. In der Regel verlasse ich nur ungern meinen Platz, denn wenn man alleine ist, gibt es keinen, der auf die eigenen Sachen aufpasst. Gerade in Paris soll es aber angeblich viele Zigeuner geben, die diese Situation ausnutzen und dann Taschen und anderes stehlen. Daher beeile ich mich, schnell wieder an meinen Tisch zurück zu kehren. Noch ungefähr fünf Meter entfernt, sehe ich, wie ein älterer Herr auf meinem Tisch herumkramt. Ich fang an zu laufen und schreie ihn an, damit er meine Sachen in Ruhe lässt. Der Mann erschrickt, dreht sich hastig um und fängt an wegzulaufen, bevor ich sein Gesicht sehen kann. Der Mann ist weg. Ich drehe mich zu den Leuten an den umstehenden Tischen um und frage in gebrochenem Französisch, ob sie etwas gesehen haben, ob sie den Mann vielleicht identifizieren können. Leider kann mir keiner auch nur den kleinsten Hinweis darauf geben, wie der Mann ausgesehen haben könnte. Keiner hat etwas gesehen, es sind fast nur Touristen, die damit beschäftigt waren, Bilder von sich selbst zu schießen.
Ich schaue durch meine Sachen: Auf dem Tisch ein Buch, der Notizblock der Kellner ohne Pappdeckel, das Bier und das leere Schnapsglas, in meiner Tasche noch ein weiteres Buch, eine Kamera und eine Packung Kaugummi. Es fehlt nichts. Eine Weile frage ich mich, was das zu bedeuten hatte und bestelle mir ein weiteres Bier, das wieder mit Schnaps serviert wird.
Ich habe den alten Mann nicht erkennen können, also geht jetzt natürlich die Fantasie mit mir durch: was, wenn das mein 2033-Ich war? Vielleicht hat er mich schon die ganze Zeit beobachtet? Ich könnte nicht mit Sicherheit sagen, ob ich ihn schon mal gesehen habe oder nicht. Die Touristenschwärme in diesem Sektor des plattgedrückten Bienenstocks haben mir die Sicht genommen, das Bier und der Schnaps haben für weitere Ablenkung gesorgt. Aber ich denke mir: wenn ich später ein solches Wagnis während einer Zeitreise eingehen sollte, dann wäre ich so vorsichtig, mich nicht von Leuten an Nachbartischen erkennen zu lassen.
Nachdem ich mit diesen Gedanken nicht weiterkomme, nehme ich mein Buch und versuche noch ein wenig zu lesen. Mein Lesezeichen steckt in der Mitte des Buches, aber als ich die Seite öffnen will, fällt mir noch ein zweites Lesezeichen auf: Eine etwas dunklere Pappe steckt zwischen den ersten Seiten des Buches, über die ich schon lange hinaus bin.
Genervt ziehe ich die Pappe aus dem Buch und sehe sofort, was ich sogleich vermutet hatte: es ist der auf Kreditkartenformat zurechtgeschnittene Pappdeckel, auf den ich mit vorher aufgeschrieben hatte: ‘Im Falle, das Zeitreisen später möglich sind: 14. Juli 2003, 21:15h, le Buci, 52, Rue Dauphine, Paris: Unbedingt aufsuchen!’
Ich hole meine Brieftasche und will die Pappe hineinstecken, muss aber feststellen, dass sich in meiner Brieftasche bereits ein Pappdeckel befindet. Ich stutze. Verharre. Das kann nicht sein. Ich halte jetzt zwei identische Pappen in der Hand, auf beiden steht exakt derselbe Text.
Ich schaue mir die beiden Pappen genauer an und bemerke, dass die Pappe, die in meinem Buch steckt, sehr viel älter aussieht, als die Pappe, die ich vor kurzer Zeit in meine Brieftasche gesteckt habe.
Sofort muss ich an den alten Mann denken, der auf meinem Tisch herumgekramt hat. Mir wird klar, was los ist. Ich spring auf und renne auf die Straße, blicke mich hastig um und renne die Rue Dauphine in Richtung Boulevard Saint Germain, drehe wieder um, renne die Rue du Buci in Richtung Bar Marché, drehe wieder um und renne die Rue St. Andres des Arts für ein paar Meter hinunter, bis ich einsehe, dass es keinen Zweck hat. Mein 2033-Ich ist verschwunden. Zumindest wird er (ich) sicherstellen mir nicht noch mal zu begegnen. Die Notiz auf der Pappe, die in meinem Buch lag und wahrscheinlich 30 Jahre alt ist (obwohl ich das Original vorhin erst geschrieben habe), ist der einzige Beweis, dass er (ich) hier war. Aber das Zeitkontinuum scheint noch in Ordnung zu sein, zumindest scheint es in Paris noch normal zuzugehen. Die Menschenströme schieben sich nicht mehr so eng die Rue de Buci hinunter und der Wind fegt immer kälter durch die engen Strassen, aber es scheint alles normal.
Gedankenverloren starre ich lange vor mich hin. Ich habe die einzigartige Chance verpasst, mich selbst als 61-jährigen kennen zulernen. Aber es war wohl nicht zu ändern. Wahrscheinlich war es sogar besser so. So habe ich mein 2033-Ich nicht gesehen, und habe nur einen 30 Jahre alten Pappdeckel, der nicht wirklich beweist, das Zeitreisen möglich sind.
Vor mir auf dem Tisch liegen jetzt beide Pappdeckel, gleich groß, identische Schrift, bis auf das erkennbare Alter des einen komplett identisch. Ich überlege kurz, und denke mir, dass es interessanter wäre, den alten Pappdeckel einzustecken, sozusagen als Erinnerung an diesen Tag. Ich hole mein Brieftasche erneut hervor. In dem Moment, als ich den alten Pappdeckel in die in die Brieftasche stecke, fällt mir ein, dass der Pappdeckel dadurch von nun an in einer endlosen Schleife unendlich alt werden wird: den bereits 30 Jahre alten Pappdeckel aus dem Jahre 2033, den ich jetzt einstecke, werde ich in 30 Jahren wieder hier auf den Tisch legen. Und dann als zusammengerechnet 60 Jahre alten Pappdeckel wieder in meine Brieftasche stecken, damit ich ihn 30 Jahre später als 90 Jahre alten Pappdeckel wieder im Jahre 2003 auf diesen Tisch legen werde. Bis in alle Unendlichkeit.
In dem Moment, als ich das begreife, steckt der Pappdeckel bereits in meiner Brieftasche und fängt an, sich zu verfärben, erst leicht bräunlich und fasert an den Ecken, wird dann gelblich, zerbröselt langsam, bis er in meiner Brieftasche zu Staub verfällt. In diesem Moment hebt ein gleißendes Licht die Dunkelheit auf. Das Zeitkontinuum! Was auch immer darüber wahr ist, es scheint gestört zu sein. Ich laufe aus dem Café, fange zu rennen, Richtung Boulevard Saint Germain, aber es hilft nichts.
Der Wind über Paris nimmt zu, fegt durch die engen Straßen, wirbelt das Herbstlaub meterhoch in die Luft. Der Abendhimmel wird heller und heller, über Saint Germain des Prés zerreißt ein mächtiger Blitz die Wolken, legt sich wie eine Decke über die Stadt und taucht zuerst die Stadt, dann das Land, den Kontinent, die Erde in ein glühendes, endgültiges Nichts.