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Das Aquarell

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12.12.2006
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Das Aquarell

Das Aquarell


Das kleine Aquarell über meinem Schreibtisch ist von ihm, von Lucien. Ich kenne Lucien nicht, nur sein Bild. Und dass der Maler Lucien heißt, weiß ich nur, weil er seinen Namen in die linke untere Ecke gesetzt hat: Lucien, Paris, 1978.

Ein Haus ist dargestellt, ein sehr altes Pariser Haus, ein Häuschen auf Hühnerbeinen. Würde das Nebenhaus es nicht stützen, bräche es unter der Last der Jahre zusammen. Wie alt mochte es sein? Zweihundert Jahre, dreihundert? Mir wäre es angenehm, wenn es noch aus der Zeit Heinrichs des Vierten stammte. Doch das ist nicht wahrscheinlich, eine schöne Illusion.

Das Häuschen hat vier Etagen. Im Erdgeschoss befindet sich ein Laden, die Auslagen sind nicht erkennbar, es gibt kein Ladenschild. Vielleicht haben hinter den Scheiben einmal Weißnäherinnen gesessen und für ein paar Sous am Tage genäht, für die Pariser Emporkömmlinge unter Napoleon III., für seine Eugenie, die Schöne, die Eitle. Das wäre eher wahrscheinlich. In der zweiten Etage Gardinen hinter den Scheiben, Pilaster umarmen die drei Fenster, zwei nackte Frauenkörper mit angestrengten Gesichtern. Die dritte Etage hat nur zwei Fenster, breiter als die darunterliegenden. Es gibt nichts weiter zu sagen über sie, anonym blicken sie auf die Straße. Die Mansarde besitzt wieder drei Fenster, es sind nur Fensterchen, im Winter wird es kalt sein in den Räumen hinter ihnen, auch wenn der Pariser Winter weniger kalt ist als der deutsche.

Man sieht ein Stück Trottoir. Niemand geht darauf. Es besteht aus quadratischem hellem Gestein. Es ist ausgetreten von Tausenden Pariser Füßen, von langen Pariser Jahren.

Luciens Aquarell war ein Gastgeschenk. Er hatte es einer Redaktion im Hause geschickt, sie sollte es wahrscheinlich weiterleiten an eine Brigade, an ein Kulturhaus. Oder es in der Redaktion über einen Schreibtisch hängen. Den Begleitbrief kenne ich nicht, den Verwendungszweck kann ich nur vermuten. Auch weiß ich nicht, aus welchem Anlaß Lucien sein Bildchen der Redaktion geschenkt hat, nichts weiß ich darüber.

Aber ich weiß, dass es sterben sollte, Luciens Aquarell. Damals, im Oktober 90. Die Redaktionen räumten die Schreibtische aus. Alles, was in dem neuen Deutschland nicht mehr gebraucht wurde, lag mitten auf dem breiten Gang, zu einem Abfallhaufen aufgetürmt, Müll, bestimmt für den Container. DDR-Schrott. Ich bückte mich, sah, dass es ein gekonnt gemaltes Aquarell war, und nahm es mit.

Es hängt über meinem Schreibtisch, seit jenem Jahr 90. Luciens Aquarell spricht. Es spricht zu mir von den Streiks in Frankreichs, vom Non zur EU-Verfassung, von den Studentendemonstrationen. Und es flüstert: von längst vergangenen Zeiten, von den Pariser Weißnäherinnen, den Bonvivants, die mit den jungen Frauen hinter den Scheiben kokettierten, vom sagenhaften Pariser Frühling.

Luciens Bild spricht. Sehr leise, aber vernehmbar.

 

Hallo Estrel

du hast hier einen sehr ruhigen Text eingestellt. Er lebt nur von den Beschreibungen des Bildes, die in deinem Prot Gedanken und Emotionen hervorkehren.
Die Idee, wenn auch nicht neu, finde ich sehr schön. Allerdings schwächelt der Text genau an diesen Beschreibungen. Bei mir kamen teilweise nur sehr verschwommene Bilder auf, Schemen. Für eine normale Geshcichte fände ich solche Beschreibungen in Ordnung, nicht aber für einen Text, der sich ausschließlich darauf stützt. Hier müsste dann mehr in die Tiefe gegangen werden. Vielleicht sollte auch eine stärke Einbindung der Gefühlswelt der Prot stattfinden. Etwas mehr Dramatik. So ist das Ganze alles etwas lose im Raum "hängend".

Auch habe ich mich über den letzten Satz gewundert. Eigentlich wäre dies ein wunderbarer Einstieg, eine gute Hook-Line. Es weckt Neugierde.

grüßlichst
weltenläufer

 

Vielleicht hast du den Text zu schnell gelesen. Der Hauptteil ist nicht die Beschreibung des Bildes, sondern das Auffinden. Und nur wegen des Auffindens spricht Luciens Bild, sonst ist es ein Aquarell, wie es viele andere gibt, und hat nichts Besonderes an sich.

Viele liebe Grüße
Estrel

 

Hallo Estrel noch mal,

also ich meine den Text nicht zu schnell gelesen zu haben. Haben ihn gar zweimal gelesen. mag ja sein, dass du das eigentliche Gewicht aufs Auffinden legen wolltest, aber dann ist dir das nicht geglückt.
Der Löwenteil rangt um das, was deine Prot im Bild zu sehen meint, und genau dadurch spricht es ja zu ihr.
Das Auffinden wird mehr oder weniger nüchtern geschildert, Emotionen lässt du dabei keine frei, und zeilenmäßig verwendest du darauf auch weniger Aufmerksamkeit.

nun ja, warten wir mal andere Meinungen ab...

grüßlichst
weltenläufer

 

Dann habe ich etwas falsch gemacht, wenn du den Text als Bildbeschreibung ansiehst. Ich werde den ganzen Absatz ab "Das Häuschen" einkürzen. Dann wird mein Anliegen deutlicher. Vielen Dank für den Hinweis.

Viele liebe Grüße
Estrel

 

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