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Das Aschemädchen
„Elara, Elara! Wach auf, du faules Stück Holz!“
Elara schlug die Augen auf. Ihr Bruder Sion tanzte um ihr Bett herum.
„Mach endlich Feuer, Elara! Mir ist kalt!“
Sie erhob sich schwankend und hielt sich an der steinernen Bettkante fest. Sion hatte sie mitten aus dem Schlaf gerissen. Er war einige Jahre jünger als sie, und doch hatte sie ihm zu gehorchen. Frauen und Mädchen galten den Feuerdämonen weniger als ein Häuflein Asche.
Elara fuhr mit der Hand über ihr Gesicht, um die Müdigkeit zu vertreiben. Als sie ihre Narben berührte, zuckten ihre Finger zurück. Schnell lief sie zum Ofen und ließ sich vor der runden Öffnung nieder. In Gedanken sprach sie die Worte, die ihre Mutter sie gelehrt hatte. Nun kam Bewegung in die kalten Flämmchen, die ihren ganzen Körper umhüllten. Sie begannen zu zittern und liefen wellenförmig auf ihre Hände zu. Aus ihren Fingerspitzen züngelten nun Flammen, die so heiß waren, dass Elara sie rasch an den Holzscheiten abstreifte. Diese fingen sofort Feuer. Auch aus ihren Augen stoben einige Funken, die nutzlos in der Luft verglühten. Als die Hitze unerträglich wurde, trat Elara zurück. Wenn sie erwachsen war, würde sie dazu im Stande sein, ihren ganzen Körper brennen zu lassen, ohne sich selbst dabei zu verletzen. Wenn es jemals dazu kam... Sie schüttelte diesen Gedanken ab und griff in die Asche, die auf dem Boden verstreut lag. Sie sollte der Reinigung dienen, denn Dämonen scheuten das Wasser. Als Kind hatte Elara gedacht, dass es sie auslöschen könnte. Und auch wenn sie inzwischen wusste, dass das eine Lüge war, hatte sie dennoch große Furcht davor.
„Elara, erzähl mir eine Geschichte!“
Sions Augen, die sie fordernd anstarrten, waren wie schwarze Kohle. Elara seufzte und warf das letzte Mal Asche über ihr Gesicht. Dann setzte sie sich neben Sion und hob ihre Stimme.
„Es war einmal ein großer, starker Feuerdämon. Er war der größte Krieger, der jemals auf Erden wandelte. Eines Tages stürmten hundert Feinde auf ihn ein. Doch aus seinem ganzen Körper schlugen Flammen, die alle Feinde auffraßen.“
„Ja!“, jubelte Sion. „Noch mehr!“
Jeden Tag erzählte Elara ihm die gleiche Geschichte. Sie hätte nur zu gerne etwas anderes erfunden. Aber Geschichten von Dämonen, die ihre Feinde vernichteten, waren die einzigen, die sie kannte. Dabei hatte sie niemals erlebt, dass ihr Land von Feinden überfallen worden war. Vielmehr waren es ihr Vater und ihre älteren Brüder, die auf Kriegszug gingen. Auch jetzt waren sie wieder fort, und sie hoffte, dass sie nicht so bald zurückkehren würden.
„Elara! Warum bist du nicht in der Küche?“
Die Mutter war in der Türöffnung aufgetaucht. Mit gerunzelter Stirn blickte sie auf ihre Kinder herab.
„Sion hat gesagt, ich soll...“
„Es ist mir gleich, was Sion gesagt hat!“, fuhr die Mutter sie an.
„Du hilfst mir jetzt, und Sion, du spielst alleine!“
Sion wandte sich schmollend ab. Noch gehorchte er ihr, weil er ihr Sohn war. Aber schon in wenigen Jahren würde sie ihm ebenso zu Füßen liegen wie seinem Vater.
Elara stand auf und folgte ihrer Mutter in die Küche. Auf dem Tisch, der wie alles im Hause aus Stein war, lagen große Fleischbrocken. Elara atmete erleichtert auf. Wenn die Mutter ein lebendes Tier gefangen hatte, setzte sie es sogleich in Brand. Dann übertrug sich die Angst in den Augen des Wesens auf Elara, und nachts wachte sie von seinen Schreien auf. Immer wieder wurde sie gescholten, weil sie eine Schande für ihre Familie sei. Und immer wieder drohte die Mutter, dass sie das Tier eines Tages selbst töten müsse. Wenn Elara daran dachte, dann brannten ihre Narben umso mehr.
„Wir müssen heute sehr viel Essen zubereiten“, sagte die Mutter, während sie noch mehr Fleischbrocken auf den Tisch hob.
„Dein Vater und deine Brüder kommen heim! Der Bote hat es mir gerade erst erzählt!“
Elara erstarrte innerlich. Nun würde sie wieder unter dem herrischen Regiment von Allor und Gilsi leiden. Sie würden sie herumstoßen, wie es ihnen gefiel. Und sie müsste zusehen, wie der Vater ihre Mutter schlug. Dann kam ihr ein noch schrecklicherer Gedanke. Was, wenn sie einen Menschen bei sich hätten... Nein, das konnte nicht sein. Schließlich hatten sie noch nie eine solche Beute erlangt. Aber, wenn doch...
„Was ist los, Elara? Träumst du?“
Die Angst vor dem noch abwesenden Vater ließ ihre Mutter zornig werden.
„Nun zünde schon das Fleisch an!“
Ergeben legte Elara ihre Hände auf das Fleisch, um es in wohlschmeckende Asche zu verwandeln.
„Wir haben einen Menschen gefangen!“
Gilsis Augen glühten vor Aufregung. Die gesamte Familie war in der Küche versammelt, um von den Taten der Krieger zu hören.
„Das heißt, morgen Abend gibt es ein Festessen!“, setzte Allor hinzu.
Der Vater brummte selbstgefällig, während Sion um ihn herumtanzte. Elara sollte ihrer Mutter helfen, das verbrannte Fleisch zu verteilen. Doch als sie jedem sein Mahl zuschob, zitterten ihre Hände. Sie musste ihre Augen schließen, damit kein Salzwasser herausquoll. So sehr sie sich auch bemühte, die Erinnerung zu verdrängen – es war zwecklos...
Elara und ihre Familie waren zu einem Fest der Nachbarn eingeladen. Es hieß, sie hätten einen Menschen erbeutet. Das Mädchen war schon vorher von Furcht erfüllt, denn sie dachte an die Tiere, die ihre Mutter briet. Doch als alle Dämonen im Kreis um den Menschen standen, da traute Elara ihren Augen nicht. Man hatte ihr gesagt, Menschen seien wie Tiere. Dieser aber hatte Arme, Beine und ein Gesicht – er war ihr ähnlich! Seine Augen waren schreckensstarr, und seine gefesselten Hände wanden sich in unnatürlichen Krämpfen. Schweiß trat aus allen seinen Poren. Elara verbarg ihr Gesicht, um nicht sehen zu müssen, wie der Nachbar ihn berührte. Was danach geschah, hatte sie vergessen – das war ihr Glück. Dann aber setzte die Erinnerung wieder ein. Ihre Brüder hielten sie mit Gewalt fest, während die Mutter versuchte, ihr das Essen in den zusammengepressten Mund zu schieben. Tatsächlich gelang es ihr, Elara ein paar Brocken aufzuzwingen. Doch kaum war ihr dies widerfahren, würgte sie sie wieder hervor. Bittere Galle floss aus ihrem Mund auf die Erde. Ihr Vater trat auf sie zu und gebot den Brüdern, sie los zu lassen. Alle anderen Dämonen starrten sie an. Dann hob der Vater die Hand und verbrannte ihr Gesicht. Als sie wieder zu sich kam, spürte sie, dass ihre Haut von Narben überzogen war...
„Warum isst du nicht, Elara?“
Die unschuldigen Worte ihres Bruders Sion riefen sie wieder in die Gegenwart zurück. Sie fühlte, dass alle Blicke auf ihr ruhten. Schnell nahm sie die Asche auf und stopfte sie in ihren Mund. Als sie schluckte, glaubte sie, sich übergeben zu müssen. Doch dazu kam es nicht.
„Ist das alles?“, fragte ihr Vater in scharfem Tonfall.
„Hast du nicht mehr gekocht, Rene?“
Die Mutter stand reglos vor ihm. Elara senkte den Kopf.
Später saß Elara wieder in ihrer Kammer. Vor ihr knisterte die rote Glut. Sie ahnte, wo der Mensch war – sie konnte seine Todesangst durch alle Wände spüren. Noch nie war ihr ihre Ohnmacht so bewusst wie heute. Vielleicht würde sie verrückt werden – dann hätte sie keine Schmerzen mehr...
„Warum bist du denn so traurig, Elara?“
Es war wieder Sion, der zu ihr sprach. In ihr wurde etwas weich. Sion war ihr kleiner Bruder, er war nicht böse oder verdorben. Doch wenn er in diesem Haus, in diesem Land aufwuchs, würde er eines Tages wie ihr Vater sein. Sie aber, warum war sie nicht wie ihre Mutter? Sie wusste es nicht.
Gerade wollte sie Sion antworten, ihn beschwichtigen, als Allor und Gilsi das Zimmer betraten.
„Elara, willst du den Menschen sehen?“, fragte Gilsi grinsend.
Also hatten sie einen neuen Weg gefunden, sie zu quälen. Elara sah ein, dass es keinen Sinn hatte, sich zu wehren. Ihre Brüder führten sie ab wie jemanden, der zum Tode verurteilt war.
Der Mensch wurde im kleinen Steinhäuschen gefangen gehalten – dort, wo an anderen Tagen die Tiere ihre letzten Stunden zubrachten. Seine Hände waren am Rücken gefesselt, zusätzlich war er an einem Pfosten festgebunden. Er mochte kaum älter als Elara sein. Sein Haar war hellbraun, seine Augen blau – eine Farbe, die sie noch nie gesehen hatte. Zusammengekrümmt saß er auf dem nackten Boden. Sein Gesicht war schmutzig und nass.
„Sieh ihn dir an, Elara!“, höhnte Allor und stieß sie vorwärts.
„Sieh ihn dir ganz genau an!“
Nun stand sie vor ihm. Da erhob sich der Menschenjunge und spuckte ihr ins Gesicht. Sogleich wich sie zurück. Gilsi wollte mit der Hand ausholen, doch Allor schlug auf seinen Kopf.
„Lass das, du Trottel! Hast du das Fest vergessen?“
Die drei Dämonen verließen den Raum.
Elara lag nun in ihrem Bett, doch an Schlaf war nicht zu denken. Sie erinnerte sich daran, wie der Mensch sie angespuckt hatte. Sie nahm es ihm nicht übel. Wie sollte er sie nicht verachten, nach dem, was die Ihren ihm angetan hatten?
„Ich will nicht so sein wie sie“, dachte Elara.
„Ich bin nicht so wie sie!“
Plötzlich stand sie auf, wobei sie sorgsam darauf achtete, den schlafenden Sion nicht zu wecken. Sie hatte einen Entschluss gefasst. Als sie aber die Türöffnung erreicht hatte, hielt sie inne. Was, wenn es ihr nicht gelingen sollte?
„Es muss gelingen!“
Was aber, wenn sie ihr auf die Schliche kämen? Wie würden sie Elara bestrafen? Was konnten sie ihr, dem narbengesichtigen Mädchen, noch zufügen? Vielleicht... vielleicht würden sie sie töten.
Elara erzitterte. Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie war schon tot, sie war Asche. Aber sie konnte einem anderen Wesen das Leben retten.
Leise durchquerte sie den Eingang und trat ins Freie. In der Hand trug sie eine Laterne, die sie zuvor entzündet hatte. Draußen war es stockdunkel – und es regnete. Die Tropfen prasselten auf das Dach hernieder und liefen an den Wänden herab. Bei einem solchen Wetter war kein Feuerdämon unterwegs. Elara fühlte, wie die alte Angst sich ihrer bemächtigte. Dann schritt sie entschlossen vorwärts und bewegte sich auf das Häuschen zu. Sie spürte, wie die unerbittliche Kälte des Regens auf sie eindrang. Sie nahm aber noch etwas anderes wahr. Das Wasser umspülte sie, reinigte sie von der Asche und wusch alle ihre Ängste fort.
Als der Menschenjunge sie erblickte, wandte er sich furchtsam ab. Dachte er, dass sie gekommen sei, um sich zu rächen?
„Hab keine Angst!“, sagte sie leise.
„Ich will dir helfen! Ich will dich befreien!“
Sie wusste nicht, ob er sie verstand. Wie sehr sie sich wünschte, dass ihre Worte ihn erreichen würden...
Eine Weile standen sie sich gegenüber und horchten auf das Rauschen des Regens. Elara hoffte, dass ihre Familie tief und fest schlief. Wie lange würde er noch zögern? Endlich bewegte sich der Junge. Er sah sie an, und seine Augen verrieten, dass er bereit war, ihr zu vertrauen. Er lächelte schwach. Auch Elara lächelte. Dann näherte sie sich ihm, um seine Fesseln zu lösen. Er rührte sich nicht. Elara umfasste das Seil, das um den Pfosten gebunden war, und durchsengte es. Auf die gleiche Weise trennte sie seine Handfesseln. Sie war sehr vorsichtig, denn sie wollte ihn nicht verletzen. Als es vollbracht war, war Elara zutiefst froh. Nun erst hatte sie ihre Gabe schätzen gelernt.
Im Schutz der Dunkelheit und des Regens führte sie den Jungen bis an das Ende der Siedlung. Obwohl sie ahnte, dass ihnen niemand begegnen würde, hatte sie große Furcht. Ständig warf sie besorgte Blicke um sich und bedeutete dem Jungen, leise zu sein. Aber kein Licht ging an, und kein Geräusch verfolgte sie. Endlich waren sie am Weg angelangt, der aus dem Dorf hinausführte. Ihre Wohnstätte lag nah an der Grenze zum Reich der Menschen. Doch zwischen der Siedlung und den Wäldern, die sich in der Ferne erstreckten, lebte kein Feuerdämon mehr. Der Junge war jetzt sicher.
Elara reichte ihm die Laterne, damit er sich nicht verlief. Noch einmal blickte er sie lächelnd an. Dann verschwand er im Dunkeln. Der Regen fiel stetig auf Elara herab und nahm auch die letzte Asche von ihr.